The Project Gutenberg eBook of Aus der Geschichte der menschlichen Dummheit 43586n

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Title: Aus der Geschichte der menschlichen Dummheit 412t3

Author: Max Kemmerich

Release date: May 31, 2025 [eBook #76196]

Language: German

Original publication: München: Albert Langen, 1912

Credits: Iris Schröder-Gehring, Peter Becker and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK AUS DER GESCHICHTE DER MENSCHLICHEN DUMMHEIT ***

Seite IAus der Geschichte der menschlichen Dummheit 1we34

Seite IIVon Dr. Max Kemmerich erschien im Verlage von Albert Langen:

 

Seite IIIAus der Geschichte
der
menschlichen Dummheit

Von

Dr. Max Kemmerich

 

 

Albert Langen

Verlag für Literatur und Kunst

München

Seite IVCopyright 1912 by Albert Langen, Munich

Seite VInhaltsverzeichnis 5v60k

  Seite
  Vorwort     VII
1. Kapitel: Die Bibel als Maßstab der Wahrheit 1
2. Kapitel: Die Askese 43
3. Kapitel: Der Hexen- und Teufelswahn in der mittelalterlichen Kirche 72
4. Kapitel: Der Kampf um die religiöse Dummheit 111
5. Kapitel: Religiöse Zwangserziehung 154
6. Kapitel: Der Teufel in der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart 192
7. Kapitel: Die heilige Garderobe und ähnliches 211
8. Kapitel: Die Dummheit der Massen 234
  Literaturnachweis 286

Seite VIIVorwort 23667

Eine Geschichte der menschlichen Dummheit zu schreiben überstiege meine Kräfte: sie müßte umfangreicher werden, als die chinesische Enzyklopädie. Darum begnüge ich mich mit diesem Streifzuge, der einem ganz bestimmten Gebiete gilt. Der Zufall war es nicht, der mich leitete.

Nicht nur dem Vorwurfe der Unvollständigkeit sehe ich mit Gemütsruhe entgegen. Auch auf den andern bin ich gefaßt: was mir dumm erschiene, sei so fabelhaft gescheit, daß ich es nur nicht verstünde.

Nun — jedem Narren gefällt seine Kappe.

München, im Mai 1912

Der Verfasser

 

Seite 1I. Kapitel  Die Bibel als Maßstab der Wahrheit 4h1b2r

Jede Offenbarungsreligion lehrt, daß Gott in eigener Person übernatürliche Wahrheiten oder zum mindesten Wahrheiten von absolutem Werte den Menschen zukommen läßt. Für die Christen sind diese göttlichen Willensäußerungen im Alten und Neuen Testament niedergelegt. Da nun in früheren Zeiten und teilweise auch heute noch die Theologen des frommen Glaubens sind, daß Gott, wenn auch nicht persönlich die Schriften abgefaßt, so doch jedenfalls die Autoren inspiriert habe, ihnen gleichsam in die Feder diktierte, so ist es klar, daß jedem Worte der Bibel die denkbar größte Bedeutung von dieser Seite beigelegt wird.

Der Glaube an Gott, sowie der an Offenbarung — denn wenn Gott existiert, ist nichts näherliegend, als die Annahme, daß er auch mit der Menschheit in Kontakt bleibt, ihr Winke oder Befehle zukommen läßt, sie belohnt und straft, kurz sich ihr oder ihren alesensten Vertretern gegenüber irgendwie äußert — mag irrig sein. Daß er nicht töricht ist, bedarf keines Beweises. Und die Annahme, daß die höchsten Seite 2Wahrheiten nicht etwa in der Zendavesta, den vier Veden, dem Alten Testament oder dem Koran niedergelegt sind, sondern in den Schriften des Neuen Testamentes, versteht sich beim gläubigen Christen von selbst. Denn würde er der Offenbarung einer anderen Religion größeren Wahrheitsgehalt beimessen, dann hätte er aufgehört ein gläubiger Christ zu sein.

Liegt es uns also auch völlig fern den Offenbarungsglauben — ohne ihn zu teilen — für dumm zu halten, so ist der Umfang, in dem der Bibel absolute Autorität in Fragen der Weltanschauung und Lebensführung eingeräumt wird, allerdings ein Gresser der Intelligenz.

Wenn frühere Jahrhunderte, unkundig der Natur und ihrer Gesetze, die biblische Kosmologie als lautere Wahrheit hinnahmen, so ist das verständlich. Wenn sie aber auch festgehalten wurde, nachdem unwiderleglich ihre Irrtümlichkeit nachgewiesen war, so läßt uns das hinsichtlich der Bibel nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Entweder beweist die Unstimmigkeit zwischen der Heiligen Schrift und der Wahrheit, daß die ganze Bibel keine Offenbarung ist, wenn wir nämlich annehmen, daß der allwissende, unfehlbare Gott sie quasi diktiert hat, daß es sich also um eine Fälschung handelt, — oder daß Gott zwar die frommen Verfasser der einzelnen Schriften mit seinem Geist erfüllt hat, daß er ihnen aber die Form überließ, beziehungsweise sie als Menschen ihrer Zeit sich auch nur gemäß dem damaligen Wissen ausdrücken konnten. Letztere Annahme hat aber die Konsequenz eines Verzichtes auf die Verbalinspiration der Bibel. Daß Gottes Diktat keine Fehler enthalten Seite 3 kann, ist ebenso klar, wie daß die Schriften selbst der hervorragendsten Männer der Vorzeit nicht dem heutigen Wissen in allen Punkten entsprechen können. Daß Jesus von Nazareth, nach dem Evangelium, das schöne Wort sprach: »der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig«, gibt jenen einen autoritativen Helfer, die ihrer eigenen Vernunft nicht vertrauen.

Wer also in Fragen der Kosmologie, Geologie, Biologie, Geschichte und vieler anderer Gebiete eine Inkongruenz zwischen Bibel einerseits, Vernunft und Erfahrung anderseits erkennt und daraus weder folgert, daß die Bibel als Ganzes keine geoffenbarte Wahrheit sei oder aber, daß er den Umfang der Offenbarung zu weit ausdehnt, der begeht einen Denkfehler.

Wer nun weiterhin aus solchen der Vernunft und Erfahrung widersprechenden Bibelstellen oder gar aus einzelnen Worten weitgehende Schlüsse irgendwelcher Art zieht, sein Leben danach modelt, auf den Gebrauch seines Verstandes verzichtet, sich um sein gutes Recht bringen läßt oder gar sein Leben opfert, der handelt dumm.

Diese Dummheit werden wir nun nicht etwa nur in alter Zeit finden, in der wir sie ja kaum so bezeichnen können, sondern auch noch in der jüngsten Vergangenheit, ja in der Gegenwart. Gibt es doch eine mächtige Richtung, die den durch Fragen der Weltanschauung nicht minder als solche des Wirtschaftslebens hervorgerufenen Kämpfen unserer Zeit dadurch begegnen zu können vermeint, daß sie den biblischen Buchstabenglauben als Panazee anrufen! Wenn diese Männer so handeln gegen besseres Wissen, dann Seite 4sind sie nicht anständig. Handeln sie so aus Überzeugung, so sind sie dumm. Zudem erzielen sie naturgemäß bei der Intelligenz, auf die es doch allein ankommt, das Gegenteil dessen, was sie bezwecken.

Bekanntlich folgert das Papsttum seine auf Allmacht hinauslaufenden Ansprüche aus der Bibelstelle »Du bist Petrus und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Und will dir des Himmelreichs Schlüssel geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein.« (Matth. 16, 18-19.) Ergänzt wird diese Stelle durch das Wort Christi an den gleichen Apostel »Weide meine Schafe« (Ev. Joh. 21, 16). Zu diesem Mandat des Stifters unserer Religion tritt noch nach kirchlicher Lehre eine historische Begründung des Rechtsanspruches hinzu: Petrus sei der erste Bischof von Rom, der erste Papst, gewesen; sein Geist aber habe sich durch Tradition ungeschwächt erhalten.

Nachdem die Bischöfe von Rom es verstanden haben durch anderthalb Jahrtausende in immer steigendem Maße ihre Ansprüche durchzusetzen, muß man ihrer Intelligenz und ihrer politischen Genialität die größte Bewunderung zollen. Anders aber steht es um die Klugheit der beherrschten Völker.

Lassen wir es ganz dahingestellt sein, ob es nicht für eine Kirche wünschenswert ist eine Spitze zu besitzen, so daß praktische Motive die Errichtung des Papsttums hinlänglich rechtfertigen würden, so scheint es desto wichtiger die römische Begründung des Machtanspruches zu prüfen, bzw. die Bereitwilligkeit, Seite 5mit der diese Begründung hingenommen wurde, zu beleuchten. Wir lassen dabei auch die Frage offen, ob nicht die angeführten Evangelienstellen Interpolationen sind, die das Papsttum vornahm, um die tatsächliche Machtstellung durch die höchste Autorität zu legitimieren.

Man stelle sich vor: Ein armer Zimmermannssohn verleiht einem armen und nahezu gänzlich ungebildeten Fischer ein Recht, das er selbst nicht besitzt. Denn wenn der Stifter einer Religion denen, die an ihn glauben, auch gewiß für die Ewigkeit, für das Himmelreich, bindende Vorschriften machen kann, es ihnen öffnen oder verschließen darf, da er sich ja hier mit einem gewissen Recht als Herr fühlen kann, so gilt das doch ganz gewiß nicht für die reale, materielle Welt. Daß das Papsttum aber die Herrschaft über diese beansprucht, sich ausdrücklich höher einschätzt, als alle Könige der Erde, ist jedem Geschichtskundigen bekannt.

Also; Jemand verleiht angeblich einem andern ein Recht, das er nicht besitzt. Der andere (Petrus) übt es auch gar nicht aus, ist es doch sehr zweifelhaft, ob er je Bischof von Rom war und wenn, dann war er Oberhaupt einer kleinen und damals noch ganz bedeutungslosen Gemeinde. Und dieser Mann vererbt sein »Recht« auf ewige Zeiten! Man glaubt seinen Nachfolgern — angenommen, die Bischöfe von Rom wären das wirklich — und Könige und Kaiser beugen sich ihnen!

Welche Fülle von Klugheit auf päpstlicher Seite! Welche Dummheit auf weltlicher!

Dieser Fiktion fügen sich die mächtigsten Herrscher, Seite 6desgleichen ihre Völker. So wird England päpstliches Lehen, Heinrich IV. erscheint als Büßer vor dem Papst, ein Friedrich Barbarossa hält ihm den Steigbügel, er greift in die Wahl der deutschen Könige ein und vernichtet ganze Geschlechter, er verteilt gar die neue Welt als anerkannte höchste irdische Instanz! Diese wenigen, ins Unendliche zu vermehrenden Beispiele sind eines der grandiosesten Beweise für den Sieg der überlegenen Intelligenz über die stultitia hominum.

Die notwendige Voraussetzung dieser über ein Jahrtausend die Weltgeschichte bestimmenden Fiktion, deren praktische Verwirklichung Könige und Völker nur zu sehr am eigenen Leibe erfahren mußten, war aber ein blinder Bibelglaube.

Und wenn es heute noch Leute gibt, die die päpstlichen Ansprüche mit päpstlicher Begründung verteidigen, wenn es den Anschein hat, daß diese Leute sogar Boden gewinnen, dann möchte man an der Zukunft der Menschheit verzweifeln.

Dieser blinde Bibelglaube oder Glaube an die geistliche Autorität kommt auch den Lehrmeinungen und Dogmen zugute. Man interessierte sich infolgedessen in früheren Zeiten für die entlegensten Dinge, soweit sie mit dem Glauben im Zusammenhang standen. Hätte man den gleichen Scharfsinn für Nützliches verwandt, man würde um Jahrhunderte früher die jetzige Kulturhöhe erklommen haben.

Die Wurzel des Übels war und ist zum Teil heute noch die Todesfurcht bzw. die Sorge um das jenseitige Leben der Seele. Daß es eine Unsterblichkeit gibt, kann mit ebenso triftigen Gründen Seite 7behauptet, wie bestritten werden; aber angenommen sie existiert, so ist doch soviel gewiß, daß wir von ihrer Beschaffenheit nichts Näheres wissen, noch wissen können. Gerade diese Frage aber beschäftigte und beschäftigt gläubige Gemüter zum Übermaß. Und da man es verstanden hatte dieser Form der Feigheit — denn schließlich läuft die ganze Sorge um das Fortleben der Seele auf die Furcht vor dem Nichts hinaus oder auf die noch jämmerlichere in einem vorausgesetzten Jenseits die Verantwortung für seine diesseitigen Handlungen tragen zu müssen — durch Erhebung zur »Religiosität« oder »Frömmigkeit« das Mäntelchen der Tugend umzuhängen, so galt es auch noch für verdienstvoll sich über die größten das Jenseits betreffenden Nichtigkeiten den Kopf zu zerbrechen. Hier stets im Rahmen des Dogmas und der Bibel zu bleiben, Erfahrung und Vernunft nicht allzusehr zu verletzen, war gewiß nicht immer leicht.

Ist es schon eine Dummheit auf unlösliche Fragen Zeit und Energie zu verwenden, so wird sie dadurch gewiß nicht geringer, daß Jahrhunderte ihr huldigten. Die Zeit der Scholastik aber hatte es sich zur Aufgabe gestellt Glauben und Vernunft in Einklang zu bringen. Was nicht erreichbar war — und das war sehr vieles, etwa die Dreiheit des Monotheismus, die unbefleckte Empfängnis, die leibliche Auferstehung und Himmelfahrt Christi, die Verwandlung von Wein in Blut, von Brot in den Leib des Heilandes u. a. m. — das wurde als »Wunder« angestaunt. Und das geschieht auch heute noch von ungezählten Millionen.

Gewiß hat die Scholastik auch das Denkvermögen Seite 8verfeinert, aber sie schliff eine Waffe, nicht um sie im Kampfe gegen die Rätsel der Natur zu verwenden, sondern um damit Haare zu spalten.

Als einst vor König Philipp von Makedonien ein Jongleur seine Kunst produzierte, darin bestehend, daß er in die Luft geworfene Erbsen mit einer Nadel auffing, da verweigerte ihm der kluge König eine Belohnung. Er ließ ihm lediglich einen Scheffel Erbsen übergeben. Wäre ein kluger Papst beim Aufwerfen der ersten Spitzfindigkeiten mit der ganzen scholastischen Richtung ebenso verfahren, dann hätte die gelehrte und fromme Dummheit niemals solche Dimensionen annehmen können.

Solche scholastische Fragen sind etwa folgende:

Steht oder liegt Gott Vater?

Kann er ein Kind schaffen ohne Vater? Einen Berg ohne Tal, eine Hure wieder zur Jungfrau machen?

Tanzen die Engel Menuett oder Langaus?

War es Lucifer, der den ersten Purzelbaum schlug?

Ist eine Entweihung der Sakristei auf einem Ziegelstein Entheiligung der ganzen Kirche, oder nur der Sakristei?

Geht das »Vater unser« Gott allein an, oder auch die Heiligen? Prinzipaliter (in der Hauptsache) Gott, minus prinzipaliter (in der minderen Hauptsache) auch die Heiligen?

Am Hof zu Konstantinopel stritt sich im 14. Jahrhundert nicht nur die Geistlichkeit, sondern auch der Hof und die ganze Nation über die Frage, ob das Licht auf Tabor ein erschaffenes oder unerschaffenes Licht gewesen sei.

Besonders fein sind die Fragen über die Sakramente; Seite 9namentlich die Taufe: Ist ihr Wesen das Wort oder das Wasser? Ersteres, denn sonst könnten ja Fische in der Taufe leben, und ein Esel, der Taufwasser saufe, ein getaufter Christ sein wollen. Ob man auch mit Erde, Luft, Feuer, Wein, Bier usw. taufen dürfe? Einige waren für das Bier, wenn es so hell wie Wasser von der Wand fließe. Ob man in jeder Sprache taufen dürfe? Ob eine bedingte Taufe, z. B. »wenn du kein Bastard bist« oder eine unterbrochene Taufe, wenn ein Balken herabfiele und der Priester im Schrecken ausrufe: »Sakrament! was ist das!« gültig sei? Ob Engel oder Teufel gültig taufen können und was zu tun sei, wenn sich das Kind gar ungebührlich aufgeführt habe? Man war sich darin doch ziemlich einig, daß der Prophet Ezechiel reines Wasser verlangt.

Die berühmten Scholastiker Scotus, Lombardus, Thomas von Aquino, Occam, Bonaventura, Albertus Magnus usw. prüften die Fragen: ob Gottes Sohn sich auch in einen Ochsen, Esel, Kürbis oder Teufel verwandeln könne.

Wieviele Chöre der Engel es gäbe, wie sie sitzen und was für Instrumente sie spielen.

Was man in der Hölle treibe und wie hoch die Hitze steige?

Wohin sich der transsubstanziierte Leib begäbe, wenn etwa eine Maus oder ein Wurm ins Ciborium gerate? Ob der Mund dieser Tiere so unrein sei, wie der des Sünders?

Ob auch das mit dem Wein im Kelch etwa vermischte Wasser sich in Wein oder Blut verwandle und ob man mit Bier, Apfelmost, Branntwein und Seite 10Essig nicht ebensogut kommunizieren könne, als mit Wein?

Die Lächerlichkeit der Scholastik wird glänzend illustriert durch folgendes Gespräch dreier Oxforder Mönche, die den König baten ein Türchen durch die Stadtmauer brechen zu dürfen und die uns Ant. Wood in seiner Historia et Antiquitates Universitas Oxoniensis (Oxford 1674) überliefert hat:

»Erleuchtetster Herr König!« — »Wer seid ihr denn?« — »Wir sind Magister in Euren Diensten.« — »Was für Magister?« — »Magister vom ehrwürdigen Haus der Kongregation.« — »Was für ein Haus ist denn das?« — »Habt ihr die Materie im Auge woraus: aus Kalk und Steinen; habt ihr die Materie im Aug' wofür: für die Erteilung der göttlichen Gnade; — habt ihr die Materie im Aug' worauf: auf dem Gottesacker der heiligen Jungfrau.« — »Was ist euer Begehren?« — »Wir wollen eine Türe gemacht haben,« sprach der erste Mönch. Der zweite sagte: »wir wollen nicht eine gemachte Tür, sondern daß eine gemacht werde.« Und der dritte sagte: »Wir wollen nicht, daß eine Türe gemacht werde, sondern daß eine gemachte Tür vorhanden sei.«

Hierauf erwiderte der König: »Vortreffliche Herrn Magister, tretet ab und werdet einig untereinander und dann sollt ihr die Türe haben[1]

Die scholastischen Spitzfindigkeiten haben ihre Vorläufer im Judentum, das ja nicht geringeren Wert auf die geschriebene Autorität legte, als unser Mittelalter. Die Kasuisten der Israeliten konnten besonders an der Sabbatfeier ihren Scharfsinn nicht genug üben. So war es am Sabbat verboten, einen Knoten zu Seite 11machen oder aufzulösen. Da diese Bestimmung aber viel zu allgemein schien, entschied man: »Folgendes sind die Knoten, über deren Anfertigung man schuldig wird: der Knoten der Kameltreiber und der der Schiffer; und so wie man schuldig ist wegen deren Schürzung, so ist man auch schuldig wegen deren Lösung. R. Meir sagt: Wegen eines Knotens, den man mit der einen Hand lösen kann, ist man nicht schuldig. Es gibt Knoten, wegen welcher man nicht wie bei dem Kameltreiber- und Schifferknoten schuldig wird. Ein Frauenzimmer darf den Schlitz ihres Hemdes zuknüpfen, so auch die Bänder der Haube, die einer Leibbinde, die Riemen der Schuhe und Sandalen, Schläuche mit Wein und Öl, einen Topf mit Fleisch.« Da der Knoten an der Leibbinde gestattet war, so wurde festgesetzt, daß man auch einen Eimer über den Brunnen mit der Leibbinde festknüpfen dürfe, nur nicht mit einem Stricke.

Das Schreiben am Sabbat war verboten, und wenn es auch nur zwei Buchstaben gewesen wären. Aber nicht ohne Einschränkung: »Schreibt einer in dunkle Flüssigkeiten, in Fruchtsaft, oder in Wegestaub, in Streusand oder überhaupt in etwas, worin die Schrift nicht bleibt, so ist er frei. Schreibt einer mit verkehrter Hand, mit dem Fuße, mit dem Munde, mit dem Ellenbogen ... oder wenn jemand einen Buchstaben auf die Erde und einen an die Wand schreibt, oder auf zwei Wände des Hauses, oder auf zwei Blätter des Buches, so daß sie nicht miteinander gelesen werden können, so ist er frei. Wenn er in zweienmalen vergessend zwei Buchstaben schrieb, etwa einen des Morgens und den andern gegen Abend, Seite 12so erklärt ihn R. Gamaliel für schuldig; die Gelehrten sprechen ihn frei.«

Am Sabbat war es nicht nur verboten Feuer anzuzünden, sondern auch es zu löschen, selbstverständlich unter Ausdehnung auf Lichter und Lampen: »Wer ein Licht auslöscht, weil er sich fürchtet vor Heiden, vor Räubern, vor bösem Geist, oder um eines Kranken willen, damit er einschlafe, ist frei. Geschieht es aber, um die Lampe, das Öl oder den Docht zu schonen, so ist er schuldig. R. Jose spricht ihn in jedem Falle frei, außer in betreff des Dochtes, weil er dadurch gleichsam eine Kohle bereitet.« »Man darf ein Gefäß zum Auffangen der Funken unter die Lampe setzen, aber nicht Wasser hineintun, weil man dadurch löscht.« Daß man eine Feuersbrunst am Sabbat nicht löschen durfte, versteht sich von selbst.

Die Gesetzeshüter dehnten ihre Verbote auch auf Handlungen aus, die nur möglicherweise eine Sabbatverletzung herbeiführen konnten. Demnach eine Analogie zum berühmten dolus eventualis unserer Richter: »Der Schneider gehe bei einbrechender Dunkelheit nicht mit einer Nadel aus; denn er könnte vergessen und (nach Eintritt des Sabbat) damit ausgehen. Auch nicht der Schreiber mit einem Rohre.« Ferner ist es am Sabbat verboten, bei Lampenlicht zu lesen, oder Kleider von Ungeziefer zu reinigen. Beides sind nämlich Handlungen, bei denen helles Licht besonders nötig ist, daher liegt die Versuchung besonders nahe, die Lampe zu neigen, um ihr mehr Öl zuzuführen. Das wäre aber ein Verstoß gegen das Verbot des Feueranzündens. Dem Schullehrer ist Seite 13zwar gestattet zuzusehen, wie Kinder bei Licht lesen, er selbst darf es aber nicht.

Ein Arzt darf am Sabbat einem Kranken nur Beistand leisten, wenn Lebensgefahr vorhanden ist. R. Matthija ben Charasch erlaubt sogar einem an Halsschmerzen Leidenden am Sabbat Heilmittel in den Mund zu tun, weil es vielleicht lebensgefährlich sein könnte. Dies wird jedoch nur als Ansicht dieses einen Gelehrten und keineswegs als allgemein gültig angeführt. Jedenfalls darf der Arzt nur bei Lebensgefahr helfen: »Man darf nicht einen Bruch (eines Gliedes) wieder einrichten. Wer sich die Hand oder den Fuß verrenkt hat, darf sich nicht mit kaltem Wasser begießen.« Daher auch die Anfeindungen Jesu durch die Pharisäer wegen seiner Krankenheilungen am Sabbat!

Auch die jüdischen Soldaten beobachteten die Sabbatruhe gewissenhaft. So ließ sich am Anfang der makkabäischen Erhebung eine Schar von Gesetzestreuen lieber bis auf den letzten Mann niedermachen, als daß sie zum Schwert gegriffen hätte. Von da an beschloß man auch am Sabbat das Schwert zu gebrauchen, jedoch nicht zum Angriff, sondern nur zur Verteidigung.

Daß die Gesetze über Reinheit und Unreinheit mindestens ebenso sophistisch waren, wie die über die Sabbatruhe, ist hinlänglich bekannt. Uns genügen die mitgeteilten Beispiele[2].

Doch zurück zur Scholastik!

Man wird zur Entschuldigung dieses Unsinns ins Treffen führen, daß nur wenige Jahrhunderte, besonders die zweite Hälfte des 11., das 12. und 13., ihn Seite 14kultivierten. Nun wäre es ja an sich schon hinlänglich betrübend, wenn zweieinhalb Jahrhunderte lang — tatsächlich herrschte die Scholastik ja die doppelte Zeitdauer, wenn auch nicht so absolut, wie von etwa 1050 bis 1300 — die fähigsten Köpfe der Christenheit nichts besseres zu tun gehabt hätten, als leeres Stroh zu dreschen. Aber selbst diese lahme Entschuldigung ist nicht stichhaltig. Denn wie man bereits im 5. Jahrhundert in Konstantinopel an allen Straßenecken über Dogmatik, über Gottähnlichkeit und Gottgleichheit disputiert hatte (vgl. Kultur-Kuriosa I, S. 180), so hatte man auch schon Jahrhunderte früher im Abendlande diesem müßigen Sport gehuldigt.

So zerbrechen sich im 9. Jahrhundert — um nur ein Beispiel zu nennen — Nonnen den Kopf darüber, ob Maria geboren habe, wie andere Frauen. Die Frage wurde in allen Details behandelt, was der Ausmalung geschlechtlicher Dinge den weitesten Spielraum ließ. Als nun nach Alt-Corvey die Kunde kam, gewisse Leute wagten zu lehren, Maria habe trotz der übernatürlichen Empfängnis Jesus ebenso geboren, wie andere Frauen ihre Kinder, erhob sich das lauteste und heftigste Geschrei über diese Häresie. Paschasius Radbertus und Ratramnus, beides Autoritäten, widersprachen mit leidenschaftlichem Eifer. Man schuf eine Physiologie des Irrsinns, um die Jungfrauschaft der Gottesgebärerin aufrecht erhalten zu können[3].

Das war im finstersten Mittelalter! wird man einwenden. Nun, gar so finster war in mancher Hinsicht das 9. Jahrhundert gar nicht, wie die Entscheidung Karls des Großen gegen den Bilderdienst oder die Schriften des Erzbischofs Agobard von Lyon[4] Seite 15beweisen, der sich gegen das Wettermachen der Hexen u. a. wendet. Aber immerhin sei zugegeben, daß die Menschen von damals noch sehr barbarisch dachten, ihre Kenntnisse gering waren, ihre Frömmigkeit kindlich.

Die Scholastik verbunden mit widerlicher Frömmelei, saß unsern Altvordern noch Jahrhunderte lang so tief in den Knochen, daß sich auch die Poesie von ihr nicht freimachen konnte. Der neue Meistergesang des ausgehenden 15. Jahrhunderts, der in Nürnberg seine Wiege hatte, schuf nicht nur eigene Töne mit eigenen Namen, sondern war auch anscheinend bestrebt, den Gesängen einen neuen Inhalt zu geben. Aber das war nicht so einfach, denn die älteren Meister zum mindesten konnten auf die scholastischen Grübeleien und auf die Metaphysik nicht verzichten. Besonders wurden kirchliche Dogmen und kirchliche Traditionen als Gegenstand der Poeterei erkoren.

Was dabei herauskam, läßt sich denken. Sang man doch in scholastischer Weise mit allen Künsten der Dialektik, aber natürlich mit steter Unterordnung unter die kirchliche Lehre, über so hochpoetische Themen wie: Wo Gott gewesen, ehe die Welt geschaffen war. Wie das Verhältnis der drei Personen in der Trinität beschaffen sei. Wie sich die Gottheit von ihrem eigenen Geschöpf habe gebären lassen können. Wie es möglich gewesen, daß die Geburt Gottes des Sohnes mit der Unbeflecktheit der Jungfrau sich habe vereinigen lassen. Wie die Ubiquität Gottes des Sohnes im Sakrament des Altars zu fassen sei. Selbst Hans Folz, der ja als Neuerer des Meistergesanges auftrat, beschäftigte sich in vielen Seite 16Gedichten ganz in althergebrachter Weise mit diesen Dingen. Von den übrigen Meistern der Schule aber, soweit ihre Gedichte mit Wahrscheinlichkeit ermittelt werden können, hat sich kaum einer mit einem andern Gegenstande befaßt[5].

So weit kann also eine gelehrte Dummheit von ihrer Zeit Besitz ergreifen, daß selbst die Poesie keinen andern Stoff findet, als diesen schon für prosaische Behandlung zu langweiligen, und daß die Rechtgläubigkeit und dogmatische Korrektheit höher gewertet wird, als freischaffende Phantasie!

Doch das ist ja alles noch Mittelalter, wird man einwenden.

Was aber sagt der unverbesserliche Lobredner menschlicher Intelligenz zu Schriften, die vor wenigen Jahrhunderten, ja noch an der Schwelle der Gegenwart im gleichen Geiste abgefaßt wurden? Was dazu, wenn er erfährt, daß es sich um protestantische Theologen handelt, denen man ja geneigt ist gegenüber ihren katholischen Amtsbrüdern eine gewisse geistige »Freiheit«, ein größeres Anungsvermögen an die realen Bedürfnisse des Lebens, an den Zeitgeist, nachzurühmen? Sehen wir uns diese Literatur einmal an!

»Schriftmäßige Abhandlung von dem Dienste der Engel bey den Eheverbindungen der Frommen, über Gen. XXIV, 7 und 40 ...« heißt eine Broschüre, die im Jahre 1753 in Altenburg aus der Feder des Gymnasialprofessors Salomon Ranisch erschien. Er beweist nicht nur aus der Bibel sein Thema für die Vergangenheit, sondern spricht auch die Meinung aus, daß noch heute Engel Seite 17als Heiratsvermittler fungieren. Allerdings nur bei Frommen.

Dieses Thema schien den Theologen so bedeutend, daß der gräflich Schönbornsche Konsistorialprofessor Christoph Haymann im gleichen Jahre in Waldenburg eine Abhandlung erscheinen ließ, von deren schier endlosem Titel wir den Anfang zitieren »Zufällige Gedanken über des Hochedlen und hochgel. M. Salomon Ranischens, des Hochfürstl. Sächsis. Gymnasii illustris in Altenburg hochverordneten Professors ...« Hier wird der Abhandlung zwar Beifall gezollt, jedoch bezweifelt, ob der Beweis zwingend dafür erbracht sei, daß der Engel, der Elieser auf seiner Reise unterstützte auch den gemessenen Befehl gehabt hätte ihm beim Vermählungsgeschäft behilflich zu sein. Er glaubt vielmehr, daß Gott selbst die Umstände und Herzen der in Frage kommenden Personen nach dem Wunsche Eliesers gelenkt habe. Auch fehle der zwingende Beweis dafür, daß Isaak durch eine Erscheinung, Botschaft oder Anzeige des Engels bestimmt worden sei der Rebekka entgegenzugehen.

Der Fall wird mit größtem Scharfsinn und natürlich auch unter Zurückgreifen auf den hebräischen Urtext geprüft. Das war aber auch nötig, denn Salomon Ranisch antwortete in einem »Sendschreiben an den Hochehrwürdigen, hochachtbaren und hochgelahrten Herrn M. Christoph Heymann (sic!) usw.« Altenburg 1754.

Er meint es trage die »Schwäche des menschlichen Verstandes« Schuld an der Gleichgültigkeit der Ausleger, die der Tätigkeit des Engels bei der Vermählung Seite 18Isaaks nicht die nötige Beachtung geschenkt hätten. Vielleicht hätten sie unter dem Engel den unerschaffenen Engel des Bundes verstanden, vielleicht auch sich den Schein der Gelehrsamkeit beigelegt, als ob die Interpretation der Tätigkeit des Engels so leicht sei, daß man stillschweigend darüber hinweggehen könne. Ihm aber sei ein Licht aufgegangen durch die Vorlesungen des Professor Crusius, der dozierte, daß Gott die Welt regiere teils durch den Lauf der Natur, teils durch die Hilfe der Wunder, teils aber auch durch den Dienst der Engel. Wenn es ihm auch ferne läge zu bestreiten, daß der Engel die Aufgabe hatte Elieser auf seiner Reise zu beschützen, so seien wir doch auch gezwungen, ihn als »einen Beystand der gestifteten Ehe« anzusehen. Das beweist er denn auch philologisch. Ja, der Engel sei sogar mit dem Messias identisch. Weit entfernt sich widerlegen zu lassen, ist Ranisch der Ansicht, daß gerade diese Ehegeschichte ein wunderschönes Beispiel dafür sei, daß Gott durch den Dienst der Engel die Ehen der Frommen stifte[6].


In der Abhandlung »Adam der erste Vasall« erbringt Joh. Dan. von Hoven (Lingen 1753) den Beweis, daß das Paradies ein Lehen war, mit dem Gott als Lehnsherr Adam als ersten Vasall belehnt hatte.

Der Lehnsherr Gott, zugleich unumschränkter Landesherr, führt einen doppelten Namen im Hebräischen in diesen seinen beiden Eigenschaften. Der Lehnsherr wird eigentlich Herr genannt, nicht sowohl Seite 19weil er die Oberherrschaft sich vorbehalten wollte, als wegen der Treue und Pflichten, die der Vasall ihm zu leisten schuldig ist. Der an einen Lehnsherrn zu stellenden Forderung, daß er freie Verfügung über die zu vergebenden Güter habe, entspricht Gott durchaus. Er handelte jedoch weniger als kontrahierende Partei, denn aus freiem und unumschränkten Wohlgefallen.

Was nun Adam betrifft, so ist er namentlich benannt. Er ist als Vasallus capitaneus zu betrachten, das Weib aber nur als Valvasor.

Das Lehensgut ist ein unbewegliches Grundstück, das aus besonderer Gnade verliehen wird und eigentlich weder ge- noch verkauft werden darf. Ein solches beneficium war der Garten Eden: a) er war ein unbewegliches Grundstück, b) der Mensch hatte aus sich selbst kein Recht darauf, sondern c) es lediglich aus Gnade erhalten und zwar d) für sich und seine Leibeserben e) mit allen Regalien, f) sowohl geistlichen als weltlichen. Zwar hatte Gott dem Menschen erlaubt sich die Erde untertan zu machen, dabei aber den Garten Eden ausdrücklich abgesondert und für sich selbst vorbehalten. Es handelt sich hier also um ein Lehn in curte oder territorio des Landesherren und damit zugleich ein feudum ligium.

Die Belohnung geschieht durch Einräumung, tätliche Einführung und Übergebung des Grundstückes vom Herrn an seinen Vasallen im Beisein wenigstens zweier Zeugen, wogegen sich der Vasall durch den Lehnseid seinem Herrn verpflichtet, was jedoch auch erlassen werden kann. Die Einsetzung erfolgt nach Gen. II, 8 und 15 ordnungsgemäß vermutlich in Seite 20Gegenwart einiger Engel, da diese auch bei der Austreibung anwesend waren. Fehlte auch der Lehnseid, wie ja zulässig, so empfing Adam doch Instruktionen bezüglich seiner Dienstpflichten, nämlich den Garten zu bebauen und zu bewahren. Auch war das Servitut auferlegt vom Baum der Erkenntnis nichts zu essen bei Verlust des Lehens. Dieser erfolgte ganz rechtmäßig wegen eines crimen feloniae — das unerlaubte Essen und Verhandlungen mit der Schlange als Feindin des Lehnsherren — und crimen lesae majestatis, da er bei der Untersuchung den Lehnsherren selbst beschuldigte[7].


Im Jahre 1756 erschien in Jena »Johann Georg Walchs D. Abhandlung vom Glauben der Kinder im Mutterleibe, aus dem lat. ins deutsche übersetzet und mit Anmerckungen erläutert von M. Adam Lebrecht Müller« in zweiter Auflage!

Diese wenn auch nicht lesenswerte, so doch sicherlich gelesene Untersuchung stellt fest, daß gar kein Zweifel darüber bestehe, daß getaufte, in zarter Kindheit sterbende Kinder des ewigen Lebens teilhaftig werden. Wie aber, wenn Kinder sterben, deren Eltern keine Christen sind? Die Ansichten über das Schicksal ihrer Seelen weichen voneinander ab. Der Verfasser hält dafür, daß sie infolge der Erbsünde der ewigen Seligkeit verlustig gehen. Kinder aber von christlichen Eltern erlangen die ewige Seligkeit auch wenn sie ungetauft sterben, wofern die Taufe unmöglich war. Aber wie läßt sich das begründen? Höchst einfach! Da es unmöglich wäre Seite 21ihnen das ewige Leben zu verleihen ohne Glauben, aber unbillig sie unverschuldet der Verdammnis zu überliefern, so folgt daraus, daß »Gott den Glauben in den Kindern, da sie noch im Mutterleibe sind bewirkt!« Er kann das nach Matth. XIX, 26 und Luk. I, 37 tun. Von Johannes wird Luk. I, 15 sogar ausdrücklich erzählt, daß er noch im Mutterleibe vom heiligen Geist erfüllt wurde. »Wir finden Exempel solcher Kinder, welche Gott bereits im Mutterleibe zu heiligen Ämtern asehen hat. Jer. I, 5. Gal. I, 15 sqq. Also kann Gott im Mutterleibe heiligen[8]


Ein Thema, dessen Aufwerfung nicht geringere Intelligenz erfordert, als seine Beantwortung, behandelt der Prediger Johann Friedrich Wachsmann in seiner 1751 zu Helmstedt erschienenen Schrift betitelt »Untersuchung der Frage, warum Gott den gefallenen Engeln keinen Erlöser gegeben habe

Er geht mit bewundernswertem Scharfsinn zu Werke, wenn er nach der Feststellung, daß viele Engel durch eigene Schuld in Sünde fielen, im Gegensatz zu den verführten Menschen, schließt, daß es also keineswegs unmöglich wäre, sie durch einen Erlöser daraus zu befreien. Und zwar weder unmöglich bei Gott, da dieser ja allmächtig, noch beim Erlöser. Denn diese Unmöglichkeit müßte entweder darin bestehen, 1. daß der Sohn Gottes, ob er sich gleich mit der menschlichen Natur habe vereinigen können, doch unvermögend gewesen, die Natur der Engel anzunehmen Seite 22und sie zu erlösen. Oder 2. daß, weil die englische Natur trefflicher sei, als die menschliche der Sohn Gottes eine Unmöglichkeit gefunden habe, die englische Natur anzunehmen; oder 3. daß, weil die Sünde der gefallenen Engel größer, als die Sünden der Menschen gewesen, es dem Sohne Gottes unmöglich gefallen, für ihre Sünde eine vollkommene Genugtuung zu leisten, wenn er auch ihre Natur angenommen hätte; oder 4. daß außer der Annahme der englischen Natur, wenn sie unmöglich gewesen wäre, sonst kein anderer Weg auf seiten des Erlösers habe sein können, die gefallenen Engel aus ihrem kläglichen Elende zu erlösen.

Nun ist es klar, daß sowohl Gott, als auch dem Erlöser das alles sehr wohl möglich gewesen wäre. Gab also Gott den gefallenen Engeln keinen Erlöser, so kann nur sein Wille, nicht sein fehlendes Können, daran schuld gewesen sein.

Aber warum wollte Gott nicht?

Die Antwort würde uns sehr schwer fallen, uns schlaflose Nächte verursachen, vielleicht uns ein Gemütsleiden zuziehen, hätte nicht Herr Pastor Wachsmann auch sie richtig gefunden.

Ja, warum wollte Gott nicht? Er wollte nicht entweder aus Güte, oder aus Gerechtigkeit, oder aus Heiligkeit! Der Verfasser entscheidet sich für die letztere. Und er hat mit seiner Motivierung recht: Eigentlich wollte er ja den gefallenen Engeln einen Erlöser geben, unter der Bedingung, daß sie glaubten. Aber er sah bei seiner Allwissenheit vorher, daß sie das ganz und gar nicht tun würden, und deshalb unterließ er es.

Seite 23Zu dieser hochaktuellen Untersuchung von unabsehbarer praktischer Bedeutung hat der hochwürdige Herr Abt Schubert eine Vorrede geschrieben, die zugleich eine kritische Würdigung ist.

Zwar ist er der Ansicht, daß es zur Seligkeit nicht nötig sei zu wissen, warum Gott den bösen Engeln keinen Erlöser sandte, nachdem aber der Rostocker Gottesgelahrte D. Johann Fecht in seinen Noctibus Christianis p. 359-887(!!!) weitläufig untersucht habe, ob Christus unter allen Menschen die schönste Gestalt habe?, billigt er die Frage. Hat doch schon der hl. Augustinus (Enchirid c. 29. Opp. Tom. VI. p. 207) die Ansicht ausgesprochen, Gott habe deshalb den gefallenen Engeln keinen Erlöser gesandt, weil das ganze Menschengeschlecht, aber nur ein Teil der Engel gefallen sei, ein Verlust, der durch die Anzahl der erlösten und awählten Menschen wieder habe ersetzt werden müssen! Auch der hl. Gregorius (Lib. IX Moral c. 28) hat sich zu dieser wichtigen Frage geäußert, desgleichen Bernhard (in Tr. de grad. hum. p. 975). Wenn auch Wachsmanns Ausführungen im allgemeinen zuzustimmen sei, so müsse doch bedacht werden, daß die gefallenen Engel nur deshalb so verstockt seien und an den Erlöser nicht glauben würden, weil sie wüßten, daß sie auf ewig verdammt sind. Trotzdem wäre Gott auch die Erlösung dieser hartgesottenen Sünder möglich gewesen, jedoch nur durch unendliche Leiden seines Sohnes. Und da Christus sich dazu nicht freiwillig erbot, wollte Gott ihn nicht zwingen. Zudem wäre ihre Erlösung »ein unnützes und überflüssiges Werk« gewesen. Und so etwas macht Gott nicht.

Seite 24Der Herr Abt schließt sein Gutachten mit der Hoffnung, es mögen sich noch viele »geschickte und gelehrte Männer« dadurch veranlaßt sehen, »solche Fragen in der Theologie zu untersuchen, die bisher noch nicht hinlänglich entschieden worden, damit das Licht unserer Erkenntnis zum Preis der göttlichen Majestät immer klarer und heller gemacht werde«[9].


Die Gründe, aus denen Kain von Abel erschlagen wurde, ließen die Theologen nicht schlafen. Doch die Erleuchtung blieb nicht aus. Man fand, daß religiöse Differenzen den Brudermord verursacht hätten. Kain hätte behauptet, daß es weder ein ewiges Leben, noch Belohnung für die guten und Bestrafung für die bösen Taten gäbe, daß die Welt nicht durch Gottes Barmherzigkeit erschaffen worden sei usw. Abel widersprach und da ihm bessere Argumente fehlten, tat er, was man in solchen Fällen noch heute den Freidenkern gegenüber gern tun würde, er erschlug den gläubigen Bruder[10]!


M. Joh. Jacob Plitts »Vernunft und Schriftmäßige Gedanken über diejenigen Menschen, welche bald nach ihrem Tode wieder auferwecket und größtentheils zweymahl gestorben sind«, Marburg 1752, repräsentieren vielleicht einen noch höheren Grad gelehrter Dummheit.

Diese schon durch ihren Titel — man beachte das »größtenteils zweimal gestorben!« — beachtenswerte Untersuchung befaßt sich auch mit der hochwichtigen Seite 25Frage, wo die Seelen der Auferweckten gewesen sind. »Die Gottesgelahrten haben es vor die schwerste Frage dieser Sache gehalten, wo denn die Seelen dieser Verstorbenen bis zu der Zeit, da sie wieder auferwecket sind, geblieben wären? Die hl. Schrift redet von zwei Orten nach dem Tode, und versichert, daß aus der Hölle keine Erlösung sey, und wer einmahl in dem Himmel ist, auch ewig darinne bleibe ... Die Schwierigkeiten werden am glücklichsten gehoben, wenn man annimmt, daß diese Seelen bis zur Auferweckung in ihren Leibern geblieben, ob sie gleich keine weitere Gemeinschaft mit denselben gehabt haben. 1. Diese Meynung hat nichts widersprechendes, und ist also möglich: denn die räumliche Trennung der Seele von dem Leibe gehöret nicht zu dem Wesen des Todes nothwendig; 2. es stimmt weit besser mit den göttlichen Vollkommenheiten, wenn die Seelen, die bald wieder mit ihrem Cörper haben sollen vereiniget werden, nicht an einem besonderen Ort versetzet worden. Die Ursachen, warum die Seelen gleich nach der Trennung von ihren Leibern an einen gewissen Ort versetzet werden, fielen weg, und den Menschen würde es schwer werden, eine Ursache zu entdecken, warum Gott die Seelen der zweymahl Verstorbenen auf eine so kurtze Zeit aus ihrem bisherigen Orte in einen andern sollte versetzet haben, in welchem sie natürlicher Weise nach dem Tode des Leibes geblieben wären. Ueberdies häuffet Gott die Wunder nicht ohne Noth, sondern wählet immer den kürtzten Weg, einen gewissen Endzweck zu erreichen. Es war also ein kürtzer Weg, wenn die Seelen in ihren Cörpern blieben, als wenn sie in den Himmel versetzet, Seite 26und kurtz hernach wieder mit dem vorigen Leibe vereiniget würden«[11].


Welcher fromme Christ fürchtet nicht das jüngste Gericht, das Ende aller Dinge? Vor allem, daß es ihn nicht wachend und betend ereilt? Da ist es natürlich von ungeheurem praktischen Werte, annähernd zu wissen, wann dieses schreckliche Ereignis eintrifft. Bekanntlich glaubte man im Jahre Tausend unserer Zeitrechnung nunmehr sei alles aus, und in diesem Glauben wanderte der fromme Kaiser Otto III., das Weltwunder, nach Gnesen. Die Adventisten leben in unseren Tagen noch der Meinung, daß die Katastrophe plötzlich hereinbrechen könne. Wie töricht! Hat doch schon längst M. Gottfried Büchner die Frage in durchaus befriedigender Weise gelöst und dadurch jeden wahrhaft Frommen von einem schweren Alb befreit.

Zu Jena erschien im Jahre 1751 die Abhandlung »Daß der jüngste Tag und das Ende der Welt gewiß aber noch lange nicht komme, suchet aus der Schrift und Vernunft zu beweisen M. Gottfried Büchner«.

Die Beweisführung ist durchaus zwingend. Wenn auch der gelehrte Verfasser sich nicht getraut, das Jahr oder gar Tag und Stunde des jüngsten Tages genau anzugeben, so weist er doch mit Recht auf Habakuk III, 2 hin, wo es heißt »Herr ich habe dein Gerücht gehöret, daß ich mich entsetze; Herr du machest dein Wort lebendig mitten in den Jahren und lässest es kund werden mitten in den Jahren.« Nun ist es ja Seite 27evident, daß das lebendig gewordene Wort Gottes Christus ist. Da es mitten in den Jahren kommt, d. h. in der Mitte zwischen Schaffung und Untergang der Welt, so ist es nicht allzuschwer, den letzteren Termin zu bestimmen. Wissen wir doch, daß Christus etwa im Jahre 4000 nach der Schöpfung auftrat. Wir können daraus folgern, daß der jüngste Tag 4000 Jahre nach ihm eintritt, haben also noch über 2000 Jahre Zeit, uns unseres Lebens und unserer Sünden zu freuen. Und das wollen wir hiermit auch tun[12]!


Die für das Seelenheil nicht minder wertvolle, als für jene wahre Wissenschaft, die wir alle erstreben, notwendige Frage, ob die Erde im Herbst oder im Frühjahr geschaffen wurde, ließ begreiflicherweise die Theologen nicht zur Ruhe kommen. Schon die alte Kirche hatte sich mit ihr befaßt. Nach der großen Glaubensspaltung lieferten orthodoxe Katholiken, Lutheraner und Calvinisten etwa in gleicher Stärke Verteidiger der einen, wie der anderen Meinung. Die meisten Katholiken treten zwar für die Erschaffung im Frühjahr ein, so auch Cajetan, Molina, Valentia, a Lapide, Tornielli usw., aber auch große Autoritäten, wie Arias, Montanus, Pererius, Mesenne und Petavius entscheiden sich für den Herbst. Von lutherischen Theologen sind sich Luther, Melanchthon, Agid. Hunnius, Joh. Gerhard, Somson, Gottfried Wegner u. a. darin einig, daß die Erschaffung der Welt nur im Frühjahr stattfinden konnte, während der berühmte Leipziger Chronologe Calvisius († 1617), Abrah. Seite 28Calov, Strauch, Runge, Walther usw. gute Gründe für die andere Jahreszeit hatten. Auch unter den Reformierten gab es bedauerlicherweise zwei Lager: Alsted, Polanus, L. Capellus, G. J. Vossius, Jul. Caesar Scaliger und Pareus brachen für den Frühling Lanzen, während Danäus, Zanchius, Piscator, Voetius, Maresius, Burmann, Heidegger, Turretin usw. die Ehre des Herbstes als Weltschöpfungstermin verteidigten. Es war ein harter Kampf, um so mehr, als der berühmte Kartograph Mercator († 1594) berechnet hatte, daß die Welt nur im Hochsommer entstanden sein konnte. Natürlich fand auch diese wissenschaftliche Erkenntnis ihre Anhänger, wenn auch nicht viele. Noch zu Anfang des 18. Jahrhunderts hatten sich die Gemüter nicht beruhigt, wie die damals erschienene Schrift des Geraer Rektors Hogel beweist, der herausgerechnet hatte, daß Gott am 26. Oktober abends zu schaffen angefangen hatte[13].

Hauptsächlich in reformierten Kreisen herrschte Meinungsverschiedenheit darüber, ob der Schöpfungsakt Gottes jedesmal den ganzen Zeitraum von 24 Stunden einnahm oder ob er in kürzerer Zeit fertig wurde oder ob er — wozu besonders die strenge Orthodoxie neigte — mit einem Schlage und ohne jeden Zeitaufwand erfolgte. Zwischen den Lutheranern aber gab es Differenzen über den Zeitpunkt, in denen die Engel erschaffen wurden: ob er auf den ersten oder zweiten Schöpfungstag zu legen sei oder ob man ihn ganz unbestimmt lassen müsse[14].


Seite 29Der Lübecker Generalsuperintendent August Pfeiffer († 1698), ein durch seine wissenschaftlichen Arbeiten bekannter Theologe, ließ unter dem Titel »Pansophia Mosaica e Genesi delineata, d. i. Grundriß aller Weisheit darinnen aus dem 1. B. Mosis alle Glaubensartikul; die Widerlegung der Atheisten, Heiden, Juden, Türcken, und aller Ketzer; alle Disciplinen in allen Facultäten; der Ursprung aller Sprachen; der Extract von allen Historien, Antiquitäten und Curiositäten; alle Professiones, Handwerke und Handthierungen; alle Tugenden und alle Laster; aller Trost kurz und deutlich gewiesen werden« (Leipzig 1685), ein Werkchen in Duodez erscheinen, das selbst unter den an Albernheit gewiß den höchsten Ansprüchen genügenden theologischen Untersuchungen noch einen Ehrenplatz einnimmt. Er führt den Nachweis, daß das 1. Buch Mosis der Inbegriff aller göttlichen und menschlichen Weisheit ist und findet darin u. a. sogar die sämtlichen 28 Artikel der Augsburger Konfession. Auch alle Rechtswissenschaft, Medizin, Philosophie, Redekunst haben hier ihre Wiege.

Pfeiffer ist ganz und gar nicht verwaist unter den gelehrten Dummköpfen. So schrieb Dorsch eine Theologia Zachariana (1637), Majus eine Theologia Jeremiana (1696), Bebel eine Daniel-Theologie und Hinckelmann vier Jahre später (1687) eine Hiob-Theologie. Den Vogel aber schießt J. Deutschmann ab mit der Schrift »Theologie Adams, des ersten wahren Lutheraners« (Theologia primi theologi Adami vere Lutherani, Wittenberg 1689)[15].


Seite 30Wenn Naturvölker, Zeiten, die vom Naturgeschehen noch keine richtige Vorstellung haben im Erdbeben mit seinen Schrecken einen Eingriff Gottes in den Lauf der Natur erblicken, daraus sein Grollen entnehmen wollen, so werden wir das für Unwissenheit, nicht aber für Dummheit halten können. Wie aber, wenn im aufgeklärten 18. Jahrhundert in einer Abhandlung, die die natürlichen Ursachen der Erdbeben durchaus nicht bestreitet, ein Diakon Johann Christian Leo in seiner Predigt »Die Offenbahrungen Gottes im Erdbeben«, Weißenfels 1757, darlegt, daß Gott im Erdbeben seine Gerechtigkeit und Güte offenbart! Wie völlig alles Verstandes beraubt muß eine Konfession oder Zeit sein, die nach der schrecklichen Katastrophe von Lissabon und unter deren unmittelbarem Eindruck solche Folgerungen ziehen kann[16]!

Wenn irgend etwas den Beweis zu liefern vermag, daß der blinde Bibelglaube die Vernunft lähmt und dadurch verdummt, so ist es zweifellos ein Symptom wie dieses: unter allen Umständen ist ein Eingriff Gottes in das Naturgeschehen eine gute Handlung. Wir sehen zwar das genaue Gegenteil, aber da Gott alle guten Eigenschaften hat und Vater der Menschen ist, so trügen uns eben Augen und Verstand! Betrachten wir nun des Näheren die lähmende Rolle, die dieser Bibelglaube spielt, zumal, wenn er noch durch den an die unfehlbaren Interprätationen der Autoritäten gestützt wird!


Die Frage von der Existenz der Antipoden gehört zu den wenigen wissenschaftlicher Art, die die Seite 31alte Kirche beschäftigten. Da die Manichäer zufällig das Richtige trafen, widersetzen sich die Kirchenväter ihrer Ansicht, waren doch die Manichäer als Ketzer verdammt. Der Mönch Cosmas, der zu Beginn des 6. Jahrhunderts in Alexandrien lebte, hatte in seiner »Topographia Christiana«[A] die Resultate seiner weiten Reisen niedergelegt, sowie eingehend Stellung genommen zum Verhältnis der Wissenschaft zur Bibel. Er bestreitet die Existenz der Antipoden, und zwar aus folgenden zwingenden Gründen:

Da der Schöpfungsbericht der sechs Tage mit den Worten schließt »Dies ist das Buch des Ursprungs von Himmel und Erde« (Genesis 2, 4) meint Cosmas, wenn die Lehre von den Antipoden richtig wäre, dann würde der Himmel die Erde umschließen und es hätte daher nur zu heißen brauchen: »Dies ist das Buch des Ursprungs des Himmels.« Da es nun kaum einen biblischen Schriftsteller gibt, der sich nicht des Ausdruckes »Himmel und Erde« zur Bezeichnung des Universums bedient, so war das von Cosmas angeführte Argument von größter Beweiskraft. Setzte es ihn doch in die Lage, als Gewährsmänner gegen die Existenz der Antipoden Abraham, David, Hosea, Jesaja, Sacharia, Melchisedek usw. anzuführen. Autoritäten beweisen aber ja bekanntlich noch heute und besonders war das damals der Fall.

Aber Cosmas hat damit seine Beweismittel noch keineswegs erschöpft. Da es in der Bibel heißt, die Seite 32Erde stehe auf ihren Pfeilern fest, was zum mindesten schließen lasse, daß sie nicht in der Luft schwebe, da ferner Paulus sagt (wenigstens wie Cosmas aus den phantastischen Erklärungen von Hebr. VIII, 1, 2, IX, 1, 2, 11, 12, 24 folgert), alle Menschen seien geschaffen, um auf dem Antlitz der Erde zu leben, woraus deutlich hervorgeht, daß sie nicht auf mehr als einem Antlitz oder gar auf ihrem Rücken leben, so müsse ein Christ »nicht einmal von Antipoden sprechen«.

Daß die Beweise des Cosmas, gestützt auf Bibel und Autoritäten, nicht minder auch durch den Antagonismus gegen die Manichäer, allgemeine Anerkennung finden mußten, ist selbstverständlich. Selbst ein Bonifacius, ermutigt vom Papst Zacharias, fand es nicht unter seiner Würde, in dieser Sache die Sturmfahne gegen den Irländer St. Virgilius zu führen, als dieser es gewagt hatte, um die Mitte des 8. Jahrhunderts in Bayern die Existenz der Antipoden zu behaupten. Man bannte 748 diesen später heilig gesprochenen Abt von St. Peter in Salzburg, späteren Bischof, der trotz seiner Irrlehre dazu berufen war, Kärnten und Steiermark zu christianisieren. Übrigens wurden auch noch in späteren Jahrhunderten Verteidiger der Antipodenthese von päpstlicher Seite verdammt, während Albertus Magnus, Dante und andere ungestraft die gleiche Ansicht vertreten durften. Im 14. Jahrhundert wurden wegen der Antipodenlehre noch Pietro d'Abano bestraft, Cecco d'Ascoli als Greis verbrannt. Aber selbst noch zur Zeit Heinrichs des Seefahrers, als die großen atlantischen Entdeckungen doch schon begonnen hatten, konnten sich noch Männer wie der Kardinal d'Ailly auf Grund der Bibel gegen Seite 33Antipoden erklären, ja ein Columbus mußte sich von den Theologen Salamancas darüber belehren lassen, daß die Annahme bewohnter Länder auf der anderen Erdhälfte gegen Schrift und Kirchenväter verstoße[17].


Unter dem Titel »Systema Theologicum ex Prae-Adamitarum Hypothesi« erschien im Jahre 1655 von dem französischen Protestanten La Peyrère ein Werk, das verdienstvoll genannt werden muß durch die Kritik, die es an der biblischen Geschichte übt und mit der es versucht Widersprüche zwischen Wissenschaft und Bibel dadurch aufzuklären, daß es die ganze vorsintflutliche Geschichte lediglich auf das jüdische Volk beschränkt wissen will. Sehr merkwürdig sind nun einzelne Fragen, die er in diesem Bestreben aufwirft: Warum hütete Abel die Schafe, da es doch keine Diebe gab? Wo nahm Kain die Waffe her, mit der er seinen Bruder tötete?

Daß in der Bibel zwei Schöpfungsgeschichten miteinander verquickt sind, was zu Widersprüchen führt, war ihm nicht entgangen und kommt ja auch z. B. klar in Kains Furcht weiter zu wandern zum Ausdruck, da er nicht von jemand getötet zu werden Gefahr laufen wollte.

Nun ist es gewiß kein Wunderwerk der Intelligenz, daß noch am Ende des 18. Jahrhunderts gestützt auf diese aus der Bibel zu folgernde Schöpfung anderer Menschen unabhängig von der Adams das irländische Parlamentsmitglied Dobbs die Existenz einer nicht von Adam stammenden Menschenrasse Seite 34nachdrücklich verteidigt und die Neger auf eine Ehe Evas mit dem Teufel zurückführt! In Amerika geschah dasselbe zur Verteidigung der Negersklaverei[18].


Im Jahre 1752 erschien in Nordhausen eine 9 Bogen starke Schrift des Konrektors des dortigen Gymnasiums Joh. Friedrich Albert mit dem Titel »Versuch eines neuen Beweises, daß die Sündfluth allgemein gewesen, und über die gantze Erde ergangen sey; wobey zugleich noch andere dahin gehörige Sachen und seltene Nachrichten ausgeführet worden.«

Das Buch, das natürlich jedes Bibelwort für bare Münze nimmt und in naivster Weise u. a. beweist, daß die Schrift bereits vor der Sintflut erfunden war, wirft auch die Frage auf, ob genug Wasser zur Überschwemmung der ganzen Erde vorhanden gewesen sei. »Einige Meßkünstler sagen, daß zur gäntzlichen Bedeckung der Oberfläche unmöglich, so viel Wasser vorhanden seyn könne: zumahl Moses anführe, daß das Gewässer 15 Ellen hoch über die höchsten Berge gestiegen sey. Aber es hat noch Niemand unter allen Meßverständigen eine so genaue Ausrechnung des Meeres Breite und Tiefe geliefert, daß man sagen könnte, wie viel Lasten Wasser in dieser oder jener See sey. Wer misset die Erde mit einem Dreyangel? ist ein Ausdruck der Heiligen Schrift. Wer weiß, wie viel Wasser in den unterirdischen Gängen der Erde, und in ihren Hölen eingeschlossen sey. Moses sagt ausdrücklich: alle Brunnen Seite 35der großen Tieffen brechen auf, d. i. alles Wasser, das in den tiefsten Gründen der Erde befindlich war, stieg auf Gottes Befehl herauf. Wie gieng das zu? Gott brachte durch Hülfe der Winde die Wasser weg, also ist es ihm auch möglich gewesen durch dieselben die Wässer über der Erde zusammen zu treiben. Man stelle sich nur einen Seesturm vor. Wäre dieses Wasser auch nicht genug gewesen, so kam doch das Wasser aus den Wolcken darzu.« In dieser Tonart geht es weiter[19].

Es ist wirklich höchste Zeit, daß Gelehrte mit Rücksicht auf die Möglichkeit einer totalen Sintflut den Wasservorrat auf den Liter berechnen. Das wäre auch eine dankbare Aufgabe für eine Akademie der Wissenschaften!

Welche Unsumme von pfäffischer Borniertheit und Dummpfiffigkeit ist zur Prüfung einer solchen Frage erforderlich! Und das in der Zeit der Aufklärung!

Der Leipziger Anti-Wolfianer Crusius († 1775), faßte die »oberhimmlischen Wasser« als eine wirkliche Wassersphäre auf, die die ganze Welt umgebe und durch Widerspiegelung der Gestirne den Schein der Milchstraße erzeuge[20]!


Der Kampf der freien Forschung, der Astronomie, Geologie, Anthropologie, ja der ganzen Naturwissenschaft gegen die Bibel bzw. gegen die erdrückende Mehrheit der Theologen, die auf sie gegen gesunden Menschenverstand und Erfahrung schworen, ist voller Tragik.

Seite 36Daß sich frühere Jahrhunderte an den Wortlaut der Bibel hielten und auch die Schöpfungsgeschichte buchstäblich auffaßten, ist allgemein bekannt. Weniger schon, daß noch in einer 1789 erschienenen Dogmatik des Freiburger katholischen Exegeten und Apologeten Engelbert Klüpfel († 1811) die sechs Tage der Schöpfung als 24stündige Zeiträume aufgefaßt werden. Er wies alle Versuche zur Ausgleichung der geologischen Lehren mit der Bibel zurück und behauptete, daß die Raschheit des Schöpfungsverlaufes im Interesse der Wahrung von Gottes unbeschränkter Allmacht betont werden müsse. Sogar Augustins Simultanschöpfungslehre ließ er als plausibel, weil durch die bedingte Zustimmung so großer Kirchenlehrer wie den hl. Thomas von Aquino gedeckt, zu. Er verteidigte ferner die Geschichte des Sündenfalls und des Paradieses als streng historisch aufzufassende Urkunden.

Ähnlich faßt auch das 1796 erschienene Bibelwerk von Brentano-Dereser im 1. von Brentano bearbeiteten Teil den Schöpfungsbericht, die Tagewerke und alles andere buchstäblich und streng historisch auf.

Noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts gab es eine Reihe bedeutender protestantischer Theologen, so Buddeus, Joh. Jak. Rambach usw., die noch zwischen Helio- und Geozentrismus schwanken, natürlich aus biblischen Gründen. So schrieb noch 1717 S. H. Klausing in Wittenberg De Scriptura Sacra non Copernizante. Um dieselbe Zeit verfaßte Sam. Chr. Hollmann ebenda die Dissertation »Vom Gebundensein des christlichen Astronomen durch die hl. Schrift« (De obligatione astronomi Seite 37christiani erga Scr. S.), und Nikol. Möller in Kiel eine Abhandlung »Von der unzweifelhaften Bewegung der Sonne und Ruhe der Erde« (De indubio solis motu immotaque telluris quiete) 1724. Er verwarf darin Kopernikus, Tycho Brahe, Cartesius, Huyghens, Newton samt und sonders und beschwor ihre Anhänger: sie möchten doch »jene höchst gottlose, von gewissen heidnischen Philosophen des Altertums auf des Erzfeindes Satan Antrieb ausgesonnene, dann von Kopernikus wieder aufgewärmte und von Cartesius und dessen Anhängern vergeblich in Schutz genommene Meinung fahren lassen, weil sie damit doch nur dem Atheismus, Deismus, Naturalismus und Indifferentismus Vorschub leisteten

Fromme Protestanten haben ja noch im 19. Jahrhundert gegen den Heliozentrismus geeifert, nachdem schon (!) 1822 Papst Pius VII. offiziell erklärt hatte, »daß die Drucklegung und Publikation von Werken, welche über die Bewegung der Erde und das Stillestehen der Sonne nach der gemeinsamen Meinung der modernen Astronomen handeln, in Rom gestattet sei.« Allerdings ließ erst der Neudruck des Index von 1835 die Verbote gegen Kopernikus, Stunica, Foscarini, Galilei und Kepler fallen. Schon achtzig Jahre vorher hatte Benedikt XIV. für einen einzigen Fall die Weglassung gestattet[21].


Doch was will das alles gegen folgende Zeugnisse protestantischer Beschränktheit bedeuten? Ihnen kann man weder den Stand des Wissens ihrer Zeit Seite 38als mildernden Umstand anrechnen, noch die Intoleranz einer höchsten kirchlichen Instanz, die mit Exkommunikation und Scheiterhaufen drohte, und sie dadurch zum Verschweigen der eigenen Meinung zwang, noch gibt es sonstwo irgendwelche Entschuldigungsgründe. Vielmehr handeln alle diese Autoren aus reiner, lauterer Dummheit.

Der alttestamentliche Exeget C. Fr. Keil in Dorpat trat seit 1860 als Gegner der Geologen und Verteidiger einer buchstäblichen Geltung der sechs Schöpfungstage auf. Seine triftigsten Gründe zur Widerlegung der Geologen nimmt er aus der Bibel. Sie berichtet »von zwei Ereignissen der Urzeit, deren Einfluß auf die Gestaltung des Erdbodens und die Entwicklung der Pflanzen- und Tierwelt keine Naturwissenschaft ermessen kann. Wir meinen 1. den Fluch, der infolge des Falles der Stammeltern unseres Geschlechtes von Gott über die Erde ausgesprochen und durch den auch die Tierwelt dem Verderben unterworfen wurde (Gen. 3, 17; Röm. 8, 20), und 2. die Sintflut, durch welche der Erdboden bis zu den höchsten Bergen unter Wasser gesetzt wurde und alle lebendigen Wesen auf dem trocknen Lande bis auf die von Noah in der Arche geborgenen Tiergeschlechter untergingen.« Die Sintflut verursachte die Gebirgsbildung, Wirkung des göttlichen Fluches aber sind die in der gegenwärtigen Tierwelt verbreiteten Phänomene des Raubens, Zerreißens, Verzehrens usw.[22]!

Einen Vorgänger von ähnlicher Glaubensstärke und Verstandesschwäche — es hat da oft den Anschein, als könnten sich Glaube und Verstand nicht vertragen, Seite 39so daß derselbe Mensch entweder nur gläubig oder nur verständig sein kann, oder doch, als ob zu gewissen Zeiten beim gleichen Individuum bald der Glaube herrscht, bald der Intellekt — hatte Keil allerdings im orthodoxen Protestanten Joh. Richers. Dieser gab unter dem Titel »Natur und Geist« im Jahre 1850 ein dreibändiges gelehrtes Werk heraus, in dem er, gleich wie in seiner »Zeitschrift für heilige Naturforschung« (1860) der gesamten physikalischen Wissenschaft vom Standpunkt einer theosophischen Spekulation den Krieg erklärte. Er griff die Lehren von der Schwerkraft, der Anziehungskraft, Elektrizität, Wärme, Licht, Galvanismus und Magnetismus an. Übrigens blieb dieser bibelfeste Mann keineswegs vereinzelt. Karl Schöppfer schrieb »Die Erde steht fest«, Berlin 1854 (5 Auflagen!), ferner »Die Bibel lügt nicht« (Nordhausen 1854), und »Die Widersprüche in der Astronomie« (1869). Der Superintendent A. Frantz in Sangershausen wurde sich gefährlich durch sein Buch »Andeutungen über die Pseudodoxie der Naturwissenschaft« (Magdeburg 1867). Der Engländer Morrison ließ im gleichen Jahre »New Principia or True System of the Astronomy, in which the Earth is proved to be the Stationary Centre of the Solar System« erscheinen.

Noch im Jahre 1876 konnte von protestantischer Seite in Frankfurt ein Werk verbrochen werden, das im wesentlichen auf gleichem Standpunkte steht. Anton Ziegler vertritt in seinem Buche »Die Nachtseite der evangelischen Glaubenswissenschaft« den stumpfsinnigsten Bibelglauben. »In sechs gewöhnlichen Tagen, d. h. in 6 mal 24 Stunden, hat Gott die Seite 40rohe Weltsubstanz zum Kosmos verklärt.« »Gott hat, nachdem er gleichsam das Gröbste auf einmal vollbracht und die Weltmaterie, wie ein Bildhauer seinen Marmorblock, außer sich hingestellt hatte, sich bei der ... Formierung des Marmorblocks geradeso wie ein Mensch an die Abwechslung von Tag und Nacht gehalten, so daß also die materielle Substanz der Schöpfung, wenn auch nur um ein Weniges, älter ist als ihre Ordnung und Schönheit.« Der geniale Verfasser erblickt ein eklatantes historisches Zeugnis für diese Wahrheit, in den zwar nicht die Erdensubstanz selbst, aber doch deren Gestalt und Ordnung teilweise ändernden Wirkungen der Sintflut, die man jetzt gewöhnlich viel zu gering anschlage, nachdem man sie in früheren Jahrhunderten ungebührlich überschätzt habe.

Die Engländer hatten übrigens den Naturwissenschaften gegenüber sich nicht minder rabiat benommen. So konnten zwei glaubensstarke Männer, Fairholm und George Young, der profanen die »Schriftgeologie« (Geol. of Scripture, Scriptural Geology 1833) entgegenstellen. Im Jahre 1844 eiferte Dean Cockburn in einem Vortrage vor der britischen Naturforscherversammlung, einmal sogar speziell gegen die Physische Geographie der Lady Somerville in einer Predigt, die er in der Kathedrale von York hielt, gegen die Irrlehren der Geologie. Der anonyme Verfasser der 1853 erschienenen Schrift »A brief and complete refutation of the anti-scriptural theory of Geologists« behauptete, die Versteinerungen seien bloße Naturspiele. Selbst die Mammute Sibiriens seien niemals lebende Tiere gewesen, sondern als Seite 41leblose Fleisch- und Knochenklumpen unter dem Eise erschaffen. Ein umgeknickter Baumstamm, den man versteinert in einem Steinkohlenlager gefunden hatte, sei nur geschaffen worden, »um die schrecklichen Gotteslästerungen der Geologen zum Schweigen zu bringen[23]

Doch genug des Blödsinns! Wer es nicht gelernt hat seiner Vernunft und Erfahrung zu vertrauen, wer Autoritäten bedarf, um sich von der Wahrheit irgendeiner Sache überzeugen lassen zu müssen, der ist auf der schiefen Ebene. Wie weit ihn seine Dummheit forttreibt, das ist mehr oder weniger Frage des Zufalls. Der schlimmste Förderer der Dummheit war zweifellos der Bibelglaube bzw. der an die Unfehlbarkeit der Bibel in allen Fragen. Ferner der an die Unfehlbarkeit irgendeiner kirchlichen Instanz, der Dogmen, Konzilien, des Papstes oder irgend eines Bekenntnisses, weil diesen Autoritäten die Macht zur Verfügung stand eventuell mit Gewalt ihre Ansicht aufzuzwingen. Zudem hatten sie die Heiligung durch die Länge der Zeit für sich und die Resonnanz der Massen. Aber auch andere Mächte sind nicht ungefährlich, auch wenn sie nicht mit dem Bannstrahl der Amtsentsetzung, von Folter und Gefängnis ganz zu schweigen, auftreten können.

Doch wir wollen das Kapitel nicht schließen, ohne ein reizendes Pröbchen von Verquickung der Naturwissenschaft mit dem Bibelglauben mitzuteilen:

Der französische Botaniker Naudin entwickelt in seiner Abhandlung »Die verwandten Spezies und die Entwicklungslehre« (im Bulletin der französischen botanischen Gesellschaft 1874) folgende Gedanken: Seite 42Adam, der erste Mensch, der sich aus dem Urblastem oder aus dem Erdkloße loslöste, besaß vorerst nur einen temporären Organismus, einen androgynen Larvenleib ohne geschlechtliche Differenzierung.« Aus diesem Larvenzustande trat dann durch jene entwickelnde Kraft der volle Mensch heraus. Um dieses große Werk zu ermöglichen, mußte Adam in einen erzeugungslosen und bewußtlosen Schlaf versetzt werden, welcher mit dem Larvenzustande der Tiere, die einer Metamorphose unterliegen, Ähnlichkeit hat.« Während dieses Schlafes erfolgte nach der Bibel die Hervorbildung des Weibes aus dem Manne. Man hat sich nach Naudin diesen Vorgang als ein ähnliches Knospentreiben zu denken, wie es bei den Medusen und Ascidien stattfindet. Der auf diese Weise physiologisch fertig ausgebildete Mensch konnte fortan, ähnlich wie die Pflanzen- und Tierarten, zwar noch zahlreiche Rassen oder Spielarten als Produkte des ihm noch innewohnenden Rests von Entwicklungskraft hervorbringen, jedoch keine neue organische Spezies[24].

Fußnote: 6d3u5y

A In der Vorrede der Benediktiner-Ausgabe der griechischen Kirchenväter — Paris 1706 — Tom. II. hat Montfaucon viele Stimmen von Kirchenvätern gesammelt, die die Antipoden leugnen.

Seite 43II. Kapitel  Die Askese 2163a

Sahen wir im vorigen Kapitel, wie der Geist durch die Autorität der Bibel und Kirche geknechtet wurde, so wenden wir uns nun der Mißhandlung des Körpers unter dem Einfluß der gleichen Faktoren zu.

Daß die sinnlichen Begierden viel Unheil in der Welt anrichten und ihre Zügelung eine der wichtigsten Aufgaben der sittlichen Persönlichkeit sei, ist ganz zweifellos richtig. Jeder strebende Mensch wird danach trachten, sich von den Ketten der Sinnenlust zu befreien, seinen Verstand und Willen über das Triebhafte in ihm Herr werden zu lassen.

Dieser durchaus gesunde Gedanke, den alle hochstehenden Religionen mehr oder minder klar aussprechen, bedarf aber, wie jeder, zur Durchführung der Intelligenz. Wo diese fehlt, wird ein teils widerliches, teils komisches Zerrbild daraus. Aus dem berechtigten Bestreben, seine Sinne zu zügeln, wird das törichte sie überhaupt zum Schweigen bringen. Hat eine verständige Selbstzucht das Ziel durch Beherrschung der Sinne, Kräfte für höhere Zwecke frei Seite 44zu machen, wird in den Händen der Dummen die Ertötung des Fleisches Selbstzweck, sie führen einen Kampf, in dem sie ihre gesamte Kraft absorbieren. Sollen wir durch Abhärtung, Bedürfnislosigkeit, Erlangung einer gleichmäßigen Heiterkeit der Seele uns widerstandsfähiger machen gegen die nur allzugroßen und allzuvielen Leiden, die uns das Leben bringt, es erreichen, daß nicht jede bagatellmäßige Unbequemlichkeit uns derart stört, daß wir zu ernster Arbeit oder verständiger Lebensfreude unfähig werden, so bereitet der Asket sich absichtlich größere Leiden, als sie normalerweise je das Leben ihm bringen wird.

Gewiß gibt es eine Weltanschauung des traurigsten Pessimismus, die das ganze Leben als eine ununterbrochene Leidenskette betrachtet. Niemand hat sie in eine tiefere Lehre gebracht, als Buddha. Aber selbst dieser erhabene indische Weise ist weit davon entfernt, Askese zu fordern. Mögen wir aus den vielen Unzulänglichkeiten des Daseins folgern, daß es höhere Werte gibt, als Sinnengenuß, daß es nicht ratsam ist, sein Herz allzusehr an Vergängliches zu hängen, darum auf die ohnehin bescheiden zugemessenen Freuden zu verzichten, ist etwa geradeso töricht, als wollte der Frierende noch seine letzten Kleidungsstücke abwerfen, statt die wenigen, die er hat, desto fester um sich zu nehmen.

Zweck der Askese, der Genügsamkeit und Bedürfnislosigkeit kann doch nur sein dadurch glücklicher oder besser zu werden, höhere oder dauerhaftere oder leichter zu beschaffende oder auch unschädlichere Genüsse an die Stelle der gegenteiligen zu setzen. Der Soldat, der Hochtourist, der Nordpolfahrer, Seite 45werden gut tun, sich an Entbehrungen zu gewöhnen, um auch ohne schwer zu beschaffende materielle Genüsse zufrieden sein zu können. Der Seemann wird versuchen müssen, das Heimweh zu bekämpfen, der körperlich Leidende wird seine Freuden vornehmlich auf dem Gebiete des Gemütes und Geistes suchen, statt seinen Schmerzen nachzugeben. Nicht der ist weise, der aus Furcht ein Glied verlieren zu können, sich selbst verstümmelt, aus Angst vor dem Tode Hand an sich legt, sondern die starke Seele, die beim Verlust der Augen froh ist, noch das Gehör zu besitzen, die sich mit der linken Hand begnügt, wenn die rechte verloren ging, die überhaupt nicht das Fehlende, sondern das Vorhandene betrachtet und mit diesen Mitteln das Möglichste zu erreichen versucht.

Besonders einfältig aber sind Menschen, die auf den Gebrauch irgendeines Gutes verzichten, weil sie sich nicht die Willensstärke zutrauen, es mäßig und eines Gebildeten würdig zu verwenden. Dazu gehört etwa die Abstinenzbewegung unserer Tage. Es ist die gleiche Barbarei auf den Alkohol zu verzichten, weil man sonst unmäßig sein würde, als sich zu betrinken, während es klug wäre eine Dosis zu ermitteln, die angenehme Wirkungen hervorruft, ohne dem Körper zu schaden und willensstark — wenn wir dieses hochtrabende Wort auf eine so selbstverständliche Sache anwenden dürfen — dieses zulässige Quantum nicht zu überschreiten, wenn das Verlangen danach auch noch so groß sein mag.

Ein Blick auf die Geschichte des Christentums — allerdings auch auf die anderer Religionen — lehrt Seite 46uns, wie weit Theorie und Praxis vom Vernünftigen abwichen. Um die Skylla zu vermeiden fiel man allgemein in die Charybdis.

Betrachten wir zunächst die Askese des Fastens und des Speiseverbotes.

Im 4. und 5. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung gab es Asketen, die gekochte Speisen verabscheuten und lange Zeit oder gar ihr Leben lang sich ausschließlich von Gras, Kräutern, Baumfrüchten, rohen Getreidekörnern usw. ernährten. Jakob von Nisibis war einer dieser »Omophagen«. Eine andere Spezies dieser Narretei wurde von den »Krithophagen« repräsentiert, sonderbaren Heiligen, die nur von in Wasser aufgeweichter Gerste oder, wie Eusebius, von entsprechend präparierten Bohnen oder Kichererbsen lebten. In diese Kategorie gehört auch die Linsenesserin Domnina. Noch weiter in der Frömmigkeit des Magens bzw. im »Vergnügen, an Dingen, welche wir nicht kriegen«, um mit Busch zu sprechen, gingen die Hungerkünstler Markianos, der das ganze Jahr hindurch nur einmal täglich aß, oder Symeon Stylites der Ältere (bevor er seine Säule bestieg) und die Beröenserinnen Marana und Kyra, die bald das 40tägige Fasten Christi nachahmten, bald das dreiwöchige Daniels. Den Rekord aber stellt Elpidius auf, der 25 Jahre hindurch nur an Samstagen und Sonntagen aß oder gar der fromme Johannes der — wer's nicht glaubt, bezahlt 'nen Taler — eine Reihe von Jahren nur von der Eucharistie lebte. Allerdings verwandte man damals zu diesem Zweck Brot statt Oblaten.


Seite 47Daß ein solches Leben nicht gerade die Disposition zu den Freuden der Liebe steigert, ließe sich eigentlich annehmen. Das Verhalten der Einsiedler widerspricht dem aber. Wie ließe es sich sonst verstehen, daß Evagrius nicht nur auf geistige Getränke verzichtet, sondern sogar seine Schüler vor dem Wassertrinken warnt, da es »majores phantasias generat et largiora daemonibus receptacula praebet«. Als diesen Asketen einst der Dämon der Unkeuschheit peinigte, sprang er zur Winterszeit in einen Brunnen und mußte zur Kühlung seiner Glut dort die ganze Nacht zubringen. Was diesen Frommen an Intelligenz gebrach, scheint demnach durch ihre »Männlichkeit« reichlich wettgemacht worden zu sein[1]!


Die Askese der esoterischen Manichäergemeinde, des Ordens der »Wahrhaftigen« oder »Erwählten«, bestand nach den übereinstimmenden Angaben der Kirchenväter, wie der orientalischen Quellen vor allem in der Übernahme der »drei Siegel« (signacula). Das sind: 1. die Enthaltung des Mundes von jeder Art unreiner Speise und unreiner Worte (signaculum oris). 2. Die Enthaltung der Hände von jedweder die Lichtwelt schädigenden Beschäftigung, namentlich vom Abbrechen von Baumfrüchten usw. (signaculum manum), 3. Die Enthaltung des Busens von aller sinnlichen Unlauterkeit, besonders allem Geschlechtsverkehr, auch der Ehe (signaculum sinus). Die Mundversiegelung verpflichtete den vollkommenen Manichäer zur Vermeidung nicht nur jeglichen Fleischgenusses, Seite 48sondern auch aller nicht reiner Vegetabilien. Nur »reine« Pflanzenkost bestehend aus Melonen, Öl und anderen (angeblich an Lichtbestandteilen besonders reichen) Baumfrüchten war gestattet. Getreideprodukte, namentlich Brot, durfte von ihnen nur ausnahmsweise genossen werden und auch dann war es keinesfalls zulässig, daß sie es selbst zubereiteten oder brachen. Die manichäischen Laien hatten keine so strengen Kostgesetze, immerhin mußten sie durch die Fürsprache eines »Elektus« göttliche Verzeihung erwirken. Der Elektus redete das ihm überreichte Brot, um seine Unschuld an dessen Zubereitung zu beteuern, folgendermaßen an: »Ich habe dich nicht geschnitten, nicht gemahlen, nicht geknetet, nicht in den Backofen gelegt, sondern ein anderer hat das getan; ich esse dich ohne Schuld usw.« Übrigens galt ihnen die Tötung von Tieren als noch schlimmeres Vergehen, als diese Pflanzenverletzungen, weil die Tiere dämonischer Abkunft seien, ihre Schlachtung also einen Eingriff ins Reich der Dämonen bedeute. Auch die Bereitung und der Genuß von Wein war ein Kapitalverbrechen, denn der Wein sei die Galle des Fürsten der Finsternis.

Die Beschränkungen des »Händesiegels« fallen weniger unter den asketischen Gesichtspunkt, als unter den einer abergläubigen Reinlichkeitsobservanz. Die Busenversiegelung aber war eine Maßnahme, die die »Erwählten« zwar in den Augen derer, die nicht alle werden, zu höheren Wesen stempelten, im übrigen aber keine größere Torheit forderte, als die Mönchs- und Nonnenorden bis zum heutigen Tage, ja als die Kirche von ihrem gesamten Klerus[2].

Seite 49Das Fastenverbot, das ja bekanntlich im ganzen Mittelalter und zum Teil heute noch bestand, wurde besonders in Frankreich mit außerordentlicher Strenge gehandhabt. Wie Bodin erzählt (Démon des sorciers, p. 216), ließen die Zivilgerichte von Angers im Jahre 1539 diejenigen, die des Fleischgenusses am Freitag überführt waren, lebendig verbrennen, wenn sie ohne Reue blieben, aber aufhängen, wenn sie bereuten[3].

Diese Zwangsmaßregeln beweisen zur Genüge, wie wenig bereitwillig man es handhabte. Auf die einfältigen Spitzfindigkeiten es zu umgehen — daß man etwa den Biber zu den Fischen rechnete — sei nur andeutungsweise hingewiesen.

Die Fastenaskese wird noch heute in alter Stärke in der griechisch-orthodoxen Kirche gehandhabt. Einige an der Sonne gedörrte Baumfrüchte mit etwas Brot und Wasser bilden die einzige Kost für die strenger lebenden Athos-Asketen. Dabei wohnen sie in finsteren Schluchten unter elenden Obdächern von Lehm, Baumzweigen usw. Ein gewissenhafter anatolischer Christ hat sich im Jahre mindestens an 180 Tagen des Fleischgenusses zu enthalten, ja an ungefähr 140 Tagen darf er auch keine Fische genießen. Im orthodoxen Rußland aber hat für die strengeren Fastenzeiten das Priestertum eine Art Überwachungsrecht sogar über die Ärzte. Nur auf Grund besonderer vom Popen ausgestellter Erlaubnisscheine dürfen den Kranken dann kräftigere Speisen, wie Fleisch, Fleischbrühe, Eier, Butter usw. ärztlich verordnet werden[4].


Seite 50Geradezu wahnwitzig ist der Kampf, den der Gläubige gegen die Sinnenlust führen muß. Zugegeben, daß sie da und dort die Gedanken von Wichtigerem und Höherem ablenken mag, so lehrt doch gerade die Geschichte der Asketen die Unmöglichkeit oder doch Unzweckmäßigkeit dieses Ringens mit einer Naturgewalt. Mit etwas mehr Intelligenz begabt, hätte der Asket hie und da der Natur nachgegeben, statt vor unbefriedigter Sinnlichkeit keinen anderen Gedanken fassen zu können.

Makarius, der Lehrer des Evagrius, wurde einst derart vom Dämon der Wollust geplagt, daß er sich nur durch eine ganz erleuchtete Kriegslist helfen konnte: er hielt sich sechs volle Monate hindurch splitternackt in einer Sumpfgegend seiner Wüste auf, bis die Stechmücken seinen Körper bis zur Unkenntlichkeit zugerichtet hatten und man ihn, über und über verschwollen und wie ein Aussätziger aussehend, nur mehr an seiner Stimme erkannte.

Ammonios mußte auch zu einer Gewaltkur greifen, um seiner Sinne Herr zu werden. Sobald er ein menschliches Rühren verspürte, verbrannte er sich bald an diesem, bald an jenem Gliede. Daß sein Körper mit Brandmalen über und über bedeckt war, läßt Schlüsse auf sein Innenleben zu.

Kein Wunder, daß diese Männer im wahrsten Sinne des Wortes — hatten sie doch schon in der Einsamkeit ihrer Einsiedelei genug auszustehen — den Anblick eines weiblichen Wesens nicht ertragen konnten. So riß einer der Altväter Cassians, Paulus mit Namen, beim Anblick einer Frau plötzlich aus, als würde er von einem Löwen verfolgt. Die Beschaffenheit der Seite 51Frau spielte gar keine Rolle. Diese armen, an Satyriasis leidenden Trottel — denn wie ließe sich ihr Verhalten anders als durch diese Krankheit erklären? — wurden sogar durch den Anblick der eigenen Schwester in Wallung versetzt. Ein gewisser Pior mußte erst von seinem Bischof den strikten Befehl erhalten, seine Schwester aufzusuchen. Er kürzte aber den Besuch möglichst ab, betrat nicht einmal ihr Haus, sondern stellte sich ihr nur auf der Türschwelle zu kurzer Betrachtung vor. Dann kehrte er spornstreichs in seine Zelle zurück.

Wie doch nichts erfunden wird, bevor sich das Bedürfnis dazu einstellt! Was hätte man damals mit Yohimbin angefangen!

Die weiblichen Reize wirkten ja sogar noch im Grabe! Wenigstens existiert eine Legende vom keuschen Abte Thomas — wie der gute Mann zu dem Epitheton ornans keusch kommt, wird ihm wohl selbst ein Rätsel sein! — dessen Gebeine noch im Grabe keine weibliche Leiche neben sich dulden konnten[5]!

Der Geist dieser Heiligen muß auch in den frommen Leuten in Schweden gewirkt haben, als sie die Unterdrückung von Linnés System forderten, weil es sich auf die Entdeckung der Geschlechter der Pflanzen gründe und demnach darauf berechnet sei, die Einbildung der Jugend zu erhitzen[6]!

Gegenüber den oben genannten, recht unbequemen Gewaltkuren, ist entschieden die folgende Form der Askese geschmackvoller oder doch amüsanter.

Evagrius schildert sie mit Bewunderung: gewisse Mönche in Palästina seien durch »ein ganz vortreffliches und göttliches Leben« so sehr Herr ihrer Seite 52Leidenschaften geworden, daß sie gewöhnt waren, mit den Frauen zusammen zu baden. Denn weder der Blick, noch die Berührung, noch die Umarmung einer Frau konnte sie in ihren natürlichen Zustand wieder zurückfallen lassen. »Unter Männern wollten sie Männer, unter Frauen Frauen sein« (Hist. Eccl. I, 21).

Damals wohnten auch Jungfrauen und Mönche oft in demselben Hause beisammen und erklärten mit einer Heuchelei von seltener Kühnheit, sie hätten ihre natürlichen Leidenschaften so beherrscht, daß sie in Keuschheit dasselbe Bett teilten[7].


Die, eingangs erwähnte, an sich sicherlich ganz berechtigte Lehre, daß man sich nicht durch persönliche kleinliche Rücksichten, vermeidbare Schwächen, dazu verleiten lassen darf, große Ziele aufzugeben, daß man nicht früh genug die jugendliche Sentimentalität abstreifen soll und, ohne sich über das Notwendige hinaus zu verhärten, gegen Heimweh und Trennungsschmerz schon deshalb ankämpfen muß, weil es unvermeidliche Übel sind, Tatsachen, mit denen der Weise fertig werden muß, führten zu recht widerlichen Konsequenzen bei unseren Asketen. Hartherzigkeit, Unempfindlichkeit gegen menschliche Leiden, Undankbarkeit gegen erwiesene Wohltaten gehören wohl sicherlich zu den abstoßendsten menschlichen Fehlern. Gewiß muß der Feldherr, ohne sich durch das Jammern der Verwundeten, das Röcheln der Sterbenden erweichen zu lassen, unter Umständen Tausende opfern. Er hat das größere Ziel, die Erhaltung des Vaterlandes, im Auge. Weichen Regungen Seite 53hier nachzugeben, die Schonung von Tausenden auf dem Schlachtfelde mit der Auslieferung von Hunderttausenden daheim an einen siegreichen Gegner zu erkaufen, wäre eine Pflichtwidrigkeit. Sicherlich muß der Operateur ohne Rücksicht auf die Schmerzen des Patienten seine blutige Kunst ausüben, wenn es Höheres gilt, die Erhaltung des Lebens. Der Missionar darf nicht an die Lieben daheim denken, so wenig wie der Forschungsreisende, wenn er in die Ferne zieht zur Ausübung seines schweren und entsagungsvollen Berufes. Höhere Rücksichten müssen eben immer und überall den minder hohen vorangestellt werden. Zu den schwierigsten im Leben zu erlernenden Künsten gehört sicherlich, sich jederzeit über das, worauf es ankommt, über das Essentielle, klar zu sein.

Sonach kann man es auch gewiss verstehen und gutheißen, wenn Christus seinen Jüngern anbefiehlt, ihre Familien zu verlassen, um ihm in die Fremde zu folgen. Zu Hause sitzend, hätten sie eben die Lehre unmöglich verbreiten können. Was aber wurde aus diesem in der Natur der Sache liegenden Gebot?

Was macht die Dummheit aus ihm?

Wer zweifeln sollte, daß die Hartherzigkeit kirchliches Gebot war, wird eines Besseren belehrt durch die Geschichte, die Gregor der Große (Dial. II, 24) erzählt: Ein Knabe war in ein Kloster eingetreten. Die Liebe zu seinen Eltern übermannte ihn aber derart, daß er eines Nachts sie heimlich besuchte. Er starb jedoch am Tage seiner Rückkehr, und als er begraben wurde, weigerte sich die Erde, einen so schändlichen Verbrecher aufzunehmen. Seine Leiche wurde wiederholt aus dem Grabe geschleudert Seite 54und konnte erst in Frieden ruhen, als der heilige Benedikt ihr das Sakrament auf die Brust gelegt hatte[8].

Das ist ja natürlich nur eine Legende, aber eine mit recht trauriger Moral! Welche Unsumme von Herzensroheit steckt in ihr! Aber diese Roheit ist lediglich eine Ausgeburt der Dummheit. Als ob die kindliche Pietät des Knaben ein dauerndes Hindernis seines neuen Berufes gewesen wäre! Und wie mußte diese brutale Dummheit auf das Volk wirken!

Doch wir brauchen uns keineswegs an Legenden zu halten. Die Geschichte der »Heiligen« bietet genug Material. Und das Traurige ist, daß es sich nicht etwa um menschliche Schwächen handelt, die einfach registriert werden, sondern um vorbildliche Taten!

Das möge aus folgendem hervorgehen:

Der uns schon bekannte Wüsteneinsiedler Evagrius erhielt nach geraumer Zeit Briefe von seinen Eltern. Da er es aber nicht ertragen konnte, daß seine Gedanken durch Erinnerung an diejenigen, die ihn liebten, gestört wurden, warf er die Briefe ungelesen ins Feuer.

Der heilige Pömen und seine sechs Brüder hatten ihre Mutter verlassen, um ein asketisches Leben zu führen. Die alte, durch Krankheit gebeugte Mutter ging nun, uneingedenk des Undankes ihrer Söhne, allein in die Wüste, um die zärtlichgeliebten Kinder noch einmal zu sehen. Sie erblickte sie gerade, als sie aus ihrer Zelle in die Kirche gehen wollten. Sie liefen aber sofort in die Zelle zurück und einer der Söhne warf die Türe vor ihr zu, so daß sie draußen Seite 55bleiben mußte und bitterlich weinte. Pömen kam nun an die Türe, öffnete sie aber nicht und sprach: »Warum weinst und schreist du so sehr, bist du nicht schon genug vom Alter geplagt?« Als sie die Stimme ihres Sohnes erkannte, antwortete sie: »Es geschieht, weil ich euch, meine Söhne, zu sehen verlange. Was könnte es euch schaden, wenn ich euch sehen würde? Bin ich nicht eure Mutter? Säugte ich euch nicht? Ich bin jetzt eine alte und verwelkte Frau, aber der Ton deiner Stimme hat mein Herz so erregt, daß ich mein Verlangen, euch zu sehen, nicht bewältigen kann.« Die heiligen Brüder weigerten sich trotzdem, die Türe zu öffnen. Sie sagten der Mutter, sie würde sie nach dem Tode sehen, und der Lebensbeschreiber erzählt, sie sei dann fortgegangen, zufrieden mit dieser Aussicht[9].

So ehrt man seine Eltern.


Ein gewisser Mutius verließ einst in Begleitung seines einzigen Kindes, eines achtjährigen Knaben, sein Besitztum und bat um Aufnahme in ein Kloster. Die Mönche willfahrten seiner Bitte und begannen damit sein Herz zu disziplinieren. »Er hatte bereits vergessen, daß er reich war; er mußte nunmehr vergessen lernen, daß er Vater war,« sagt Cassian, der uns die erbauliche Geschichte überliefert. Man trennte also das Kind von ihm, hüllte es in schmutzige Lumpen, schlug es, trat es mit Füßen und mißhandelte es auf jede Art. Tag um Tag mußte der Vater sehen, wie das Kind sich vor Kummer verzehrte. »Aber,« sagt der bewundernde Biograph, »obgleich er dies Seite 56Tag für Tag sah, war doch die Liebe zu Christus und zur Tugend des Gehorsams so groß, daß das Vaterherz starr und unbewegt blieb.« »Er dachte wenig an die Tränen seines Kindes, er war einzig um seine eigene Demut und Vollkommenheit in der Tugend bekümmert.« Endlich befahl ihm der Abt, das Kind zu nehmen und in den Fluß zu werfen. Er ging ohne Murren und ohne sichtbaren Schmerz, das Gebot zu vollziehen. Erst im letzten Augenblicke traten die Mönche dazwischen und retteten das Kind am Rand des Flusses. Mutius erlangte später eine hohe Stellung unter den Asketen und wurde mit Recht als einer betrachtet, der das Gemüt eines Heiligen zu großer Vollkommenheit entfaltet hatte.

Ob die Geschichte wahr ist oder nicht, ist wie bei fast allen Heiligengeschichten recht gleichgültig und von minimaler Bedeutung gegenüber der Tatsache, daß die damalige Kirche diese Herzlosigkeit und alles menschliche Gefühl mit Füßen tretende Verhalten lobte. Was hat doch die Dummheit der Askese und die um jeden Preis Gehorsam fordernde klerikale Herrschsucht aus dem einfachen »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« gemacht!

Daß jemand aus Gehorsam um ein Haar zum Mörder wird, was nicht zum mindesten die spätere Heiligsprechung veranlaßt, ist durchaus kein vereinzelter Fall.

Einst kam ein Thebaner zum Abte Sisös und bat ihn Mönch zu werden. Der Abt fragte ihn, ob er Angehörige hätte. Auf die Antwort »einen Sohn« entgegnete der Abt, »Nimm deinen Sohn und wirf Seite 57ihn in den Fluß und dann kannst du ein Mönch werden«. Der Vater hätte den Befehl vollzogen, wenn nicht im letzten Augenblicke ein von Sisös abgesandter Bote ihn widerrufen hätte[10].

Die Beispiele ließen sich ins Unendliche vermehren. Verlassen wir aber lieber diese häßlichen Bilder, jedoch nicht ohne noch eines hinzuzufügen, das Zeugnis ablegt von der Skrupellosigkeit der Mittel, deren sich »Christen« zur Erreichung ihrer Zwecke bedienten und von der Herzensroheit, die sich dabei offenbart.

Der fromme Kirchenvater Tertullian verbot den Gläubigen den Besuch der Theater, dafür stellte er ihnen aber ein desto herrlicheres Schauspiel in Aussicht, nämlich — die Todesqualen der Sünder in der Hölle. »Von welcher Größe wird dieses Schauspiel sein? Wie werde ich es bewundern? Wie werde ich lachen? Wie werde ich mich freuen? Wie werde ich frohlocken, wenn ich so viele und so große Könige, von denen es heißt, sie seien in den Himmel aufgenommen worden, mit Jupiter in eigener Person und denen, die für ihn zeugten, in der tiefsten Finsternis werde jammern sehen! Dann werden die Verfolger des Namens unseres Herrn in einem grausameren Feuer schmelzen, als das war, das sie angezündet hatten für die Christen ... Dann werden die Tragödienspieler in ihrem eigenen Schmerz größere Weherufe ausstoßen, als einst auf der Bühne. Dann werden die Schauspieler erst richtig geschätzt werden können dank der größeren Geschmeidigkeit, die ihnen das Feuer verleiht. Dann wird man den Wagenlenker erblicken ganz feuerrot in feurigem Wagen; dann werden die Athleten ein Schauspiel bieten, aber nicht wie sie gymnastischen Seite 58Übungen, sondern dem Feuer erliegen usw.« Der Mann, der ein solch glänzendes Zeugnis seiner Menschenliebe ablegt, schließt das 30. Kapitel seiner Schrift de Spectaculis mit den Worten: »Wenn du solche Schauspiele betrachtest, darüber in ausgelassene Freude gerätst, was kann dir dagegen ein Prätor oder Konsul, ein Quästor oder hoher Priester bei all seiner Freigebigkeit bieten[11]


Welch ein Geist, der daraus atmet! Und auf diese Weise wollte Tertullian zur Religion der Nächstenliebe erziehen!

Gegen diese häßlichen Bilder von mit Dummheit gepaarter Roheit wirken körperliche Peinigungen noch harmlos.

In ihnen war man recht erfinderisch. Die Übungen hatten keineswegs nur den Zweck, den Leib abzutöten, als vielmehr dazu nach den höheren durch Nachahmung der Leiden Christi zur Entsühnung der Menschheit beizutragen.

Die ganze Lehre vom Sühnetode Christi ist ja merkwürdig genug. Daß Christus sterben mußte, wenn seine Religion nachhaltig auf die Gemüter wirken sollte, ist klar. Die tiefe Tragik seines Martyriums war eine Voraussetzung der weltgeschichtlichen Bedeutung seines ganzen Auftretens. Das hat aber nur sehr wenig mit der kirchlichen Sühnelehre zu tun, in der Gott-Vater eine merkwürdige Rolle zugewiesen ist. Machen wir uns die alte Opferlehre zu eigen, daß man das Beste seiner Herde, seines Besitzes dem Gotte opfert, um ihn günstig zu stimmen, so können Seite 59wir ja schließlich auch verstehen, daß der Asket das Beste was er hat diesem Zwecke widmet, bzw. das tut, was ihm am meisten Mühe macht oder am schmerzlichsten ist. Nur was an dieser Ansicht christlich ist — von der Naivität des Glaubens ganz abgesehen — will nicht recht einleuchten.

Gottes Hinopferung seines Sohnes ist entschieden schwieriger zu begreifen. Ein Vater ist beleidigt worden, was Gottes Kränkung durch die sündige Menschheit entspricht. Um nun an den Beleidigern eine edle Rache zu nehmen, bringt der Vater seinen Sohn um, bzw. — was bei Gottes Allmacht auf das Gleiche hinaus läuft — er duldet, wie sein Sohn, noch dazu der einzige, umgebracht wird. Dadurch ist das Verbrechen der Beleidiger gesühnt. Gewiß, eine merkwürdige Logik, die wohl niemand ins Praktische umsetzen möchte.

Doch sei dem wie ihm wolle: die Asketen glaubten — und in den Mönchsorden glaubt man es heute noch — daß die Selbstpeinigung nicht nur Wert habe als Disziplinierungsmittel, sondern auch dazu beitrage, den kirchlichen Gnadenschatz zu vermehren. Je mehr Übles sich also ein solcher Heiliger zufügt, desto größere Verdienste erwirbt er sich um die Christenheit. Wir können diese Anschauung nicht gerade als ein Wunder der Intelligenz betrachten. Wenn wir aber in einem späteren Kapitel sehen werden, welches Unheil sie im Volke anrichtete, dann werden wir sie sicherlich nicht glimpflicher beurteilen.

Da man sich nun auf normale Weise die nötige Pein nicht beibringen kann, verfielen ingenieuse Köpfe auf die Ausbildung einer besonderen Technik, und Seite 60man muß ihnen lassen, daß sie dabei Erfolg hatten. Wer wird das bestreiten wollen, wenn er folgende erbauliche Geschichte hört?!

Ein gewisser Dominicus Loricatus hatte die Spezialität, als Stellvertreter von anderen gewisse Bußzeiten durch von Geißelschlägen begleitetes Psalmensingen zu absolvieren. So absolvierte er beispielsweise hundert Bußjahre, indem er zwanzig von der entsprechenden Zahl Geißelhieben begleitete Psalter rezitierte. Auf diese 20 Psalter kamen 300000 Geißelhiebe, die er sich während der sechs Tage, die diese Prozedur dauerte, beizubringen hatte. Damiani, der uns von diesem sonderbaren Heiligen berichtet, erläutert den Vorgang folgendermaßen: »Da 3000 Geißelschläge nach unserer Regel ein Bußjahr ausmachen, und, wie es oft erprobt ist, beim Hersingen von 10 Psalmen 1000 Hiebe stattfinden, so ergeben sich für die Disziplin eines Psalters (also für 150 Psalmen begleitet von 15000 Hieben) fünf Jahre Buße; und wer 20 Psalter mit der Disziplin hersingt, kann überzeugt sein, 100 Bußjahre vollgemacht zu haben« (20mal 15000=300000). Welche Mathematik der Buße! Loricatus konnte es aber auch schneller, als in sechs Tagen. Er soll einmal binnen 24 Stunden über 12 Psalter mit den obligaten Hieben erledigt und damit den Beweis geliefert haben, daß er die 20 Psalter nötigenfalls schon binnen zwei Tagen zu absolvieren imstande war. Einst erledigte er während einer einzigen Quadragesima, ohne die 40 Tage ganz zu gebrauchen, das Zehnfache des obigen Betrages, also 1000 Bußjahre, mittels Absingen von 200 Psaltern, und indem er sich drei Millionen Geißelhiebe eigenhändig versetzte. Hierbei Seite 61pflegte er den ganzen Körper zu geißeln mittels einer Vereinigung der disciplina sursum (betreffend Kopf und Rücken) und der disciplina deorsum (betreffend Hüften und Beine). Weil die anfänglich von ihm viele Jahre lang benutzten Ruten nicht genug Blut fließen ließen, ließ er gegen sein Lebensende an deren Stelle die stärker schmerzenden und verwundenden Geißelriemen oder Peitschen treten[12].

Wie sein leuchtendes Vorbild auf die, welche nicht alle werden, wirkte, werden wir in anderem Zusammenhange kennen lernen.


Doch die Selbstgeißelung wollte anderen Frommen nicht genügen. Sie zerbrachen sich den Kopf, wie sie sich auf noch wirksamere Weise Unannehmlichkeiten zur höheren Ehre Gottes zufügen und damit der Menschheit noch dienlicher sein könnten. Und siehe da: ihr Eifer wurde von Erfolg gekrönt! Da war besonders einer, der es auf diese Weise zu einer gewissen Unsterblichkeit in der Geschichte der menschlichen Narrheit bringen durfte. Denn seiner Askese, deren Neuheit, wenigstens für das Abendland, noch ein gewisser Einschlag von Sensation eine pikante Note verlieh, blieb die Nachahmung ähnlich hochstrebender Seelen nicht versagt.

Der Eremit Symeon war selbst für seine Zeit ein wunderlicher Heiliger. Als frommer Hirtenknabe war er fürs Mönchleben erzogen worden und hatte bereits während eines dreijährigen Einsiedlerlebens zu Telanissos beispiellose Proben von Selbstkasteiungen abgelegt, mit Stricken um den Leib, mit Ketten, Fasten Seite 62bis zu 40 Tagen und anderem. Aber das alles genügte ihm nicht. Er wollte dem verhaßten Getriebe dieser sündigen Welt möglichst fern bleiben und erreichte diesen seinen Zweck auf die einfachste und genialste Weise: Zuerst stellte er sich auf eine Säule von 6 Ellen Höhe, dann wählte er eine doppelt so hohe, später eine von 18 Ellen um endlich eine von fast 40 Ellen zu dauerndem Wohnsitz zu erküren. Hier führte er 36 Jahre lang ein luftiges Andachtsleben, um es um das Jahr 460 zu beschließen. Sein Leben machte Schule und es soll noch gar nicht so lange her sein, daß der letzte dieser Säulenheiligen seine Seele — Geist hatte er vermutlich nie besessen — aushauchte[13].

Ein Nachahmer dieses Säulenasketen, Symeon der Jüngere († 596) soll gar 68 Jahre in der Höhe zugebracht haben. Tatsächlich konnten solche Drohnen mit sich auch gar nichts Besseres anfangen, als sich möglichst aus jeder menschlichen Gemeinschaft auszuschließen.


Betrachten wir noch einige Formen dieser erfindungsreichen Männer Gottes! Da war das ewige Schweigen, heute noch von den Trapisten geübt, jeglicher Verzicht auf Körperpflege und Waschwasser, Schlafentziehung usw.

Merkwürdiger als dauerndes Schweigen — schließlich das klügste, was diese Geisteshelden tun konnten — und als die anderen Formen der Selbstpeinigung ist die Askese des ewigen Weinens, die seit den Zeiten Justinians modern wird. Reichlichstes Seite 63Tränenvergießen schien diesen Männern — einem Isidor von Melitene, Paul von Anarzarbus, Georg von Skythopolis u. a. — zum höchsten geistlichen Lebensbedürfnis unerläßlich. Köstliches wird da vom Abte Joseph von Bêth Abhê berichtet: so oft er Gras und Blumen sah, konnte er seinen Tränenstrom kaum zurückhalten, weil ihm Jesaj. 40, 6 und 1. Pet. 1, 24 in den Sinn kamen[14]!

Übrigens war die Kunst, immer weinen zu können, wann man wollte, die gratia lacrimarum, das ganze Mittelalter hindurch hoch geschätzt.

Wohl die armseligste Art der Askese ist die, welche die Freude an der Natur in Acht und Bann tut. So wird von einem Mönch in den ersten christlichen Jahrhunderten erzählt, daß er sich, sooft er in den Garten ging, das Gesicht verhüllte, damit der Anblick der Bäume nicht seinen Geist störe[15]!

Welch trauriger Tropf!

Aber gerne geben wir zu, daß jeder Grashalm, jedes Sandkörnchen mehr Reiz bietet, als die damalige Art über religiöse Gegenstände nachzudenken. Wem das vorige Kapitel diese Erkenntnis nicht beigebracht hat, dem ist nicht zu helfen.

Übrigens ist man noch im 16. Jahrhundert auf den Pfaden des obigen idiotenhaften Mönches gewandelt, wie ja die Dummheit mit der Wahrheit das gemeinsam zu haben scheint, daß beide unsterblich sind.

Der Jesuit Petrus Canisius warnte davor, die Schönheit einer Gegend zu bewundern, da aus zu großer Freiheit der Seele Gefahren entstehen. Das Seite 64Leben ist ein Kampf; bestehen kann ihn nur, wer mit scheuem und gesenktem Blick, unter Abtötung und Kasteiung, auf dieser Erde wandelt. Der gefährlichste Gegner der Seele ist der Leib, an den sie gekettet. Das vornehmste Werkzeug des Teufels das Weib, die personifizierte Verführung, gegen die nur die äußerste Vorsicht schützen kann. »O wie große Narren sind diejenigen, die aus diesem Jammertal ein Paradies machen wollen!« Der Mensch darf sich an nichts freuen und ergötzen, da alles ein Werk des Teufels sein könnte[16].

Hier sehen wir noch einmal in der einfachsten Formel dieselben Gedankengänge, die zu Resultaten führten, wie wir sie oben kennen lernten! So wenig vermag die Dummheit Mittel und Absicht zu unterscheiden! Aus dem berechtigten Bestreben durch Bekämpfung der Sinnenlust Kräfte für höhere Aufgaben freizumachen, wird ein unausgesetztes Ringen mit der Sinnlichkeit, ein Kampf, der für nichts anderes mehr Kräfte frei läßt. Aus dem Wunsche, sich abzuhärten, an Entbehrungen und Schmerzen zu gewöhnen, um dadurch nicht durch kleine Unbequemlichkeiten sich ständig den Lebensgenuß zu trüben, also aus der Absicht einer Steigerung des Lebensgenusses, wird dessen völlige Unterdrückung. Und endlich führte Christi Lehre, die durch den Auferstehungsglauben die Todesfurcht bekämpfen sollte, also im eminentesten Sinne dazu bestimmt war, das Leben freudig zu machen, da es den Gedanken an dessen Ende, das ja manchem Hasenfuß jedes Mahl gleich dem Schwerte des Damokles vergällen mag, fortnahm, dazu, daß die Menschen ein solches Dasein Seite 65führten, daß sie den Tod nur als willkommene Erlösung betrachten konnten.

So gewaltig ist die Macht der Dummheit!

Nun wollen wir noch zum Schlusse dieses Abschnittes an einer Klosterregel zeigen, wie alle die oben angeführten Torheiten zu einem System vereint mit Hinzunahme der blödesten Gebetsaskese dazu bestimmt waren, das ganze Leben auszufüllen und dadurch zu zerstören. Wie diese Denkweise aus Leuten, die vielleicht Brauchbares hätten leisten können und jedenfalls hinter dem Pflug oder in der Spinnstube auch geleistet hätten, Drohnen erzog, denen als besonderes göttliches Gnadengeschenk eine so groteske Dummheit verliehen war, daß sie nicht nur meinten ein Gott wohlgefälliges Werk zu tun, ihre Seele auf unermeßliche himmlische Freuden vorzubereiten, sondern auch noch die Sünden der Menschheit abzubüßen sich berufen fühlten.

Bei Aufhebung der Klöster, und vielleicht da und dort noch heute, war der Tageslauf einer Nonne, wenigstens bei den Klarissinnen in München, folgender:

Nachts um 1/212 Uhr wird die Nonne geweckt, punkt 12 Uhr beginnt die Matutin, die fünfviertel Stunden, an Festtagen aber volle zwei Stunden dauert, weil dann die Laudes und das Te Deum gesungen werden. Nach 2 Uhr müssen alle Nonnen wieder in ihren Betten liegen und zwar bis 51/4 Uhr. Dann werden alle geweckt und müssen das hochwürdigste Gut besuchen.

Um 3/46 Uhr gibt die Priorin das Zeichen zur Meditation (Betrachtung). Sie geht sogleich von Zelle Seite 66zu Zelle um nachzusehen, ob jede Nonne vor ihrem Altärchen kniet und ihren Betrachtungen obliegt. Diese dauern eine halbe Stunde, an Feiertagen aber eine viertel Stunde, weil die Prim um 6 Uhr beginnt.

Die Prim fängt täglich um ein Viertel nach 6 Uhr an, an Sonn- und Feiertagen aber pünktlich um 6 Uhr. Nach derselben wird in das Kapitel gegangen, wo die Abgestorbenen vorgelesen und für sie das Seelen-Offizium (Officium de profundis) gebetet wird.

Die Kapiteltage sind Montag, Mittwoch und Freitag, ferner Samstag, falls an diesem Tage nicht gebeichtet wird.

Das Zeichen zur ersten heiligen Messe wird mit der Glocke um Viertel nach 7 Uhr gegeben, an Sonn- und Feiertagen aber pünktlich um 7 Uhr.

Um 8 Uhr ist die Terz, die während des ganzen Jahres gesungen wird, darauf folgt die zweite heilige Messe und darauf werden die Sext und die Non psalliert. Hierauf kann jede Nonne bis um 101/4 Uhr ihrem Amt oder Arbeit nachgehen oder in ihrer Zelle arbeiten.

An Sonn- und Feiertagen tritt insofern eine Änderung ein, als nach der Terz eine Predigt mit Hochamt gehalten wird. An den Ordensfesten wird nach dem Gottesdienst eine Exhortation im Speisesaal vom Beichtvater gehalten. An den Festtagen werden die Laudes, Prim, Vesper und Komplet gesungen, während an den Werktagen die Äbtissin oder Priorin das Recht hat von einer gesungenen Vesper zu dispensieren und sie nur beten zu lassen.

Um ein Viertel nach 10 Uhr wird das erste Glockenzeichen zu Tisch gegeben, worauf jede Nonne Seite 67in ihrer Zelle das »Partikular-Examen« macht, das die Priorin, wie bei der Meditation, von Zelle zu Zelle wandernd kontrolliert. Nach Beendigung dieses Examen besuchen alle das hochwürdigste Gut und begeben sich dann in den Speisesaal.

Um 1/211 Uhr setzen sich alle an die Tische und bleiben dort eine oder höchstens fünfviertel Stunden lang. Während des Mittagsmahles werden die Ordensregeln, die Lebensgeschichten der Heiligen und auch Predigten gelesen.

Wird nicht vom Lesen dispensiert, was einmal die Woche geschieht, dann muß eine Frau bei Tisch bedienen. In letzterem Falle darf nur eine Viertelstunde lang gelesen werden und die bei Tisch bedienende Frau wird von einer Schwester abgelöst.

Nach beendetem Mittagsmahl wird wieder das hochwürdigste Gut besucht und dann geht jede Nonne an ihr Amt oder ihre Arbeit.

An Fasttagen wird unter dem Beten des Psalmes Miserere nach dem Chor gegangen und dort das Tischgebet vollendet. Nach demselben nehmen die Nonnen ihr Tischzeug weg und verwahren es, während die jüngeren Frauen abnehmen und alles in Ordnung bringen.

Wenn eine lange Vigil gehalten wird, so fängt sie um 2 Uhr an, worauf die Laudes gesungen werden, die Vesper aber nur psalliert wird.

Alle Tage ist die Vesper gewöhnlich um 3 Uhr nachmittags.

An Sprechtagen dürfen die Klosterfrauen ohne besondere Anfrage bei der Priorin im Garten spazieren gehen, sooft sie Zeit haben, auch dürfen sie Seite 68im Winter im Winterrefektorium (Speisesaal) und im Sommer im Sommerrefektorium sich zur Arbeit versammeln und erhalten dann ihren Abendtrunk. An Fasttagen aber darf keine Frau im Garten spazieren gehen ohne besondere Erlaubnis der Priorin. Das gleiche gilt auch von der Versammlung im Refektorium. Eine solche Versammlung findet nachmittags von halb drei bis 3 Uhr statt, wenn die Äbtissin einen Abendtrunk bewilligt.

An den Muttergottestagen findet um 1/23 Uhr Prozession statt, danach musikalische Vesper nebst Litanei. Nach deren Beendigung ist bis halb 5 Uhr Gebetstunde.

Wird nur eine kurze Vigil gehalten, dann wird sie nach der Vesper psalliert. An allen Schweigetagen wird die Gebetstunde von 3/44 Uhr bis 1/25 Uhr gehalten und zwar von jeder Klosterfrau in ihrer Zelle. Die Priorin gibt hierzu das Zeichen und sieht in den Zellen nach. Im Winter, sowie an Beicht- und Kommuniontagen wird diese Gebetstunde im Chor gehalten.

Um 1/25 Uhr wird das erste Zeichen zum Nachtmahl gegeben, worauf das hochwürdigste Gut wieder besucht wird. An Schweigetagen wird um 3/45 Uhr, an den Sprechtagen um 5 Uhr zu Tisch gegangen.

An den Schweigetagen wird zweimal zu den besonderen Schweigestunden geläutet. Diese Stunden sind von 1-2 Uhr nachmittags und vom Abend 6 Uhr bis zum anderen Morgen nach der Prim. Binnen dieser Zeit darf niemand etwas sprechen.

An allen Beichttagen, dann an Sonn- und Feierabenden, ist die Gebetstunde zum zweiten Mal bis Seite 691/27 Uhr auf dem Chor und dann die Lektion im Konvent. Diese dauert eine halbe Stunde und auf sie folgt die Komplet.

Alle Nonnen müssen wöchentlich einmal beichten und kommunizieren, falls aber in eine Woche ein Feiertag fällt, so auch an diesem. Abwechslungsweise müssen aber alle Tage drei Nonnen beichten und die Kommunion empfangen.

Nach beendetem Komplet wird das nächtliche Examen eine Viertelstunde lang gehalten und zwar in der Zelle einer jeden Klosterfrau und unter der Kontrolle der Priorin. Hierauf wird das höchste Gut zum letzten Male besucht.

Um 8 Uhr abends müssen alle Nonnen in ihren Betten ruhen, was ebenfalls die Priorin kontrolliert. Sie sieht auch manchmal während des Schlafens nach und weckt diejenigen liebreich aus dem Schlafe, die allenfalls unanständig in ihren Betten liegen. Geschieht das bei einer oder der anderen Nonne öfters, so wird sie gebüßt.

Es war verboten im Bett auf dem Rücken zu liegen, vielmehr sollte die Nonne auf der rechten oder auf der linken Seite schlafen.

Der Gebrauch des Papiers auf dem Abort ist nicht erlaubt[17].

An Strafen gab es zur Ertötung der Fleischeslust — die schon dadurch bekämpft wurde, daß die Klarissinnen niemals Fleisch aßen — die große Disziplin, bestehend in 300 Geißelhieben und die kleine Disziplin mit 36 Geißelhieben. Außerdem wurde der stachliche Bußgürtel auf den bloßen Leib gelegt.

Außer den anbefohlenen Bußen war jede Nonne Seite 70gehalten bei Jahresanfang der Äbtissin schriftlich anzuzeigen, welche Bußen und guten Werke sie noch freiwillig auf sich nehmen wolle. Zur Einhaltung der freiwillig übernommenen Verpflichtungen war sie bei schwerer Sünde in ihrem Gewissen verpflichtet.

Das Formular einer solchen Anzeige lautete:

Ich nehme mir mit der Gnade Gottes vor, nebst der Verrichtung der sonst alle Jahre gewöhnlichen Gebete, Klosterandachten, Abstinenzen und Bußwerke in den Fasten

1. wöchentlich einmal die Bußpsalmen und die Litanei von allen Heiligen, auch einmal den Kreuzweg zu beten,

2. alle Mittwoch, Freitag und Samstag des Salates mich zu enthalten, wie auch mir einen kleinen Abbruch im Essen zu machen,

3. in jeder Woche an einem Tage den Bußgürtel zu tragen, alle 14 Tage die kleine, am heiligen Karfreitag aber die große Disziplin zu machen usw.

Außer den Fasten

1. inner- und äußerliche kleine Abtötungen,

2. alle 14 Tage einmal den Bußgürtel ein oder zwei Stunden lang zu tragen,

3. an gewöhnlichen Festtagen und jenen meiner besonderen Patrone die kleine Disziplin vorzunehmen usw.[18]


Übrigens leistete auch der Protestantismus bisweilen Erkleckliches auf dem Gebiete der künstlichen Lebensverschandelung.

So gab es Pietisten, die nicht nur Theaterbesuch, Seite 71weltliche Spiele und regelmäßigen Besuch von Wirtshän verboten, sondern auch das Tabakrauchen, den fröhlichen Trunk im Freundeskreise, ja man focht das Lachen und das Spazierengehen als mit dem christlichen Lebensernst unverträglich an. A. H. Francke aber verbot den Kindern sogar das Spielen, wenigstens in den Räumen des Schulgebäudes[19].

Seite 72III. Kapitel  Der Hexen- und Teufelswahn in der Mittelalterlichen Kirche 3z6g5g

Die moderne Weltanschauung betrachtet alles Geschehen als Naturgesetzen unterworfen. Überall herrscht die lückenlose Kausalität. Keine Ursache ohne Wirkung, keine Wirkung ohne Ursache und zwar eine Ursache, die natürlich ist und unter sonst gleichen Umständen genau dieselbe Wirkung hervorruft. Das Experiment des Naturforschers hat diese Weltanschauung zur notwendigen Voraussetzung. Denn welchen Wert hätte alles Experimentieren, wenn die Möglichkeit bestände, daß trotz genau gleicher Bedingungen die Wiederholung einer Untersuchung ein anderes Resultat lieferte? Kommt bei verschiedenen Versuchen nicht jedesmal genau dasselbe Ergebnis heraus, dann ist nach unserer Weltanschauung der einzig zulässige Schluß der, daß die Versuchsbedingungen eben doch nicht genau gleich waren, daß das Material geringe Differenzen aufwies, die Wärme verschieden war, die Versuchsdauer variierte und was noch dergleichen Möglichkeiten mehr sein mögen.

Was für den Physiker, Chemiker, Elektriker gilt, Seite 73hat auch seine Gültigkeit in allen anderen Naturwissenschaften, nur daß in einigen von ihnen — etwa in der Medizin — die Vorbedingungen des Experimentes nie mit der absolut erforderlichen Genauigkeit herstellbar sind, weil es sich eben um lebende Wesen handelt, die immer mehr oder minder voneinander abweichen. Sieht der Arzt einen Fall von Geisteskrankheit, so wird er keinen Augenblick zögern, die Ursache dafür im Inneren des Patienten, in seinem Gehirn zu suchen. Die krankhafte Störung des Gehirnes aber, deren Folge eben die Wahnerscheinungen sind, wird er je nachdem auf Alkoholmißbrauch, Lues, Verkalkung der Arterien oder sonst eine natürliche Ursache zurückführen. Was dem wissenschaftlichen Menschen als Ursache völlig fern liegt, was er als unmöglich abweist, ist das Wunder, d. h. die Durchbrechung der naturgesetzlichen Kausalität durch eine außer- oder übernatürliche Kraft, mögen wir sie nun Gott, Teufel oder Dämonen nennen.

Primitive Zeiten dachten anders und mußten auch anders denken. Gewiß hatte man in so und so vielen Fällen die regelmäßige Aufeinanderfolge bestimmter Vorgänge beobachtet und dies in einen Kausalzusammenhang gebracht; etwa die zunehmende Wärme im Frühling und die darauf zurückzuführende Entfaltung der Vegetation, oder die Einwirkung der Wärme auf den Aggregatzustand der meisten Stoffe u. a. m. Aber diese Beobachtungen waren nicht sehr zahlreich und die Interpretation sehr häufig irrig. Sah man z. B. den Mond in einer klaren kalten Winternacht, so folgerte man die Kälte aus seiner Einwirkung, während umgekehrt eine Folge der Kälte Seite 74und der dadurch verhinderten Nebelbildung seine größere Sichtbarkeit ist. Oder sah ein Naturvolk die Schmetterlinge in der größten Tageshitze am zahlreichsten fliegen, so folgerte es daraus, daß der Flug dieser Insekten die Hitze hervorrufe, um so mehr, als sie gegen Abend zugleich mit der Sonne verschwinden. So wurde der Schmetterling Herr des Tages und ihm eine wunderbare Macht beigelegt.

Die Folge der geringen Kenntnisse der Naturgesetze mußte sein, daß man überall, wo etwas nicht sofort erklärlich war, nicht nach ihnen suchte, da sie ja doch nur in den seltensten Fällen genügende Auskunft hätten geben können, sondern nach übersinnlichen Ursachen. Bald war es das unmittelbare Eingreifen Gottes, bald das des Teufels, seines Gegners, der in einer Welt, die lediglich nach gut und böse gewertet wurde, Urheber des letzteren sein mußte. Dazu kamen Zauberer und Hexen.

Das alles ist durchaus nicht dumm, sondern nur unwissend. Und es wird desto entschuldbarer, als die höchste Instanz, die Bibel, sowohl im Alten, als im Neuen Testament soundsooft von einem leibhaftigen Teufel spricht, wie von Dämonen, Engeln und Hexen.

Anders müssen wir diese naive Denkweise beurteilen zu einer Zeit, wo die Naturwissenschaften bereits so fortgeschritten sind, daß sie in den meisten Fällen eine zureichende Erklärung der Erscheinungen bieten können.

Das war aber bereits im 16. Jahrhundert bei uns der Fall. Hatte sich doch gegenüber der äußerst dürftigen Kenntnis der Natur im frühen Mittelalter, Seite 75im 16. und besonders noch im 17. Jahrhundert das Wissen von ihr ganz außerordentlich vermehrt. Wir können es verstehen, wenn das Volk, das doch von den Forschungsergebnissen der Gelehrten nur eine sehr verschwommene Kenntnis besitzt, am Aberglauben festhält, dazu neigt Natürliches, dessen Kausalität es nicht kennt, übernatürlich zu erklären. Dafür müssen wir jedoch erwarten, daß die intellektuellen Instanzen, die Kirche, die Obrigkeit, die Theologen, die ganze Gelehrtenwelt alles aufbietet, um nach der Richtung der natürlichen Erklärung des Weltgeschehens zu wirken.

Gerade diese sind dazu berufen in Fällen, die an sich vielleicht die Wahl zwischen den Möglichkeiten der natürlichen und übernatürlichen Erklärung zuließen, alles daranzusetzen, der ersteren Vorschub zu leisten, im Sinne der Aufklärung und Befreiung vom Alb des Aberglaubens. Selbst wenn sie von der Existenz der Hexen und Zauberer theoretisch überzeugt wären, so müßten sie bestrebt sein, in der Praxis deren Wirkungsbereich nach Tunlichkeit einzuschränken und damit den Weg verfolgen, den vor ihren Augen die Wissenschaft seit Jahrhunderten eingeschlagen hat. Wir sehen aber das Gegenteil! Gerade in dieser Zeit wurde die Hexentheorie am wahnwitzigsten ausgebildet und mit Gewalt verbreitet.

Die Dummheit besteht also in erster Linie darin, daß wir die Autoritäten in kulturhemmender Weise und dem Fortschritt der Naturwissenschaften entgegen arbeitend, am Werke sehen. Statt die natürliche Deutung zu fördern, selbst auf die Gefahr hin, eine Hypothese aufzustellen, die ihrem Bereich weitere Grenzen Seite 76steckt, als der damalige Zustand der exakten Wissenschaft gestattete, wird sie bekämpft. Aber selbst wenn es wirklich Zauberei je gegeben hätte, wäre es weit klüger gewesen, diese Tatsache zu ignorieren, als durch Aufwerfung der Frage neuerdings Unruhe in ein sich beruhigendes Volk zu tragen und zahlreiche Menschen Qualen und dem Tode auszuliefern.

Um es nochmals mit allem Nachdruck zu betonen: der Glaube an Teufel und Zauberei ist allen primitiven Völkern gemeinsam. Er schwindet erst mit dem Fortschritt der Naturwissenschaften. Auch die Antike war von diesem Wahn nicht frei und Christus teilte ihn gleichfalls. Während er aber im Neuen Testament einen winzigen Raum einnimmt, während wir genötigt sind, die bescheidenen naturwissenschaftlichen Kenntnisse der Antike und der ersten Hälfte des Mittelalters als hinreichende Entschuldigung anzuführen, fällt dies für die neuere Zeit fort. Da ist es die Autorität des Papsttums und die der Bibel, die ihn festhalten, während die Erleuchtetsten der Zeit ihn längst innerlich überwunden hatten, ja, während das niedere Volk ihn, wie die Prozeßakten lehren, bereits anfängt aufzugeben. Da ist es das Kirchenregiment, das ihn mit Gewalt einem sich von mittelalterlichem Aberwitz befreienden Volke aufzwingt, ungezählte Tausende ihm zuliebe auf die grausamste Weise hinschlachtet.

Gerade in dem Augenblick, in dem die Naturwissenschaften diese Irrlehre überwunden haben, wird sie päpstlicherseits neuerdings in ein System gebracht und mit einem Eifer verfochten, Seite 77wie ihn die Kirche für eine gute Sache kaum je aufzubringen vermocht hatte.

Ein Analogon finden wir in der Anti-Modernistenbewegung der Gegenwart. Es ist ganz sonnenklar, daß die Kirche in ihrer gegenwärtigen Verfassung und mit starrem Festhalten an längst veralteten Glaubenslehren dem Untergange in dem Sinne verfallen ist, daß sie aufhören wird, die geistig Reifen zu befriedigen. Um das gänzliche Hinabsinken in den Paganismus zu verhüten, der alten Form neues Leben einzuflößen, nicht auf Schritt und Tritt die Inferiorität der christlichen gegenüber den profanen Wissenschaften merken zu lassen, haben gläubige und kluge Männer versucht, dem modernen Geist bei aller Wahrung des prinzipiellen katholischen Standpunktes die nötigen Konzessionen zu machen. Sie revidierten den Glauben an die Verbalinspiration der Bibel, legten die kritische Sonde an ihre historischen Berichte an, leuchteten in die Geschichte der kirchlichen Dogmen und Institutionen hinein, kurz begannen jene Modernisierungsarbeiten, die bei einer so uralten Organisation, wie die Kirche ist, sicherlich ebenso notwendig ist, wie die Restauration eines alten Domes.

Das wäre in früheren Jahrhunderten kaum erforderlich gewesen, da damals die historische Textkritik noch nicht einmal in ihren Anfängen existierte, die profanen Wissenschaften noch wenig entwickelt waren und das Volk gläubig hinnahm, was ihm die kirchliche und weltliche Obrigkeit hinzunehmen befahl. Das lehrt etwa die Geschichte der sogenannten Konstantinischen Schenkung, die erst Laurentius Valla als Fälschung nachwies, ohne damit eine tiefe Wirkung Seite 78zu erzielen. Jetzt aber ist bei dem völlig veränderten Zeitgeist die Notwendigkeit zwingend und alle Verständigen sehen sie auch ein.

Dies ist nun, wie im Falle des Hexen- und Teufelsglaubens, der Augenblick, in dem das Papsttum mit seinem unheilvollen, im eminentesten Sinne kulturfeindlichen Einfluß einsetzt. Und zwar durch die verschiedenen Motu proprios gegen die »Modernismus« genannte, oben gekennzeichnete Bewegung, die zwar nirgends so existiert, wie der Papst sie sich vorstellt, immerhin aber ähnliche Tendenzen verfolgt.

Da wir auch in diesem Falle dem »Statthalter Christi« keine gemeine, auf den Untergang der Kirche und die Schädigung der Kultur hinauslaufende Gesinnung zuschreiben können und dürfen, sind wir gezwungen, die Dummheit in höchster Potenz als Milderungsgrund anzuführen.

Eigentlich brauchte niemand die Kirche anzugreifen, solange ein Pius X. an ihrer Spitze steht. Schädigt dieser Papst sie doch viel nachdrücklicher, als es der fanatischste Kirchengegner je vermöchte.

Sehen wir uns nun einmal den Teufels- und Hexenglauben an, wie ihn die Kirche ausbildete und lehrte und zum Teil heute noch, wie das Nachstehende beweisen wird, vertritt!

Wenn Gregor IX., der leidenschaftliche Feind des Hohenstaufengeschlechtes, in seiner Bulle Vox in Rama vom 13. Juni 1233 den Tod derer fordert, die sich mit dem »Frosch- und Kater-Teufel so groß wie ein Backofen« eingelassen haben, dann werden wir diese Dummheit zwar belächeln, aber mit der Zeit entschuldigen.

Seite 79Das kann man vielleicht noch für den Aberglauben Papst Johann XXII. (1316-1334) anführen, der in seiner Bulle Super specula in hochtönenden Worten den größten Blödsinn offenbart. Dieser Statthalter Christi überbot sich selbst an tollem Aberglauben. Man hatte ihm weisgemacht, es gäbe ein Schlagenhorn (cornu serpentinum), mittels dessen Gift entdeckt werden könne. Er läßt es sofort kommen und verpfändet für diesen unschätzbaren Wertgegenstand seiner Besitzerin alle seine bewegliche und unbewegliche Habe. Zugleich bedroht er jeden mit dem Banne, der sich dieses Schlagenhorn widerrechtlich aneignen will. Im Jahre 1317 schreibt er: »Gottes Barmherzigkeit habe in seine Hände drei Zauberbilder gelangen lassen, durch deren Durchstechung diejenigen Personen, auf deren Namen diese Bilder getauft seien, getötet wurden.« Er hatte folgerichtig für sich selbst auch immer die größte Angst vor jemand, der die Wachsbilder mit seinem Bildnis durchstechen würde, so daß er stürbe. Übrigens hielt sich dieser Glaube in Italien noch im 18. Jahrhundert, wie aus Casanovas Mailänder Erlebnis hervorgeht.

Daß dieser Wahn praktisch die übelsten Folgen haben konnte, lehrt das Beispiel des Magister Gerardi, Bischofs von Cahors. Weil er auf diese Weise dem Papst nach dem Leben getrachtet haben soll, wird er nach Avignon zitiert, für schuldig befunden, degradiert und verbrannt. Es ist kein Wunder, daß mancher es versuchte, seinen Gegner auf so einfache Weise zu beseitigen und verschiedene derartige Fälle sind aus der politischen Geschichte Seite 80bekannt. Sicherlich muß die böse Absicht scharf bestraft werden. Sie wäre so schwer zu beurteilen, wie etwa ein Mordanschlag mit einem Revolver, dessen Patrone ohne Wissen des Attentäters entfernt wurde. Wir können es daher dem Papst gewiß nicht verübeln, daß er ein strenges Gericht hielt, denn wenn der Bischof Gerardi wirklich solche Absicht gehegt hatte, war er ein Verbrecher. Wohl aber nehmen wir mit Befremden Kenntnis vom Irrwahn des Hauptes der Christenheit.

In einer Bulle vom 4. November 1330 spricht Innozenz XXII. von schriftlichen Verträgen mit dem Teufel, von Teufelsanbetung, sowie von Zauberbildern, durch die der Teufel herbeigerufen werden könne. Auf dem gleichen Standpunkt steht auch Eugen IV. in einem Rundschreiben an die Inquisitoren vom Jahre 1437.

Mittelalter! wird man sagen. Gut.

Statt nun aber eine Abnahme des Wahnes zu beobachten, müssen wir dessen Steigerung konstatieren, ja einem Innozenz VIII. — welcher Hohn liegt in diesem Namen! — blieb es vorbehalten, in den religiösen Teufelsspuk auch noch das geschlechtliche Moment einzuflechten und damit an Blödsinn und Ekelhaftigkeit etwas zu erzeugen, was länger fortleben sollte, als seine 16 unehelichen Kinder[1].

Im Jahre 1484 erschien die Hexenbulle, also zu einer Zeit, als Leonardo da Vinci und Regiomontanus wirkten, Kopernikus schon geboren war.

Die Hexenbulle (Summis desiderantes), eines der fluchwürdigsten Erzeugnisse der Menschheitsgeschichte, lautet:

Seite 81»Mit glühendem Verlangen, wie es die oberhirtliche Sorge erfordert, wünschen wir, daß der katholische Glaube wachse und die ketzerische Bosheit ausgerottet werde. Deshalb verordnen wir gerne und aufs neue, was diese unsere Wünsche zum ersehnten Ziele bringt. Nicht ohne ungeheuren Schmerz ist jüngst zu unserer Kenntnis gekommen, daß in einigen Teilen Deutschlands, besonders in der Mainzer, Kölner, Trierer, Salzburger und Bremer Gegend sehr viele Personen beiderlei Geschlechts, uneingedenk ihres eigenen Heils und abirrend vom katholischen Glauben, sich mit Teufeln in Manns- oder Weibsgestalt (cum daemonibus incubis et succubis), geschlechtlich versündigen und mit ihren Bezauberungen, Liedern, Beschwörungen und anderm abscheulichen Aberglauben und zauberischen Ausschreitungen, Lastern und Verbrechen die Niederkünfte der Weiber, die Leibesfrucht der Tiere, die Früchte der Erde, die Weintrauben und die Baumfrüchte, wie auch die Männer, die Frauen, die Haustiere und andere Arten von Tieren, auch die Weinberge, die Obstgärten, die Wiesen, die Weiden, das Getreide und andere Erdfrüchte verderben und umkommen machen, auch peinigen sie die Männer, die Weiber, die Zug-, Last- und Haustiere mit fürchterlichen inneren und äußeren Schmerzen und verhindern die Männer, daß sie zeugen, die Weiber, daß sie gebären, und die Männer, daß sie den Weibern, und die Weiber, daß sie den Männern die eheliche Pflicht leisten können. Auch verleugnen Seite 82sie den Glauben, den sie in der Taufe empfangen haben, mit meineidigem Munde. Ferner begehen sie überaus viele schändliche Verbrechen, Sünden und Laster auf Anstiften des Feindes des Menschengeschlechtes, zum Schaden ihrer Seelen, zur Beleidigung der göttlichen Majestät, zum Ärgernis vieler. Und das geschieht, obwohl unsere geliebten Söhne, Heinrich Institoris für die obengenannten Teile Deutschlands und Jakob Sprenger für gewisse Striche am Rhein, beide Mitglieder des Predigerordens und Professoren der Theologie, durch apostolische Briefe zu Inquisitoren bestellt worden sind und noch sind. Dennoch scheuen sich einige Geistliche und Laien jener Länder nicht, da sie mehr verstehen wollen, als nötig ist, halsstarrig zu behaupten, weil in den Bestallungsbriefen (dieser Inquisitoren) einige Diözesen, Städte und Orte, auch einige Personen und ihre Ausschweifungen und Laster nicht namentlich genannt sind, diese auch nicht inbegriffen seien, so daß diese Städte und Orte den genannten Inquisitoren auch nicht unterständen, so daß sie dort ihr Amt nicht ausüben und dort ihre Strafen nicht verhängen könnten. So bleiben denn zum augenfälligen Schaden der Seelen und zur Gefahr des ewigen Seelenheils in diesen Gegenden solche Verbrechen straflos. Wir aber, indem wir alle und jede Hindernisse, durch welche die Ausübung des Inquisitorenamtes auf irgendeine Weise verzögert werden könnte, aus dem Wege räumen, damit die Seuche der Ketzerei und anderer solcher Verbrechen ihr Gift zum Verderben der Unschuldigen nicht ausbreiten könne, wollen, wie es unser Amt erfordert, taugliche Hilfsmittel Seite 83anwenden, da der Glaubenseifer uns dazu antreibt. Damit sich nun nicht ereigne, daß die obengenannten Länder ohne das notwendige Inquisitionsamt seien, so setzen wir aus apostolischer Vollmacht fest, daß den genannten Inquisitoren gestattet sei, ihr Amt dort auszuüben, und daß sie die Bestrafung dieser Verbrechen vornehmen können, als ob diese Länder, Städte, Orte namentlich aufgeführt wären. Und indem wir aus größerer Sorgfalt diese Bestallung auf die genannten Länder ausdehnen, gestatten wir den genannten Inquisitoren, daß sie und jeder von ihnen, unter Zuziehung unseres geliebten Sohnes Johann Gremper, Magister aus der Konstanzer Diözese, in den genannten Länderstrichen Alle, die sie der genannten Verbrechen schuldig befunden haben, nach ihren Verbrechen züchtigen, einkerkern und am Leib und Vermögen strafen können; auch gewähren wir diesen Inquisitoren freie Vollmacht in allen Kirchen, sooft es ihnen gut scheint, das Wort Gottes zu predigen und Alles und Jedes, was dazu nützlich erscheint, zu tun. Wir befahlen durch apostolische Schreiben dem Bischof von Straßburg, daß er, sooft er von diesen Inquisitoren ersucht wird, es öffentlich kund tun soll, daß sie in nichts und von niemand beeinträchtigt und gehindert werden. Alle aber, die sie hindern, weß Amtes sie auch seien, sollen von ihm durch Exkommunikation, Suspension und Interdikt und andere noch schrecklichere Strafen, ohne jede Berufung, gebändigt werden, und, wenn nötig, soll gegen sie der weltliche Arm angerufen werden: Keinem Menschen soll es erlaubt sein, dies unser Schriftstück zu verletzen oder in frevelhaftem Seite 84Wagnis diesem entgegen zu handeln. Wenn aber jemand dies versuchen sollte, so wisse er, daß er den Zorn des allmächtigen Gottes und der Apostel Petrus und Paulus auf sich geladen hat. Gegeben zu Rom bei St. Peter, im Jahre der Menschwerdung des Herrn 1484, im ersten unseres Pontifikats am 5. Dezember«[2].

Dieses Schriftstück hat in seinen Konsequenzen wohl mehr Kummer und Not über die Christenheit gebracht, als irgend ein Krieg oder die schlimmste Seuche.

Deutlich geht aus ihm hervor, daß man mit der Inquisition mancherorts keineswegs einverstanden war, daß sich also bereits im Volke Kräfte regten, die diesen Unsinn abschütteln wollten und daß der Papst es war, der mit seiner ungeheuren Autorität für diese Dummheit eintreten mußte um zu verhüten, daß die Vernunft damals schon siegte.

Übrigens war die Erfindung des Mann-Teufels und Weib-Teufels schon dem grüblerischen Geiste des gefeierten und für seine Zeit auch gewiß feiernswerten Thomas von Aquino gelungen. Daß das Papsttum für diese Ausgeburt einer verderbten mönchischen Phantasie die volle Verantwortung übernahm, geht klar aus obiger Bulle hervor.

Doch fortzeugend sollte sie Böses stiften, praktisch und theoretisch. Wir können auf eine Schilderung der Greuel des Hexenprozesses, der unermeßlichen Leiden, die dieser Wahn über die Menschheit brachte, umso eher hier verzichten, als wir an anderer Stelle[3] die Materie eingehend behandelten. Zudem Seite 85war die Art der Verfolgung nichts weniger als dumm, sondern im Gegenteil sehr raffiniert. Dumm waren die Voraussetzungen, die zur Hexenverfolgung führten, brutal und jeder Menschlichkeit Hohn sprechend aber die Art der Durchführung.

Wenden wir uns nunmehr der theoretischen Ausbildung zu, die diese Lehre unter dem mächtigen Schutz des Papsttums finden sollte.

Institoris und Sprenger, »unsere geliebten Söhne«, wie sie der Papst nennt, die fluchwürdigsten Scheusale und wahnwitzigsten Narren, wie wir sie heißen möchten, haben ihre Namen für ewige Zeiten mit der Teufels- und Hexenlehre unlöslich verbunden. Gegen sie müssen ein Dschingis Chan, ein Timur, ein Alba und Caligula geradezu harmlos genannt werden, hörte doch mit deren Tode auch ihr Treiben auf, während dem »Hexenhammer« der Hydra gleich stets neue Köpfe wuchsen.

Die beiden Dominikanermönche könnten selbst uns zum Teufelsglauben bekehren. Denn die Hochachtung vor der Menschheit sträubt sich gegen die Annahme, daß ohne höllische Einflüsse ein Werk wie ihr »Hexenhammer« (Malleus maleficarum) das Licht des Tages erblicken konnte. Fast alles, was seit Erscheinen dieses wahrhaft teuflischen Buches über die Materie geäußert wurde, geht direkt oder indirekt auf diese Quelle zurück. Seiner verpestenden Wirkung können sich selbst Geister wie Pico della Mirandola, der in seiner Rede von der Würde des Menschen so wundervolle Gedanken entwickelt[4], nicht entziehen. Der Dichter Fischart, ein Protestant, gibt das Buch neu heraus, Albrecht Dürer und Hans Baldung Seite 86Grien widmen ihre unsterbliche Kunst diesem Vorstellungskreise. Noch auf den bayerischen Kodex Maximilianeus von 1751 erstreckt sich die unheilvolle Wirkung dieses grausigen Werkes.

Betrachten wir den Inhalt, wie ihn Hoensbroech in bisher nicht erreichter Vollständigkeit übermittelt[5].

Das Buch bejaht die Frage, daß es eine Schwarzkunst gibt, und der Teufel mit dem Schwarzkünstler zusammen wirke. Daß es sich nicht um Einbildung handelt, beweist nach der Ansicht der Verfasser die Bulle Summis desiderantes. Hier ist also mit wünschenswerter Deutlichkeit der Papst, der ja auch das Werk selbst approbierte, als Quelle und Eideshelfer angeführt.

Die dritte Frage lautet: Können durch Inkubi und Sukkubi Menschen erzeugt werden? Hierbei ist erklärend zu bemerken, daß die Daemones incubi in der bis heute gültigen katholischen Terminologie jene Teufel sind, die sich in menschlicher Gestalt mit anderen Menschen fleischlich vergehen, indem sie als Männer mit Frauen (»Drauflieger«) Unzucht treiben, während die succubi beim Geschlechtsakt die weibliche Rolle spielen.

Natürlich wird die Frage bejaht. »Die Behauptung, durch Inkubi und Sukkubi können Menschen erzeugt werden, ist so katholisch, daß ihre Leugnung den Aussprüchen der Heiligen, der Überlieferung und der hl. Schrift widerstreitet«. Und zwar übt der Teufel nicht um der fleischlichen Ergötzung willen die Unzucht aus, sondern um dadurch die menschliche Natur in ihren beiden Bestandteilen, Mann und Weib, am schwersten zu schädigen. Der Seite 87hl. Thomas lehrt, daß der männliche Teufel (incubus) unter Gottes Zulassung den nötigen Samen von einem Manne entnehmen kann, um ihn im Beischlaf zu übertragen! Gewisse Teufel schrecken wegen der Vornehmheit ihrer Natur vor gewissen unzüchtigen Handlungen zurück! Vielmehr werden diese von den untersten Teufeln ausgeführt. Genealogisch gehen diese Teufel auf die untersten Engel zurück. Der oberste Teufel heißt Asmodeus.

In der sechsten Frage, warum die Schwarzkunst bei den Frauen verbreiteter sei als bei den Männern, wozu bemerkt wird, daß sich dieser Gegenstand gut für Predigten an die Frauen eignet, wird über die Frauen folgendes Urteil gefällt: »Was ist denn auch das Weib anders, als eine Vernichtung der Freundschaft, eine unentfliehbare Strafe, ein notwendiges Übel, eine natürliche Versuchung, ein begehrenswertes Unheil, eine häusliche Gefahr, ein reizvoller Schädling, ein Naturübel mit schöner Farbe bestrichen?«

Wurde je niedriger über das Weib geurteilt, als hier von einer durch die höchste kirchliche Autorität sowie die Approbation der theologischen Fakultät in Köln gestützten Stelle?

Auf den Blödsinn, der hier über die Minderwertigkeit der Frauen vorgebracht wird, näher einzugehen, verlohnt sich nicht. Um aber das Niveau der Beweisführung zu kennzeichnen, sei nur folgender ethymologischer Scherz angeführt: Das Wort Femina (Frau) ist aus fe (fides, Glaube, Treue) und minus (weniger) zusammengesetzt, denn das Weib hat stets weniger Glauben und wahrt weniger die Treue, als Seite 88der Mann! Solche Ethymologien finden sich im »Hexenhammer« noch mehrere. So versichern die Verfasser an anderer Stelle (p. 65), daß maleficiendo aus male de fide sentiendo herzuleiten sei. Das beweist natürlich die Synonymik bzw. Idendität des Mannes, der über den Glauben schlecht urteilt, des Ketzers, mit dem Übeltäter schlechthin!

Es wird dann weiter gefragt und bejaht, daß die Schwarzkünstler Menschen zu Liebe oder Haß bewegen können, daß sie den ehelichen Akt verhindern, die Kriterien werden untersucht, aus denen zu entnehmen ist, ob das geschlechtliche Unvermögen auf Schwarzkunst oder natürlichen Mangel zurückzuführen ist.

Die neunte Frage: Können Hexen das männliche Glied durch Zauberei so behandeln, als sei es vom Leibe getrennt? sei auch als Schulbeispiel der Dummheit in ihrer Beantwortung mitgeteilt: Die Hexen können in Wirklichkeit und Wahrheit das männliche Glied vom Körper trennen. Dafür lautet ein Beweis: Die Verwandlung der Frau des Loth in eine Salzsäule ist mehr, als die Trennung des männlichen Gliedes vom Körper. Nun ist aber jene wirklich geschehen, also kann auch diese geschehen. Aber diese wirkliche Trennung ist doch nur subjektiv wirklich, nicht objektiv, d. h. das Glied bleibt am Körper, aber für die Sinne (Auge, Hände) ist es nicht mehr vorhanden. Durch Zauberei kann ein flacher, fleischfarbener Körper vorgeschoben werden, der für Hand und Auge nur mehr eine Fläche darstellt, ohne Unterbrechung durch das männliche Glied.

Ferner wird konstatiert, daß die Hexen Menschen Seite 89in Tierleiber verwandeln können, daß schwarzkünstlerische Hebammen häufig die Kinder im Mutterleibe töten, Fehlgeburten verursachen und neugeborene Kinder dem Teufel opfern.

Ein päpstlicher Inquisitor von Como hat aus diesem Grunde — in einer nächtlichen Hexenversammlung soll ein Kind aufgegessen worden sein — im Jahre 1487 einundvierzig Hexen verbrennen lassen.

Diese Proben des theoretischen Teiles dürften wohl genügen. Nunmehr wollen wir noch einige Beispiele aus dem zweiten Teil des Werkes, in dem die Äußerungen der Hexerei niedergelegt sind, anführen.

Zunächst wird die Frage beantwortet, wem der Zauberer nicht schaden kann, und dabei auf Weihwasser, geweihte Kerzen und geweihte Kräuter, die man verbrennt, als Abwehrmittel verwiesen. Als jemand in Ravensburg von einem Teufel in Weibsgestalt zur Unzucht angereizt wurde, fiel ihm ein, in der Predigt gehört zu haben, daß geweihtes Salz ein gutes Mittel dagegen sei. So nahm er denn beim Eintritt in die Kammer von dem Salz; das vermeintliche Weib verzerrte das Gesicht und verschwand plötzlich. Ferner werden die Worte der Kreuzesaufschrift Christi an den vier Wänden in Form eines Kreuzes angebracht, empfohlen. Äußerst wirksam ist der Schutz himmlischer Geister, die den Gestirnen die Bewegung verleihen. Das bewährt sich besonders bei Behexung der Zeugungsfähigkeit. So kam einst ein Engel zum hl. Serenus, öffnete ihm den Leib und entfernte aus seinen Eingeweiden ein feuriges Stück Fleisch. Dadurch erlangte der Heilige eine solche Keuschheit, Seite 90daß er niemals mehr irgendwelche sinnliche Regungen, wie sie selbst bei Kindern und Säuglingen vorkommen, verspürte.

Im I. Hauptstück wird von den Arten erzählt, durch welche die Teufel Unvorsichtige mittels Behexungen zur Gottlosigkeit verleiten, im II. von der Hexerei als Beruf. Es gibt drei Arten von Hexen: einige erregen Hagel, Gewitter, Stürme; bewirken Unfruchtbarkeit bei Menschen und Tieren; verzehren Kinder und opfern sie dem Teufel; machen Pferde scheu; fliegen körperlich durch die Luft; töten durch bloßen Blick. Allen drei Arten von Hexen ist gemeinsam, daß sie mit dem Teufel Unzucht treiben.

Die Hexen weihen sich entweder auf feierliche Art dem Teufel, indem sie ihm, der in Menschengestalt erscheint, Treue in die Hand geloben, oder auf unfeierliche Art. Sie sehen es besonders auf ungetaufte Kinder ab, aus deren Fleisch und Knochen sie eine Salbe bereiten, aus den flüssigeren Bestandteilen aber ein Getränk. Wer es trinkt, ist sofort ein Meister in der teuflischen Kunst. Bei dieser Gelegenheit verraten die Herren Inquisitoren so ganz nebenbei, daß alle, die sie einäschern ließen, in bezug auf die Schwarzkunst unfreiwillig waren! Da die »Hexen« unter der Folter natürlich aussagten, was man ihnen in den Mund legte, so gibt es keine Zeile dieses Buches, die nicht durch eidliche Aussagen der armen Opfer erhärtet wäre. Z. B. gestand eine Hexe, die dann natürlich, wie alle ohne Ausnahme, eingeäschert wurde, sie habe sechs Jahre mit dem Teufel Unzucht getrieben Seite 91und zwar im Bett und an der Seite ihres Mannes.

Das III. Hauptstück führt aus, wie die Hexen von Ort zu Ort geführt werden. Bald tut das der Teufel in eigener Person, jedoch in Pferdegestalt. Auch das wurde natürlich gesehen. Bald geschieht es auf einem Stück Holz, das mit der aus Kindern gewonnenen Salbe bestrichen wird.

Das IV. Hauptstück handelt von der Art, in der sich die Hexen den Teufeln in Mannsgestalt hingeben. Die Teufel bedienen sich dabei eines Leibes aus Luft, den sie durch Dämpfe verdichten. Mit diesem Körper können sie sprechen, sehen, hören, essen und zeugen. Die durch den Beischlaf mit dem Teufel Gezeugten sind sehr stark und kräftig. Die Sache geht so vor sich: Ein Teufel in Weibsgestalt (succubus), der sich mit einem Manne abgegeben hat, nimmt den Samen von diesem Manne auf, er macht sich dann mit diesem Samen einem Weibe gegenüber zu einem Teufel in Mannsgestalt (incubus). Die Hexe ist entweder alt und unfruchtbar oder nicht. Im ersteren Falle gibt sich der Teufel mit ihr ohne männlichen Samen ab; denn auch der Teufel vermeidet Überflüssigkeiten. Ist sie aber der Schwangerschaft fähig, dann vermischt er sich mit ihr, wenn er irgendwoher männlichen Samen erhalten kann, zum Zwecke der Kindererzeugung. Gewiß ist, daß eine Ehefrau, wenn sie Hexe ist, und durch ihren Mann schwanger wird, ihre Schwangerschaft verstärken kann durch anderen Samen, den sie im Beischlaf mit dem Teufel erhält. Bei solchen Vermischungsakten sind die Hexen zwar immer sichtbar, die Erfahrung der Seite 92Verfasser hat aber ergeben, daß die Teufel es nicht immer sind.

Das V. Hauptstück handelt von der Art, wie die Hexen ihre Künste durch die Sakramente der Kirche ausüben, das VI. von der Art, wie sie die Zeugungsfähigkeit hindern, das VII. wie die Hexen das männliche Glied entfernen.

Wo gibt es eine gleich höllische Ausgeburt von haarsträubendstem Blödsinn und abstoßendster ekelhaftester Schweinerei?

Ein Jüngling hatte sein Glied durch Zauberei verloren, »da ich es nicht glauben wollte, entblößte er sich, so daß ich die Wahrheit seiner Aussage sah. Er hatte eine Hexe in Worms in Verdacht. Ich trug ihm auf, zu ihr zu gehen. Nach einigen Tagen kam er wieder zurück, und ich überzeugte mich durch den Augenschein, daß er sein Glied wieder hatte. Die Glieder werden übrigens nicht ausgerissen, sondern nur verborgen.« Was ist aber darüber zu sagen, daß einige Hexen solche männliche Glieder in großer Zahl, bis zu zwanzig und dreißig, in einem Schranke aufbewahren, und daß die Glieder dort lebendig zu sein scheinen, wie dies viele gesehen haben? Es ist zu sagen, daß dies durch teuflische Vorspiegelungen geschieht. Es hat uns jemand erzählt, daß er, um sein verlorenes Glied wieder zu gewinnen, sich an eine Hexe gewandt habe. Sie hieß ihn einen Baum besteigen, auf dem er ein Nest fand, in dem mehrere männliche Glieder waren. Als er ein großes nehmen wollte, rief die Hexe: nein, das nicht, denn das gehört einem Geistlichen

Seite 93An der Tatsächlichkeit dieses von den Hexen begangenen Verbrechens bzw. daran zu zweifeln, daß sie mit Impotenz schlagen können, ist völlig ausgeschlossen. Haben doch die Provinzialsynoden oder gar Konzilien von Troyes, Lyon, Mailand, Tours, Bourgos, Narbonne, Ferrara, St. Malo, Monte Cassino, Orleans und Grenoble, sowie die Rituale von Autun, Chartres, Perigueux, Evreux, Paris, Angers, Arras, Chalons, Bologna, Troyes, Bourges, Alet, Beauvais, Meaux, Reims usw., sowie die Dekrete unzähliger Bischöfe, die Hexen eben wegen dieses Deliktes in Bann taten. Wer würde es wagen der Autorität aller dieser Instanzen zu widersprechen[6]?!

Das VIII. Hauptstück setzt auseinander, wie Menschen in Tiere verwandelt werden, das IX. wie sich die Teufel in menschlichen Leibern aufhalten können. Dazu wird folgende erbauliche Geschichte u. a. berichtet: »Ein heiliger Mann erkannte einst durch den Geist Gottes, daß ein in einer Kirche sehr gut und fromm predigender Priester der Teufel sei. Nach der Predigt frug er ihn, warum er predige und erhielt zur Antwort: weil ich weiß, daß die Leute die Predigt nur hören, aber nicht befolgen, so wird Gott nur noch mehr beleidigt.«

Das X. Hauptstück führt aus, wie die Teufel mit Hilfe der Hexen in den Menschen wohnen, das XI. wie die Teufel Krankheiten, besonders schwere, verursachen können. Das geschieht z. B. durch verzauberte Wachs- oder Bleibilder. Durch Verwünschung oder Anhauchen kann die Hexe aussätzig machen.

Die fallende Krankheit rufen Hexen hervor durch Seite 94Eier, die sie in Gräbern vergruben. Auch das XII. Hauptstück behandelt diese Materie. Das XIII. Hauptstück beantwortet die Frage, wie Hebammen als Hexen schweren Schaden zufügen, indem sie Kinder töten oder dem Teufel opfern. So hexte eine Person einer frommen Frau alle möglichen Dinge in den Leib, die furchtbare Schmerzen verursachten. Als sie ein natürliches Bedürfnis befriedigen mußte, kamen alle zum Vorschein: Holz, Knochen und handgroße Dornen. Einige Hebammen, die eingeäschert wurden, haben noch schlimmere Sachen gestanden. Der theologische Grund, weshalb die Hexen auf Anstiften des Teufels so viele ungetaufte Kinder töten, ist: Der Teufel weiß, daß die ungetauften Kinder nicht in den Himmel eingelassen werden. Das Reich Gottes aber, nach dessen Beginn er mit noch größerer Pein gestraft wird, bricht erst an, wenn eine ganz bestimmte Zahl von Menschen in den Himmel eingelassen ist. Die Erreichung dieser Zahl wird nun durch die Tötung von ungetauften Kindern hinausgeschoben. Deshalb werden sie vom Teufel besonders aufs Korn genommen. Kinder von acht Jahren, die dem Teufel geweiht worden sind, können schon Gewitter und Hagelschlag erzeugen.

Das XIV. Hauptstück behandelt die Frage, wie Hexen den Tieren schaden können. Am häufigsten werden die Kühe durch die Hexen der Milch beraubt und zwar folgendermaßen: Die Hexe stößt ein Messer in die Wand, ruft ihren Teufel und trägt ihm auf, diese oder jene Kuh trocken zu machen. Dann fängt sie an dem Messer zu melken an, worauf die Milch Seite 95der betreffenden Kuh aus ihm herausfließt. Solches soll gepredigt werden, um Abscheu zu erregen. Man kann durch zauberische Künste auch vorzügliche Maibutter und Wein machen. Doch begnügen sich die Hexen oft nicht mit solchem Schabernack, sondern töten auch Tiere, wie zwei Hexen, die in Ravensburg eingeäschert wurden, von sich bekannten.

Das XV. Hauptstück beschreibt die Erzeugung von Gewitter und Hagel, das XVI., wie auf drei Arten Männer Schwarzkunst treiben. Besonders die schwarzkünstlerischen Pfeilschützen sind schlimm. Sie durchbohren am Karfreitag das Bild des Gekreuzigten mit ihren Pfeilen. Sie sind so sichere Schützen, daß sie einen Pfennig vom Kopf eines Menschen herabschießen können, ohne ihn zu verletzen. Der Herzog Eberhard mit dem Barte von Württemberg hatte einen solchen Schützen in seinem Gefolge. Er konnte täglich mit drei Pfeilschüssen jemand mit unfehlbarer Sicherheit töten, weil er täglich drei Pfeile in ein Kruzifix schoß. Auch der Tellschuß auf den Apfel geschah aus Zauberei.

Nunmehr geht das Buch auf die verschiedenen Arten, den Zauber zu beseitigen ein, um im dritten Teil ausführlich die richterliche Tätigkeit gegen Ketzer und Hexen zu behandeln.

Uns genügt das Mitgeteilte vollauf. Resümieren wir: Die Kirche — denn da die höchsten kirchlichen Autoritäten das Buch approbierten und jahrhundertelang als Leitfaden Kat' exochen für die Inquisition benutzten, so identifizierte sie sich mit den hier wiedergegebenen Ansichten — also: die Kirche bringt den haarsträubendsten Blödsinn, den je die Menschheit ersonnen Seite 96hat, in ein System. Keiner der Fälle existiert in diesem teuflischen Buche, der nicht von »Hexen« unter der Folter bezeugt worden wäre, keiner, für den nicht so und so viele Unschuldige verbrannt wurden. Man stelle sich vor — nachdem doch überall der Unsinn gepredigt werden mußte, nachdem die Hinrichtungen in aller Öffentlichkeit stattfanden und jedermann ihren Grund kannte, nachdem ferner an allen Orten der Christenheit nach solchen Zauberern und Hexen gesucht wurde — welche furchtbare, mit nichts zu vergleichende Wirkung auf das Volk durch das alles hervorgerufen werden mußte. Verdummung und Verrohung mußte die Folge sein, zumal bei der ungeheuren Verbreitung dieses Schandbuches, das noch 1669 in neuer Auflage erscheinen konnte.

Wir werden in späteren Kapiteln sehen, wie dieser künstlich von der Kirche erzeugte Irrsinn Jahrhunderte im Volke fortwirkte und heute noch nicht erstorben ist. Wen wird das verwundern, da ja die Kirche bekanntlich unfehlbar ist, da sie sich gerade in dieser Frage, wenigstens im Kernpunkt, auf die unwiderlegliche Autorität des Neuen Testaments — vom Alten ganz zu schweigen — stützen kann?

Wann hat die Dummheit je größere Orgien gefeiert? Welchem Moloch sind mehr Hekatomben geschlachtet worden?

War der »Hexenhammer« auch das schlimmste Buch seiner Art, insofern es bei weitem die größte Autorität besaß, so war es keineswegs das einzige. Im Gegenteil ist die Literatur über diese blöde Materie erschreckend reich. Indem wir Interessenten auf die Seite 97eingehende Untersuchung Hoensbroechs verweisen[7], begnügen wir uns, einige der wichtigsten Werke anzuführen.

Im Jahre 1522 veröffentlichte der Dominikaner Bartholomäus Spina eine »Abhandlung über die Hexen« (Quaestio de strigibus), in der er als Beweis für die Realität des Hexenglaubens die zahlreichen Bestrafungen und Todesurteile anführt. Gäbe es keine Zauberei, dann wären ja die Inquisitoren und die diese ernennende Kirche ungerecht, was ja unmöglich wäre. Um nur einige Perlen aus diesem Buche herauszufischen: Die Aussage der Hexen, daß sie vom Teufel durch die Luft entführt werden, ist durchaus glaubwürdig. Wenn trotzdem die gleiche Hexe von andern schlafend gesehen werde, so erklärt sich das daraus, daß ein Teufel ihre Gestalt angenommen hat.

Ein weiterer Beweis für die Wahrheit des Hexenglaubens ist seine allgemeine Verbreitung. Diese aber geht aus der großen Menge von Hexen hervor, die alljährlich von den Inquisitoren abgeurteilt werden!

Ein junges Mädchen, das in Bergamo wohnt, wurde — wenigstens berichtet Spina so — plötzlich eines Nachts nackt im Bett einer Verwandten in Venedig aufgefunden. Sie erzählte weinend folgendes: Als ich diese Nacht wach wurde, sah ich meine Mutter, die mich schlafend glaubte, aufstehen, ihr Hemd ausziehen und sich mit einer Salbe salben; dann ergriff sie einen Stock, setzte sich rittlings darauf und fuhr durch das Fenster. Ich stand auf, bestrich mich auch mit der Salbe und fuhr dann auch hinaus und kam hier in dies Zimmer, wo ich sah, Seite 98daß meine Mutter ein Kind töten wollte. Als meine Mutter mich sah und ich den Namen Jesu und Maria aussprach, verschwand sie und ich blieb nackt zurück. Die Mutter hat dann auf der Folter dem Inquisitor von Bergamo alles gestanden.

Die Hexen töten unzählige Kinder und bereiten aus ihren Leichen eine Zaubersalbe. Gott läßt dies zur Strafe der Eltern zu, weil diese es vielleicht einige Male unterließen, die Kinder morgens und abends mit dem Zeichen des Kreuzes zu zeichnen!

Einer der berühmtesten Kanonisten des 16. Jahrhunderts, Paulus Grilandi, Auditor des päpstlichen Generalvikars für die Stadt Rom, ließ eine oft aufgelegte Schrift Tractatus de sortilegiis erscheinen. Natürlich trug sie die Druckerlaubnis und zwar hier des Magisters sacri apostolici Palatii, d. h. des unmittelbar unter dem Papste stehenden Bücherzensors. Er behandelt den gleichen Blödsinn wie die vorgenannten Bücher, führt aber als Novum an,. daß die Kirche die Lösung einer behexten Ehe, d. h. einer, in der Mann oder Weib verhindert sind, den Beischlaf auszuführen, gestatte und daß die Betreffenden eine andere Ehe eingehen können.

Folgende erbauliche Geschichte findet sich in diesem geistreichen Werke unter anderen ebenbürtigen. Mir hat ein geachteter und gebildeter Mann erzählt: kurz vor seiner Heirat wurde er von einer bekannten Hexe so behext, daß er in der Brautnacht und noch lange nachher die Ehe nicht vollziehen konnte, obwohl er den fleischlichen Akt früher sehr gut und mit größter Lust vollzogen hatte. Endlich ließ er Seite 99einen berühmten Schwarzkünstler aus dem Sabinergebirge kommen, der gab ihm und seiner Frau einen Trank zu trinken. Auch befahl er ihnen, sich in der nächsten Nacht mit dem Zeichen des Kreuzes zu schützen, dann brauchten sie nicht zu fürchten, was auch geschehe. Gegen 10 Uhr nachts entstand um das Haus herum ein gewaltiges Unwetter mit Donner, Blitz und Erdbeben; dann drang eine ganze Schar von Hexen, darunter das Weib eines Nachbarn, in das Schlafzimmer und vollführte einen Höllenlärm. Der Bräutigam sah alles, seine Braut deckte er aber mit den Bettdecken zu. Eine halbe Stunde ungefähr dauerte der Lärm, dann trat plötzlich der Schwarzkünstler ein und die Hexen verschwanden. Der Schwarzkünstler rieb den Bräutigam an der Schulter und ging dann auch. Da fühlte der Bräutigam allmählich eine Wärme seinen Körper durchströmen und er konnte den ehelichen Akt vollziehen.

Im Jahre 1669 erschienen zu Lyon in der berühmten Druckerei von Bourgeat mit königlichem Privileg drei starke Quartbände, die sich ausschließlich mit Hexerei und Teufelei befassen. Der Gesamttitel dieses Sammelwerkes, das ausschließlich von bedeutenden Theologen und Kanonisten verfaßt ist, lautet: Daemonastrix seu adversus Daemones et Maleficos universi operis ad usum praesertim Exorcistarum. Es handelt sich also um ein Handbuch für Exorzisten. Eine dieser Abhandlungen von Pater Hieronymus Mengo »Strick für den Teufel« (Fustis Daemonorum) betitelt, behandelt die Besessenheit: Die Teufel verlassen den Menschen teils durch den Mund als Flamme, oder als kalter Wind, teils Seite 100durch die Ohren als Ameisen, teils durch den After als Kot oder als Frösche oder Schlangen, teils als Blutstropfen aus der Nase.

»Als ich im Jahre 1575 in Reims war, geschah folgendes: eine Witwe war mit einer schweren Krankheit behext worden. Ich ging mit ihrem Arzt zu ihr und wir fanden in ihrem Bett ein aus Federn gefertigtes Bild in Menschengestalt; als das Bild verbrannt war, war die Frau geheilt.« Die teuflischen Zaubermittel werden meistens in den Betten versteckt. Ein gutes Mittel dagegen ist, in den vier Ecken des Bettes Weihrauch, Myrrhe, geweihtes Salz, geweihte Oliven und geweihtes Wachs niederzulegen.

Den Höhepunkt des Teufelwahns bilden neben dem »Hexenhammer« die Disquisitiones magicae des Jesuiten Delrio[8], eines Theologieprofessors an den Universitäten von Graz und Salamanca. Es umfaßt sechs Bücher auf über 1200 Druckseiten und trägt das Imprimatur des Jesuitenordens, sowie je eines päpstlichen und eines bischöflichen Zensors. Die Gutachten sind interessant genug, um wiedergegeben zu werden. Das des Oliverius Manaräus, eines der bedeutendsten Jesuiten des 16. und 17. Jahrhunderts vom 6. Juli 1598 betont ausdrücklich, daß die »sechs Bücher zauberischer Untersuchungen« durch das »Urteil gewichtiger und gelehrter Theologen« (des Jesuitenordens) gutgeheißen werden.

Die beiden anderen, nicht jesuitischen Zensoren schreiben: »Die zwei ersten Bücher der zauberischen Untersuchungen, verfaßt von Pater Martin Delrio, Theologen der Gesellschaft Jesu, halte ich, da sie vielseitige Gelehrsamkeit und nichts dem katholischen Seite 101Glauben Widersprechendes enthalten, für wert, daß sie veröffentlicht werden. Gegeben zu Löwen, am 8. Februar 1599. Wilhelm Fabricius, Apostolischer und Königlicher Bücherzensor.«

Das andere lautet: »Die drei letzten Bücher der zauberischen Untersuchungen, verfaßt vom gelehrten Pater Martin Delrio, Priester der Gesellschaft Jesu halte ich wegen ihrer vielseitigen Gelehrsamkeit und wegen der Gediegenheit ihrer Lehre für sehr nützlich, besonders in unseren Zeiten. Ich halte dafür, daß sie zum großen Vorteil der Kirche veröffentlicht werden sollen. Gegeben zu Antwerpen, am 1. April 1599. Silvester Pardo, Licentiat der hl. Theologie, Domherr der Kathedralkirche und Bücherzensor.«

Das Buch tritt »wissenschaftlich« und »theologisch« im Namen Christi und seines »Statthalters« für das fernere Abschlachten der »Hexen« in einer Zeit ein, in der Denker und Forscher wie Kopernikus († 1543), Kepler (1631), Giordano Bruno († 1600), Montaigne († 1592) und andere teils schon gewirkt hatten, teils noch wirkten. Die profane Wissenschaft, das ist zu betonen sehr wichtig, war also keineswegs mehr im finsteren Aberglauben des Mittelalters befangen, vielmehr waren es die Theologen, die diese Dummheit künstlich aufrecht erhielten durch ihre »Wissenschaft« und das Beweismittel des Scheiterhaufens.

Delrio ist der Ansicht, daß die Schwarzkunst ständige Begleiterin und notwendige Folge der »Ketzerei« sei. In Deutschland sei ihr Bollwerk das Luthertum, in Frankreich, England, Schottland und Belgien aber sei die Hexerei durch den Kalvinismus rasch ausgebreitet Seite 102worden. Die Gründe dafür liegen nach Delrio klar zutage: »Die Teufel haben in den Ketzern, wie einst in den Götzenbildern, ihre Wohnstätten; aus den Götzenbildern sind sie vertrieben worden, so haben sie sich in den Ketzern neue Wohnungen gesucht; auch die Teufel, die Christus austrieb, fuhren in die Schweine. Wie die Pest der Hungersnot folgt, so folgt die Hexerei der Ketzerei. Die Teufel bedienen sich der Ketzer ähnlich wie schöner Huren, um die Menschen zu betrügen.«

Während das I. Buch von der Zauberei im allgemeinen handelt, beleuchtet das zweite die teuflische Zauberei und ihre Wirksamkeit. Ihre Grundlage ist der Vertrag mit dem Teufel. Daß dieser in Wirklichkeit existiert, beweist Delrio aus der Übereinstimmung aller Theologen alter und neuer Zeit.

Wir machen hier wiederum die gleiche Erfahrung: weil eine Dummheit viele Verteidiger hat und sich Jahrhunderte in Kraft erhält, darum ist sie keine Dummheit. Sie wird aber zur höchsten Weisheit, wenn sich unter den für sie eintretenden Eideshelfern »Autoritäten« befinden, oder wenn sie gar durch Bibel und Dogma gestützt wird.

Die feierliche Zeremonie des Vertrages mit dem Teufel besteht, nach Verleugnung des Glaubens und der Jungfrau Maria, darin, daß der Teufel die Stirn der Vertragschließer mit seiner Kralle berührt und sie auf seine Art tauft. Sie erhalten andere Namen; innerhalb eines auf die Erde gezeichneten Kreises wird ein furchtbarer Eid geschworen; man verspricht dem Teufel monatlich durch Blutaussagen ein Kind zu töten; irgendeiner Stelle des Körpers, gewöhnlich einer Seite 103geheimen, drückt der Teufel ein Zeichen auf, wodurch dieser Körperteil unempfindlich wird. Dann wird erzählt von Erregung von Unwettern, Vernichtung von Viehherden, Hervorrufung von Heuschreckenschwärmen durch ein teuflisches Pulver, das in die Luft gestreut wird usw. »Solche Geschehnisse sind alltäglich, ihre Wahrheit wird bezeugt durch das Ansehen der Päpste und ihre Bullen darüber; so die Bullen Innozenz VIII., Julius III., Hadrian VI.«

Auch Ungeheuer bringen die Teufel hervor. Es ist möglich, durch Vermischung zwischen Mensch und Tier solche Unholde zu erzeugen. Zehn Seiten widmet Delrio der Frage, ob sich die Teufel mit Menschen fleischlich vermischen. Die Tatsache bezweifelt er natürlich nicht: »Es ist dies die gemeinsame Ansicht der h. Väter, der Theologen und Philosophen, durch die Erfahrung vieler Jahrhunderte bestätigt. Von dieser Ansicht abzuweichen, ist ein Zeichen von Starrköpfigkeit und Verwegenheit

Aus dem geschlechtlichen Umgang zwischen Mensch und Teufel kann Nachkommenschaft entstehen. Die Schwierigkeit der Erklärung dieser Tatsache wird behoben, wenn man sich klar macht, daß der Teufel zwar keinen eigenen Samen hat, wohl aber ihn sich von einem Manne verschaffen kann. Weil er nun sehr rasch und geschickt ist, so kann er dem Samen die nötige Wärme erhalten und ihn im geeigneten Augenblick dem Weibe eingießen. Vater des entstehenden Kindes ist dann aber nicht der Teufel, sondern der Mann, der den Samen lieferte. Die Hexen gestehen, daß der Samen, den ihnen der Teufel eingießt, kalt sei und kein Lustgefühl hervorrufe.

Seite 104Ketzer, wie Luther und Melanchthon behaupten, daß die Hexenfahrten nicht wirklich, sondern nur eingebildet seien. Die wahre Ansicht ist aber, daß die Hexen auf Ziegenböcken oder Besenstielen zu ihren Zusammenkünften reiten. Bei den Hexenzusammenkünften tanzt jeder Teufel mit dem ihm anvertrauten Weibe, und zwar lehnen die Tanzenden ihre Rücken gegeneinander. Nach dem Tanze wird Unzucht getrieben. »Wer behauptet, diese Dinge seien Träume und Phantasien, verfehlt sich zweifellos gegen die Ehrfurcht, die wir unserer Mutter, der Kirche, schulden. Denn die katholische Kirche bestraft keine Verbrechen, außer sie seien gewiß und offenbar, noch auch erklärt sie jemand für einen Ketzer, der nicht wirklich in Ketzerei verstrickt ist. Seit vielen Jahren hält aber die Kirche die Hexen für Ketzer und befiehlt, sie durch die Inquisitoren zu bestrafen und dem weltlichen Arm zu übergeben. Also entweder irrt die Kirche, oder ihre Gegner. Wer aber behaupten wollte, die Kirche irre in einer zum Glauben gehörigen Sache, der sei verflucht.«

Das zweite Buch behandelt dann weiterhin die Verwandlung der Hexen mit teuflischer Hilfe in Katzen, ob die Teufel bewirken können, daß die Seelen Abgestorbener den Lebenden erscheinen, über die Gespenster, von denen achtzehn verschiedene Arten unterschieden werden und führt endlich eine Fülle »Beweismaterial« an, eine Blütenlese von Blödsinn.

Das III. Buch, das u. a. ausführlich vom Liebeszauber handelt, enthält folgende schöne Geschichte, die sich »kürzlich« in Flandern, an einem Ort und Seite 105in einem Orden, die Delrio bekannt sind, die er aber beide — wohl aus Schonung — verschweigt, zutrug: Drei Mönche eines Klosters lebten sehr ausschweifend. Eines Abends zechten sie lange, als sie nun endlich genug hatten, sagte der eine: Gott sei gedankt! Der andere aber sagte: Dem Teufel sei gedankt! Dann legten sie sich jeder mit einem Mädchen zu Bett. Plötzlich geht die Tür auf und ein Teufel in Gestalt eines Jägers von schrecklichem Äußeren kommt herein, begleitet von zwei anderen Teufeln in Gestalt von Köchen. Mit furchtbarer Stimme fragte er: wo ist der, der mir gedankt hat? Er zieht den zu Tode Erschrockenen aus dem Bett und befiehlt seinen Begleitern ihn am Feuer zu rösten. Das geschieht und das Zimmer wird mit dem Gestank des verbrannten Menschenfleisches erfüllt.

Während das IV. Buch über Wahrsagerei handelt, erörtert Delrio im V. die Obliegenheiten des Richters und das Prozeßverfahren den Hexen gegenüber.

Die brutale Grausamkeit des Verfahrens, das fast ausnahmslos mit dem Tode auf dem Scheiterhaufen endete — die Bußfertigen wurden vorher erdrosselt — gehört nicht hierher, wohl aber die theoretische Begründung: Wer die Schandtaten der Hexen, besonders ihre nächtlichen Zusammenkünfte, leugnet, huldigt dem Atheismus und widersetzt sich der Kirche. Denn das Haupt der Kirche, ihre Zunge und ihr Mund ist der Papst. Viele römische Päpste haben aber die Inquisitoren ermahnt, eifrig und streng gegen die Hexen vorzugehen und diese Pest auszurotten. Seite 106Offen bekennen die Päpste, daß sie die Verbrechen der Hexen nicht für Wahnvorstellungen, sondern für tatsächliche Schandtaten halten.

Das geht nach Delrio nicht nur aus den päpstlichen Bullen hervor, sondern auch aus dem übereinstimmenden Urteil aller kirchlichen Gerichtshöfe in Spanien, Italien, Frankreich und Deutschland. Da die Kirche definiert hat, Hexen seien als wirkliche Verbrecherinnen zu bestrafen, so kann kein weltlicher Richter dieses Urteil aufheben und sagen, eine Hexe, die sich als solche bekannt habe, habe sich getäuscht, sondern er hat sie einfach zu verurteilen. Die Kirche, welche die Säule der Wahrheit ist, und der römische Papst, der die Zunge und der Mund der Kirche ist, und auf dem das Versprechen ruht: dein Glaube wird nicht wanken, erklären sich für die Tatsächlichkeit der von den Hexen begangenen Verbrechen.

Das VI. und letzte Buch handelt vom Amte und Pflichten des Beichtvaters bei den Hexenprozessen. Seine Aufgabe ist es, sich genau über den Teufelsvertrag zu erkundigen. Da kann er dann allerdings mancherlei erfahren: Ein junges Mädchen hat im Jahre 1594 in Südfrankreich ausgesagt: sie sei früh von einem Italiener verführt worden. Ihr Verführer habe sie am Vorabend des Festes Johannis des Täufers zur Mitternachtszeit auf das Feld geführt, dort habe er mit einem Stabe einen Kreis gezogen und gewisse Worte aus einem schwarzen Buche gelesen. Da sei plötzlich ein großer schwarzer Ziegenbock Seite 107erschienen, der gefragt habe, was sie hier wolle. Ihr Verführer habe geantwortet, sie wolle sich seinen Getreuen anschließen. Darauf mußte sie den Ziegenbock unter den Schwanz küssen. Später führte sie der Bock in ein benachbartes Gebüsch und vermischte sich mit ihr geschlechtlich. Bei diesem Akt habe sie keine Lust, sondern nur Schrecken gefühlt; die Samenergießung des Bocks habe in ihr eine eisige Empfindung erregt. Auch eine Messe sei in Gegenwart des Bocks gelesen worden. Über solche Einzelheiten des Verkehrs mit dem Teufel sind die Hexen vom Beichtvater zu befragen!

Es erfordert schon eine alles Menschliche übersteigende Portion von Verblendung nicht einzusehen, daß die Antworten durch Suggestion und Folter aus den Hexen herausgeholt wurden, nachdem die frommen Glaubensrichter den in ihrem eigenen Gehirn brodelnden Blödsinn in die armen Opfer hineingelegt hatten. Aber jahrhundertelang wollten die Inquisitoren und mit ihnen ihre Auftraggeberin, die Kirche, das nicht einsehen, sondern nahmen alles, was den armen Opfern erpreßt wurde, für bare Münze. Widerriefen aber die »Hexen« in den kurzen Zwischenpausen der Folter, dann war ihnen das nur ein erneuter Beweis für ihre Halsstarrigkeit und ihre Verbindung mit dem Satan!

Als Mittel gegen gewisse Zaubereien werden empfohlen: das vierblätterige Kleeblatt, das Blut eines schwarzen Hundes, das rechte Auge eines Wolfes, das Herz eines Hasen. Der Magnetstein versöhnt Mann und Weib usw. Ein natürliches Mittel gegen das durch Zauberei bewirkte geschlechtliche Unvermögen Seite 108der Ehegatten ist nach Delrio: sie sollen vor dem Schlafengehen im Schlafzimmer die Galle eines Fisches auf glühenden Kohlen verbrennen.

In der Abhandlung »von den kirchlichen Heilmitteln gegen Behexung« entwickelt Delrio, daß sie von Christus, den Aposteln und ihren Nachfolgern eingesetzt seien, den Teufel peinigten und häufig zum Bekenntnis der Wahrheit zwängen. In der Jesuitenmission von Peru wollte sich ein Indianer taufen lassen. Teufel in Gestalt von Vögeln und niederfallenden Steinen hinderten ihn daran, ja noch in der Kirche zeigten sich Teufel auf dem Kopfe stehend, die Beine in der Luft und schreckliche Huhurufe ausstoßend. Als aber die Messe anfing, hörte das alles auf und nach der Taufe war der Indianer von den teuflischen Anfechtungen ganz befreit. Solche »wahre« Geschichten werden in Fülle mitgeteilt.

Der Bischof von Brescia, Guido von Lacha, war im Rufe der Heiligkeit gestorben. Die päpstlichen Inquisitoren erkannten aber aus gewissen Anzeichen, daß er ein Ketzer gewesen sei. Daher ließen sie, überfließend vom Geiste wahren Christentums und treu den Gepflogenheiten ihrer Kirche, den Leichnam ausgraben, um ihn zu verbrennen. Aber vom Scheiterhaufen weg hoben die Teufel — die jedoch niemand sehen konnte — den Körper in die Luft, so daß das Volk dies als ein Zeichen der Heiligkeit des Verstorbenen auffaßte. Doch die Inquisitoren ließen sich nicht beirren. Man ließt die Messe zu Ehren der hl. Jungfrau. Bis zur Wandlung schwebt der Leichnam noch immer in der Luft, da rufen plötzlich die Teufel: O Guido von Lacha, Seite 109solange haben wir dich verteidigen können, jetzt ist ein Stärkerer da als wir. Und sogleich fiel der Körper auf den Scheiterhaufen zurück und verbrannte ohne weitere Schwierigkeiten.

Zum Schlusse wollen wir noch eine dieser erbaulichen Geschichten anführen: Im Jesuitenkollegium zu Graz trug sich folgendes zu: Am 22. März 1600 kam dorthin ein 22jähriger Jüngling, um einem der Patres zu gestehen, er habe sich vertraglich dem Teufel ergeben. Da er aber den Vertrag nicht gehalten habe, sei es ihm schlecht ergangen. Der Teufel erschien ihm darauf in Breslau wieder und versprach ihm 12 Jahre des größten Genusses, wenn er sich nach Ablauf dieser Zeit ihm mit Leib und Seele ergeben wolle. Der Jüngling schrieb darauf den Vertrag mit seinem eigenen Blut, das der Teufel ihm aus den Fingerspitzen preßte. Später erneuerte er den Vertrag wieder. Der Teufel schärfte dem Jüngling ein, besonders nie zu den Jesuiten zu gehen und schalt ihn, als er es doch getan hatte. Er versprach ihm sogar ein Buch, in dem die Namen aller Teufel eingetragen seien und die Art, jeden einzelnen herbeizurufen. Vom April bis Mitte Juni dauert nun der schreckliche Kampf der Jesuiten gegen den Teufel um den Jüngling, ein Kampf, in dem Erscheinungen und greuliche Unwetter miteinander abwechselten. Schließlich siegen aber die Jesuiten doch. Auf Befehl des Erzherzogs Ferdinand, nachmaligen Kaiser Ferdinand II. und des Bischofs von Sekau, wird am 18. Juni über die ganze Geschichte eine Predigt gehalten und der mit Blut geschriebene Teufelsvertrag öffentlich in der Jesuitenkirche verbrannt.

Seite 110Ein andermal zwingt Maria auf eindringliche Gebete des Bekehrten hin, dem Teufel einen solchen Vertrag wieder auszuliefern. Er erscheint in schrecklicher Gestalt und tut es unter Fluchen und Heulen.

Recht instruktiv ist das lange Kapitel, in dem Delrio gegen die Gegner des Hexen- und Teufelsglaubens vom Leder zieht. Wir erfahren daraus, daß es zumeist »anmaßende« Ärzte, Philologen und streitsüchtige Rechtsverdreher sind, die von Theologie keine Ahnung haben und lügen, wenn sie den Eifer der katholischen Kirche nach dieser Richtung hin bekritteln. Stützt sich doch dieser Eifer auf Gottes Gebot und auf das Wort des Apostels. Sie lügen, wenn sie die kirchlichen Exorzismen abergläubisch nennen.

Der Wert dieser Konstatierung liegt in der einwandfreien Feststellung, daß auch hier nicht etwa Fachkreise aus sich heraus eine verhängnisvolle Dummheit ablegten, sondern daß Outsider, Naturforscher und Denker, nötig waren, einen Irrwahn zu beseitigen, der sich ohne diese Hilfe von außen in alter Kraft bis heute erhalten hätte. Ist es doch eine Tatsache, daß Delrios Werk nicht minder als das von Institoris und Sprenger, das eine drei, das andere vier Jahrhunderte in Geltung sein konnten, in ungezählten Auf lagen neu gedruckt wurden — Delrio erlebte deren zwanzig — ohne daß die »heilige apostolische, katholische und römische Kirche« auch nur ein Wort des Tadels gefunden hätte.

Seite 111IV. Kapitel  Der Kampf um die religiöse Dummheit 1f602d

Es leuchtet ein, daß nur ein Volk, solange es auf recht primitiver kultureller Höhe steht, all den Blödsinn gläubig hinnimmt, den wir bisher kennen lernten. Gewiß wird das Beispiel der Theologen, in denen es die Intelligenz, die Männer verehrt, die die es in ihrer Hand haben, ewige Strafen oder ewigen Lohn zu verleihen, geraume Zeit alle Auflehnungsversuche des gesunden Menschenverstandes niederzuhalten wissen. Früher oder später wird aber zuerst bei einzelnen, dann bei breiteren Volksschichten der Augenblick eintreten, wo man die Ketten versuchen wird abzuschütteln.

Das war natürlich auch in unserer Geschichte der Fall. Wir meinen hier weniger die Reformation, die gewiß viel Gutes brachte, aber aus anderen Gründen entsprang und die schlimmsten Verstöße gegen den gesunden Menschenverstand zum guten Teile beließ. Wenn sie auch Dogmen und Priesterherrschaft verwarf, so richtete sie dafür doch desto höher das Regiment der Bibel auf. Da mag wohl die Frage Seite 112erlaubt sein, ob es an sich als ein so großer Sieg der Vernunft zu begrüßen ist, wenn der Papst, der doch als höchste Glaubensinstanz die Möglichkeit hat — ob er im guten Sinne von ihr Gebrauch machte, ist eine andere Frage — die Glaubenslehren an die Zeitforderungen anzuen, beseitigt wird, damit der kalte Buchstabe einer zwei Jahrtausende zurückliegenden Zeit unbeugsam herrscht.

Wir haben zunächst den Kampf der Vertreter des Fortschrittes gegen die überzeugten Verfechter der mittelalterlichen Anschauung im Auge und werden mit Staunen sehen, daß selbst Männer, die sonst verdienstlich wirkten und an deren Intelligenz kein Makel ist, für den kindischsten Aberglauben eintraten. Die suggestive Macht der altehrwürdigen Tradition, großer Namen, einer gewaltigen Organisation ist so ungeheuer, daß nur sie es begreiflich erscheinen läßt, wie der scharfe Verstand gelehrter Männer völlig stumpf wird in dieser Frage.

Als die fürchterliche Epidemie des Hexenwahnes, von Kirche und Papst gefördert und noch zu einer Zeit künstlich und mit den scheußlichsten Gewaltmitteln aufrecht erhalten, wo der Aberglaube, wie die im vorigen Kapitel angeführten Klagen darüber hinlänglich beweisen, im Volke längst im Schwinden begriffen war, ihren Höhepunkt erreicht hatte, ließ Johann Weier im Jahre 1563 sein Buch »De Praestigiis Daemonorum« erscheinen.

Dieser gelehrte Arzt aus Kleve hatte den Mut des gesunden Menschenverstandes, den seltensten und verdienstlichsten, den es gibt. Wenn er auch noch den Glauben an Hexerei mit der Mehrzahl seiner Seite 113Zeitgenossen teilte, so betonte er doch, daß viele der Opfer kirchlicher Verfolgung lediglich Wahnsinnige seien, also unschuldig hingerichtet würden. Ferner erklärte er, daß alle Hexen vom Teufel getäuscht würden, wenn sie behaupteten, durch die Luft zu fahren, mit ihm geschlechtlich zu verkehren usw. Der Teufel rede ihnen nur ein, daß sie das alles getan hätten. Damit trat ganz von selbst der Begriff der Besessenheit an Stelle der Hexerei. Wenn Weier nun weiterhin behauptete, daß der Teufel die Besessenen direkt und nicht durch Vermittlung einer Hexe plage, vielmehr aus Bosheit nur ein armes altes Weib in diesen scheußlichen Verdacht bringe, sowie, daß besonders Kranke und durch Gemütsleiden Geschwächte den Verführungen des Teufels zugänglich seien, und mit einem Appell an die Fürsten Europas schloß, dem Vergießen unschuldigen Blutes Einhalt zu tun, so ist ohne weiteres klar, daß sein Werk höchsten Lobes würdig ist. Mag er auch theoretisch noch auf irrigem Standpunkte stehen, so macht er doch praktisch der Menschlichkeit und Vernunft solche Konzessionen, daß die notwendige Folge des Buches eine bedeutende Abnahme, wo nicht ein Aufhören der Hexenprozesse sein mußte.

Wenn wir an dem Werke irgend etwas auszusetzen haben, so ist es die naive Anschauung vom Wirken des Teufels. Schließlich ist das nur eine dem Kausalitätsbedürfnis gemachte Konzession. Wir registrieren eben die Phänomene der Hysterie und Besessenheit, deren Ursachen wir oft nicht kennen, ohne sie auf den Teufel oder Dämonen zurückzuführen, Seite 114verzichten dafür aber auf eine kausale Begründung.

Auf alle Fälle tut Weier einen energischen Schritt auf der Bahn der natürlichen Erklärung und der Humanität nach vorwärts und es wäre sehr zweifelhaft, ob er klüger gehandelt und der Sache mehr genützt hätte, wenn er Dämonen und Teufel negiert hätte. Wahrscheinlich hätte dann das Buch, weil von den Zeitgenossen noch nicht verstanden, gar keine weitere Wirkung ausgeübt, als die, den Autor auf den Scheiterhaufen zu bringen.

Nun lebte damals in Frankreich Jean Bodin (c. 1530-1596), den seine Zeitgenossen für den bedeutendsten Mann seines Volkes hielten und der zweifellos ein ausgezeichneter Philosoph war. Sein Werk »De la république« (Paris 1577) legt dafür Zeugnis ab. Dieser kluge und tolerante Mann, der in seinem »Colloquium Heptaplomeres de rerum sublimium arcanis abditis« einen Standpunkt über den Religionen einnimmt und — damals etwas Unerhörtes — die Meinung äußert, daß jede ein Recht auf Anerkennung habe, wofern sie nicht gegen Staat, Sittlichkeit oder Gottesfurcht gerichtet sei, griff Weiers Buch heftig an! In seiner »Démonomanie des sorcières« beruft er sich auf die Autoritäten, die so einmütig und entscheidend über diesen Gegenstand seien, daß es keinem vernünftigen Menschen möglich wäre zu widerstehen. Er beruft sich ferner auf den Volksglauben aller Länder, aller Zeiten und aller Religionen, auf Aussprüche einer ungeheuren Anzahl von heidnischen Schriftstellern und Kirchenvätern, auf Gesetze gegen die Hexerei und auf Hunderte Seite 115von Fällen, die französische und andere Gerichte untersucht hätten. War er doch selbst soundsooft als Richter Vorsitzender bei solchen Prozessen gewesen!

Er berichtet dann mit den kleinsten und umständlichsten Details und mit unerschütterlicher Zuversicht alle Vorgänge beim Hexensabbat, die von den Hexen zur Luftfahrt angewandten Methoden, ihre Verwandlungen, ihren fleischlichen Verkehr mit dem Teufel, ihre verschiedenen Mittel, den Feinden zu schaden, die Zeichen, die zu ihrer Entdeckung führen, ihre Geständnisse nach der Verurteilung und ihr Benehmen auf dem Scheiterhaufen.

Was nun Weiers Buch betrifft, so kann Bodin kaum Worte finden, um sein Erstaunen und Mißfallen darüber auszudrücken, daß ein unbedeutender Doktor es gewagt haben sollte, sich der Autorität aller Zeitalter zu widersetzen. Daß dieser Mann ein solch unbegrenztes Vertrauen auf seine eigenen Ansichten und eine so übermäßige Mißachtung für die weisesten Menschen gehabt haben sollte, um mit skeptischem Geist die Wirklichkeit einer der bekanntesten vorhandenen Tatsachen zu tadeln und zu bekritteln, das wäre in der Tat das Übermaß menschlicher Anmaßung, der Höhepunkt menschlicher Beschränktheit. Aber die Gottlosigkeit sei noch größer, wie diese Vermessenheit, Weier hätte »sich gegen Gott gerüstet«, sein Buch sei ein Gewebe »schrecklicher Gotteslästerungen«. »Keiner, der noch so wenig von der Ehre Gottes berührt ist, könnte ohne gerechten Zorn derartige Lästerungen lesen.«

Weier hätte es nicht nur gewagt die Urteile so Seite 116vieler gewissenhafter Richter anzufechten, er hätte es versucht, jene, die die Heilige Schrift und die Stimme der Kirche als die schlimmsten Verbrecher brandmarkte, zu retten. Er hätte sich's sogar herausgenommen, die Zaubersprüche und Beschwörungsformeln, die er von einem berüchtigten Zauberer erlernt hatte, der Welt kundzumachen.

Mit diesem berüchtigten Zauberer meint Bodin den Cornelius Agrippa, Lehrer Weiers, der sich durch seine Bemühungen die Verfolgungen wegen Hexerei zu verhindern, sowie dadurch, daß er das Leben einer Bäuerin, die der Inquisitor Savon verbrennen wollte, rettete, ausgezeichnet hatte. Daher glaubte man allgemein, er sei mit dem Teufel im Bunde. Wegen Magie, die er mit dem Resultate studiert hatte, daß sie entweder auf Betrug oder einer höheren Kenntnis der Naturgesetze beruhe, war er ein Jahr eingesperrt gewesen. Agrippa hatte also dafür gebüßt, daß er in diesen Fragen seiner Zeit um Jahrhunderte voraus war.

Doch kehren wir zu Bodins Entrüstung über Weier zurück!

Wer könnte — meinte er — nach solchen furchtbaren Enthüllungen, wie sie Weiers Buch enthalte, ohne Bestürzung an die Zukunft der Christenheit glauben? Wer könnte in Frage stellen, daß die derartig verbreitete Wissenschaft die Zahl der Hexen ungeheuer vermehre, die Gewalt des Satans unendlich steigere und den Unschuldigen zahllose Leiden bringen werde? Niemand könnte nun mit mehr Recht ob seiner Gesinnung beargwöhnt werden, wie Weier, der ein so gottloses Buch geschrieben Seite 117habe und eine solche Vertrautheit mit den Geheimnissen eines so gottlosen Gewerbes gezeigt habe.

Denen zu verzeihen, die Gottes Gesetz zum Tode verdamme, läge außerhalb der Kompetenzen der Fürsten. Wer sich solcher Handlungen schuldig mache, hätte die Majestät des Himmels beleidigt. So sei der frühe Tod Karls IX. von Frankreich darauf zurückzuführen, daß er das Leben des berüchtigten Zauberers Trois-Echelles geschont habe unter der Bedingung, daß er seine Mitschuldigen nenne. »Denn das Wort Gottes lautet sehr bestimmt, daß derjenige, der einen des Todes Schuldigen entrinnen läßt, die Strafe auf sich selbst zieht, wie der Prophet zum König Ahab sagte, er müsse sterben, weil er einem Manne verziehen, der des Todes schuldig war. Denn niemand hätte jemals gehört, daß Zauberern Gnade widerfahren wäre[1]

Wie kam nun einer der gebildetsten Geister Europas gegen Ende des 16. Jahrhunderts — die »Démonomanie des Sorciers« erschien 1581 — dazu einen Irrwahn, den sämtliche Zeitgenossen, wenigstens so weit sie sich literarisch zu äußern wagten, teilten, noch durch das Gewicht seines Namens zu stützen?

Da ist zunächst zu berücksichtigen, daß die Kirche, wie wir sehen, eine bis in alle Einzelheiten ausgebaute Lehre von Hexerei und Zauberei besaß. Doch das allein genügt nicht. Bodin hatte als Richter ja selbst die Geständnisse der Angeschuldigten gehört. Der Irrtum, daß die Tortur die Wahrheit enthülle, statt der richtigen Ansicht, daß ihre Qualen fast jeden zu jeder gewollten Aussage bewogen, spielt weiter Seite 118eine große Rolle. Dazu kommt, daß viele der sogenannten Hexen selbst fest davon überzeugt waren, daß sie der inkriminierten Handlungen sich schuldig gemacht hatten, weil der von der Kirche, wo nicht erzeugte, so doch sicherlich gepflegte Wahn allen ins Blut übergegangen war. Und endlich — und das ist die letzte Wurzel — weil die Autorität der Kirche immer noch unumstößlich feststand, selbst bei einem Manne, wie Bodin, der wegen seiner Toleranz gegen die Protestanten fast ein Opfer der Bartholomäusnacht geworden wäre.

Die Dummheit Bodins bestand im wesentlichen eben in seinem Autoritätsglauben. Autoritätsglauben in Fragen der Wissenschaft ist eine der verhängnisvollsten, den Fortschritt am meisten hemmenden Dummheiten.

Die Hexenverfolgungen nahmen in Frankreich unter dem Einflusse Voltaires und seines Spottes immer mehr ab, um schließlich ganz aufzuhören, nachdem noch im Jahre 1718 das Parlament von Bordeaux einen Mann als Zauberer verbrennen ließ. Daß trotzdem die Geister- und Teufelsbannformeln in der römisch-katholischen Kirche bis auf den heutigen Tag im Rituale blieben und das ganze 18. Jahrhundert hindurch angewandt wurden, ist allerdings richtig, ebenso, daß mancherlei Versuche von geistlicher Seite, die alte Praxis wieder einzuführen, gemacht wurden.

Als diese erfolglos blieben, da gab zu Anfang des 19. Jahrhunderts der Abbé Fiard ein diese beklagenswerte Tatsache erklärendes Werk heraus. Er wies darin nach, daß die Philosophen und Seite 119die Revolutionäre des 18. Jahrhunderts die Repräsentanten der alten Zauberer wären, daß sie unter der unmittelbaren Eingebung des Satans handelten und daß ihr Erfolg ganz und gar der Satansgewalt zuzuschreiben sei. In gläubigen Kreisen hatte man sich nämlich gar nicht daran gewöhnen können, daß der Satan, der bisher eine solche Rolle gespielt hatte, daß man seine höllischen Komplizen, die Hexen und Zauberer, mit Feuer und Schwert, durch Kirchen- und Staatsgewalt kaum hatte unterdrücken können, so plötzlich seine Gewalt hätte verloren haben sollen.

Fiard bewies seine immerhin nicht alltägliche These durch den Hinweis, daß viele große und erschreckende Wunder die philosophische Bewegung begleitet und daß diese Wunder noch jetzt nicht aufgehört hätten. Die Kuren Mesmers so gut wie die Prophezeiungen Cagliostros müßten der übernatürlichen Wirksamkeit zugeschrieben werden. Das schrecklichste aber von allen Zeichen der teuflischen Gegenwart sei das immer mehr zunehmende Vorkommen der Bauchrednerei! Gottlob sind wir über diesen Gegenstand nicht auf unsere eigenen Vermutungen angewiesen, da ja einige der gelehrtesten Geistlichen des 14. Jahrhunderts feierlich erklärt hätten, daß der Mensch angewiesen sei mit dem Munde zu sprechen und daß, so oft er in irgendeiner anderen Weise spräche, er es mit Hilfe des Teufels täte[2].

Im protestantischen England stand es um diesen Wahnwitz nicht viel besser, als bei uns oder in Frankreich.

Während unter Heinrich VIII. von England Seite 120nur sehr wenige Hinrichtungen von Hexen und Zauberern stattgefunden hatten und das Hexengesetz unter seinem Nachfolger überhaupt aufgehoben wurde, führte die »jungfräuliche Königin« Elisabeth es wieder ein und zwar schon bei ihrer Thronbesteigung. Als der Bischof Jewel vor der Königin predigte und auf die Vermehrung der Hexen zu sprechen kam, drückte er die Hoffnung aus, daß die Strafen noch mehr verschärft würden, wiewohl Elisabeth neue Gesetze, die mit Strenge vollzogen wurden, gemacht hatte.

Der Streiter Gottes sagte zur Königin: »Mögen Eure Gnaden geruhen, sich von der wunderbaren Vermehrung zu überzeugen, die Zauberer und Hexen in den letzten Jahren in Ihrem Königreiche genommen haben. Euer Gnaden Untertanen schwinden dahin bis zum Tode, ihre Farbe verbleicht, ihr Fleisch modert, ihre Sprache wird dumpf, ihr Sinn betäubt. Ich bitte Gott, daß die Zauberer ihre Kraft niemals weiter anwenden mögen, als an den Untertanen.«

Trotz dieser Scharfmacherei blieben die Gesetze weit milder, als auf dem Festlande, da die Hexen, denen man nicht nachweisen konnte jemandem durch ihre Zauberformeln geschadet zu haben, beim erstenmal nur mit Pranger oder Gefängnis bestraft wurden, während die zum Tode verurteilten am Galgen und nicht auf dem Scheiterhaufen sterben mußten. Ferner wurde gegen sie keine Tortur angewandt, sondern nur die Nadelprobe, bei der die Opfer über den ganzen Körper gestochen wurden, um das unempfindliche Mal (stigma diabolicum) zu finden — daß es sich hier um hysterische Anästhesie handelt, liegt auf der Hand! — oder man unterzog sie dem Hexenbad. Seite 121Hier galt das Schwimmen auf dem Wasser als Zeichen von Schuld, da das reine Element eine Hexe nicht aufnahm, Untersinken aber war ein Beweis für die Unschuld. Endlich störte man mehrere Nächte hindurch den Schlaf der Angeklagten, um so ein Geständnis zu erpressen, ein heute noch in Amerika bei Strafverhören als »dritter Grad« übliches Verfahren, das allerdings wenig humaner ist, als die Folter.

Gegen diese grausamen oder einfältigen Methoden schrieb im Jahre 1584 ein Laie (natürlich!) namens Reginald Scott seine »Enthüllungen der Hexerei« (Discovery of Witchcraft) und bewies mit größter Geschicklichkeit die Grausamkeit und Torheit der Verfolgung und die Einfältigkeit des ganzen Hexenwahns. Wiewohl dieser Angriff der denkbar geschickteste war, im volkstümlichen Stile geschrieben, jeden Denkenden überzeugen mußte, verfehlte er seine Wirkung. Das wird den Kenner der menschlichen Dummheit in keiner Weise verwundern, denn was will Logik, gesunder Menschenverstand, Gelehrsamkeit oder gar Humanität ausrichten, wenn es sich um Dummheiten handelt, die die Religion als Mutter verehren!

Jakob I., weit entfernt sich überzeugen zu lassen, verfolgte nur desto heftiger, war er doch überzeugt, daß die stürmische Seefahrt bei seiner Rückkehr von Dänemark, ein Werk der Hexen gewesen sei, und daß der Teufel ihn für seinen fürchterlichsten Gegner ansehe. Er ließ hinfort die Hexen schon bei der ersten Übertretung töten, selbst wenn sie ihren Nächsten keinen Schaden zugefügt hätten. Dieses Gesetz trat in Kraft, als Coke Kronanwalt und Bacon Seite 122Parlamentsmitglied war und zwölf Bischöfe in der Kommission saßen, der es überwiesen war. Die Verfolgungen wurden heftiger, zugleich drang der Aberglaube tiefer in die Literatur und in das Volk ein. Denn die Dummheiten, die oben gemacht werden, verbinden mit dem Zauber, der jeder Dummheit schon von Natur eigen ist, noch den Nymbus der Majestät.

Damals konnte Sir Thomas Browne erklären, daß diejenigen, die das Vorhandensein der Hexerei leugneten, nicht bloß Ungläubige, sondern mittelbar auch Gottesleugner wären. Übrigens glaubte er selbst weder an Incubi, noch an Lykanthropie.

Bacon konnte in einem seiner wichtigsten Werke als die drei »Abweichungen von der Religion« Ketzerei, Abgötterei und Hexerei bezeichnen. Daß Shakespeare an die Wirklichkeit der Hexerei glaubte, beweisen seine Hexen im Macbeth nicht minder, wie das entstellte Bild, das er von der Jungfrau von Orleans zeichnet.

So wirkte in einem protestantischen Lande — das ist zu beachten! — die obrigkeitliche Dummheit Tod und Verderben bringend fort! Aber es wurde noch schlimmer[3].

Die Puritaner, die mit Cromwell die Gewalt erlangten, waren geneigt in allem, was ihnen nicht paßte, satanischen Einfluß zu erblicken. Als Unruhen in der Grafschaft Suffolk entstanden, erklärte der berüchtigte Hexenfinder Matthew Hopkins sie von Hexen verpestet. Eine Kommission, begleitet von zwei vom Parlament ausgewählten ausgezeichneten presbyterianischen Geistlichen, leitete dort die Untersuchung, und Seite 123in einem Jahre mußten in der einen Grafschaft 60 Personen als Zauberer für die Dummheit ihrer Zeitgenossen am Galgen büßen. Während der wenigen Jahre der Republik wurden mehr Personen wegen Hexerei und Zauberei zu Tode befördert, als in der ganzen Periode vor und nachher.

Doch von langer Dauer war der Wahn in dem so nüchternen und klugen England nicht und sein letztes Stündlein hätte noch eher geschlagen, würde er nicht in der Person des Joseph Glanvil einen eifrigen Verteidiger gefunden haben. Dieser zu seiner Zeit berühmte Geistliche, in dessen Händen siebzehn Jahre lang die Verteidigung des sterbenden Glaubens gelegen hatte, ein relativ aufgeklärter und sogar skeptischer Kopf, Freund der induktiven Methode, die in erster Linie dazu berufen war, der mittelalterlichen Spekulation den Todesstoß zu versetzen, sollte zum Hexenanwalt werden.

In seinem »Sadducismus Triumphatus« schrieb Glanvil eines der geschicktesten Bücher, die je zur Verteidigung des Aberglaubens verfaßt worden sind. Zunächst klagt er über den raschen Fortschritt des Skeptizismus in England, in dessen Folge es in den oberen Klassen Mode geworden sei, nicht mehr an Hexerei zu glauben. Wir machen hier wieder die interessante Beobachtung, daß, wie einst die katholische Kirche im 16. Jahrhundert über das rasche Schwinden des Hexenglaubens im Volke klagte und deshalb mit Gewalt die entweichende Dummheit festhalten wollte, so im protestantischen England ebenfalls die Geistlichkeit in sich den Beruf fühlte, sich gegen die Aufklärung des Volkes zu stemmen. Übrigens ist sie Seite 124sich in diesem Punkte, dem Festhalten an alter Torheit, bis zur Stunde treu geblieben, wenn auch Verteidiger des Inkubus sich in der Regel nicht mehr ins dichteste Gewühl wagen.

Glanvil sucht vor allem zu beweisen, daß die Annahme, Hexerei sei abgeschmackt, lächerlich oder unwahrscheinlich sei. Mit Recht konstatiert er, daß es eine Leichtgläubigkeit des Unglaubens gäbe, er irrt eben nur in der Annahme, daß ein solcher Fall der Hexerei gegenüber vorliegt. Sein Buch, mit Logik und großem Wissen, mit einem Schein von Skeptizismus und viel Material aus der Bibel so gut wie aus der Praxis der Gerichtshöfe ausgestattet, hatte einen außerordentlichen Erfolg.

Der berühmte Philosoph Henry More schrieb eine Lobrede auf Glanvil und unterstützte seine Beweisführung durch neues Material. Die Gegner des Hexenglaubens nannte er »Gaukler, die lediglich von Unwissenheit, Eitelkeit und dummen Unglauben aufgeblasen seien«. Casaubonus, der gelehrte Dekan von Canterbury, schrieb im gleichen Sinne. Cudworth, wohl der tiefste Denker der englischen Kirche, meinte, der Skeptizismus gegen den Hexenglauben sei hauptsächlich eine Folge des Einflusses von Hobbes und fügte hinzu, daß diejenigen, die dem Skeptizismus huldigten, mit Recht des Atheismus verdächtigt werden könnten.

Die Gegner des Aberglaubens konnten dem allen keinen Autor von Namen, kein Buch von Erfolg entgegensetzen, was aber keineswegs hinderte, daß der Skeptizismus und damit die Vernunft ständig zunahmen.

Seite 125Nun wird man mit vollem Rechte sagen können, daß Hexen und Teufel ebenso möglich sind, wie Gott und Engel. Denn wie können wir mit unserer geringen Kenntnis vom Weltganzen die Unmöglichkeit irgendeiner Erscheinung genügend beweisen? Um wie viel weniger konnten es frühere Jahrhunderte, die noch viel weniger Naturgesetze erkannt hatten und deshalb viel häufiger zu Hilfshypothesen, wie sie ihnen Engel und Teufel boten, greifen mußten? War aber die Möglichkeit eines solchen Glaubens gegeben, dann handelte es sich nur darum, die Wirklichkeit zu beweisen, und dafür standen Bibel und Autoritäten, Kirche und Gerichtsprotokolle, ja die Aussagen der Beschuldigten selbst zu Gebote. Die Dummheit eines Bodin, eines Glanvil und wie sie alle heißen, bestand also viel weniger in der Art der Beantwortung der Frage, sondern vielmehr in deren Stellung. Denn daß die Hexenverfolgungen nirgends Gutes gestiftet hatten, also praktisch wertlos waren, selbst wenn sie theoretisch berechtigt gewesen wären, müßte doch jedermann klar sein.

Auch die Neue Welt, die so mancher Auswanderer aus keinem anderen Grunde aufgesucht hatte, als um dort unter selbstgegebenen Gesetzen ledig jedes Glaubenszwanges zu leben, wurde von der Seuche ergriffen. Daß das gerade in eine Zeit der größten naturwissenschaftlichen Entdeckungen fällt, ist gewiß beachtenswert.

Einer von Cotton Mather geschriebenen Geschichte der ältesten Hexenprozesse und einem Werke des Richard Baxter über »Die Gewißheit der Geisterwelt«, das im Jahre 1691 erschien, war es zuzuschreiben, Seite 126daß auch in Nordamerika die Hexenverfolgung durch die Geistlichkeit mit Eifer betrieben wurde. Die Grausamkeit, mit der sie auch hier vorging, erhellt daraus, daß ein achtzigjähriger Mann zu Tode gequetscht wurde, 27 Personen wurden in Massachusetts hingerichtet. Auch hier wurde von der Geistlichkeit, von gebildeten Männern, ein törichter und grausamer Aberglaube neuerdings erzeugt, nachdem der gesunde Menschenverstand der Laien ihn bereits abgelegt hatte.

Übrigens wurde in England, wo im Gegensatz zu Amerika der Skeptizismus sehr schnell die Oberhand bekam und wo die anglikanische Kirche im Gegensatz zum Katholizismus und zum Puritanismus nie viel Unheil angerichtet hatte, der letzte Prozeß dieser Art gegen Johanna Wenham in Herfordshire im Jahre 1712 geführt. Gegen den Willen des Richters verurteilte eine stumpfsinnige Geschworenenbank die Angeklagte zum Tode, doch war es dem Richter nicht schwer, das durch geistlichen Einfluß zustande gekommene Urteil zu mildern. Im Jahre 1736 wurden in England die Hexengesetze ohne Schwierigkeiten oder Agitation aufgehoben[4].

Wo der Puritanismus herrschte, da sah es allerdings schlimm um die Beseitigung des Aberglaubens aus. Das arme Schottland kann ein Lied singen von den Zuständen unter der Herrschaft einer Geistlichkeit, der kein gebildetes Laienpublikum ein Gegengewicht bietet. Die dort herrschenden Puritaner hielten das Volk in willenloser Sklaverei, verstanden es durch unerbittliche barbarische Tyrannei jeden Widerstand zu brechen, alles in Furcht zu erhalten, das ganze Volk durch ihre düstern und törichten Lehren zu verseuchen Seite 127und jedermann zur unbedingten Vollstreckung ihrer kirchlichen Anordnungen zu zwingen. Von dem System religiösen Terrorismus, das die puritanische Geistlichkeit ausarbeitete, um sich den Volksgeist völlig untertan zu machen, können wir uns kaum mehr eine Vorstellung bilden.

Die schauderhaftesten Gestalten menschlichen Leidens wurden als schwache Abbilder der ewigen Verdammnis zusammengehäuft, nicht ohne liebevoll zu betonen, daß die Mehrzahl der Menschheit diesem Lose verfallen sei. Man erzählte zahllose schreckliche Wunder, die im Lande iert sein sollten. Krankheit, Sturm, Hungersnot, jeder Unfall, der Menschen, Vieh oder Feldfrüchte traf, wurde der unmittelbaren Einwirkung der Geister zugeschrieben. Daß der Satan beständig in sichtbarer Gestalt auf Erden wandle, war eine ausgemachte Sache.

Nun mag es ja ganz klug von der Geistlichkeit gewesen sein, durch die spukhaftesten Schreckgestalten sich die Herrschaft über ein unwissendes Volk zu sichern und so im Trüben zu fischen. Aber wie unsagbar dumm von den Regierten, sich diesen blauen Dunst vormachen zu lassen! Ihm zuliebe auf Lebensfreude, auf Wissen, auf Freiheit zu verzichten!

Natürlich breitete sich unter diesen Seelenhirten der Hexenglaube in erschreckender Weise aus und nahm den düstersten Charakter an. Während er in andern Ländern wenigstens mit viel Betrug gemischt war, scheint er in Schottland ganz unverfälscht gewesen zu sein. Buckle weist wenigstens darauf hin, daß im Gegensatz zu andern Ländern in schottischen Hexenprozessen keine Fälle von Betrug Seite 128entdeckt werden könnten. Die frommen Schotten nahmen also alles für bare Münze. Und doch gab es in Schottland vor 1563 überhaupt kein Gesetz gegen Hexerei. Die Hexenverfolgung und die Hexenprozesse sind also ausschließliches Verdienst des Puritanismus.

Die Grausamkeit der Verfolgung stand auf gleicher Höhe wie die Dummheit des Wahnes, der, dank der rastlosen Geistlichkeit, dem Volke mehr und mehr in Fleisch und Blut überging. Es war es ganz zufrieden, daß es von der Geistlichkeit zur Schlachtbank geführt wurde noch zu einer Zeit, wo anderwärts — außer natürlich in fanatisch katholischen Ländern — unter dem Einflusse der Wissenschaft und der Aufklärung der gesunde Menschenverstand zu Worte kam und die Ausgeburten einer überhitzten pfäffischen Phantasie in die dunkelsten Höhlen verscheuchte.

Man stellte in den Kirchen Kasten mit Spalten im Deckel auf, um durch Anonymität die Anschuldigungen auf Hexerei zu erleichtern. Sobald eine Frau verdächtigt wurde, klagte sie der Geistliche von der Kanzel mit Nennung ihres Namens an, ermahnte seine Pfarrkinder gegen sie Zeugnis abzulegen und verbot jedem, ihr Schutz angedeihen zu lassen. Die Geistlichkeit hatte sich eine Parochialverfassung gegeben, die ihr die Hexenfälle ganz in die Hände legte. Sie wer es, die die Kommissionen leitete, vor ihr wurden die Geständnisse abgelegt, sie stellte die entscheidenden Zeugen oder die Leiter der Tortur zur Erpressung von Geständnissen. Und welche Martern wandte man an zur Erreichung dieses fluchwürdigen Zwecks!

An Grausamkeit ist die Geistlichkeit ja stets eine Meisterin gewesen und es fragt sich nur, ob man Seite 129mit mehr Recht dieser, der Herrschsucht, Borniertheit oder heimtückischer Falschheit den Gegnern gegenüber die Palme zuerkennen muß. Die katholischen Hexenverfolgungen nach den Anweisungen eines Sprengers wurden von denen der Puritaner kaum überboten.

So wurden in Schottland im Jahre 1662 mehr als 150 Personen der Hexerei angeklagt. Ein Reisender sah 1664 in Leith neun Frauen zusammen verbrennen, im Jahre 1678 wurden neun andere an einem einzigen Tage verurteilt. War es in katholischen Ländern wohl so und so oft vorgekommen, daß die Kirche sich über die weltliche Obrigkeit beklagen mußte, weil sie sich weigerte, ein Urteil zu vollstrecken, so scheinen solche lichte Augenblicke bei Schottlands Regierung nicht eingetreten zu sein. Die Allmacht der geistlichen Dummheit und das Raffinement des pfäffischen Verdummungssystems hatten sie völlig bezwungen. Richtete man doch — im Gegensatz zu katholischen Ländern — sogar solche »Hexen« hin, die ihre Kunst nur zum Heilen der Kranken anwendeten!

Wurde noch im Jahre 1727 dort eine Frau verbrannt, so erließen noch im Jahre 1773 die »Geistlichen des vereinigten Presbyteriums« eine Resolution, in der sie ihren Glauben an die Hexerei erklärten und den allgemein gewordenen Skeptizismus beklagten. Intoleranz und Aberglaube bis in die Gegenwart waren die Folge dieser seelenhirtlichen Verdummung. In Irland wurde das letzte Hexengesetz gar erst 1821 aufgehoben[5].

Dafür zeichnet sich das kalvinistische Genf vor den anderen katholischen und protestantischen Staaten durch frühzeitige Abschaffung der Hexenprozesse aus, Seite 130»dergestalt, daß in Genève seit dem Jahre 1652 niemand mehr wegen solches beschuldigten Verbrechens verbrannt worden, und man auch nichts von vielen solchen Fabeln, womit noch manche andere Länder angefüllet sind, allhier höret oder weiß.« Für Keyßler aber, dem wir diese Notiz entnehmen, zeugt, daß er in einer Anmerkung die Vermutung ausspricht, die Nachwelt werde den Greuel, des zu seiner Zeit geführten Würzburger Hexenprozesses nicht Glauben schenken[6]. Und zwar besuchte Keyßler Genf schon 1729. Es gab also auch in Deutschland selbständige, aufgeklärte Köpfe, die den Hexenunfug verabscheuten. Allerdings fast nur in Laienkreisen.

Daß man auf Seiten unserer Theologen nicht minder fest am alten Blödsinn festhielt, wie in andern Ländern, wird niemand wundernehmen.

Als Thomasius, der erfolgreiche Bekämpfer der Hexenprozesse, daran ging, die sinnliche Vorstellung vom Teufel zu zerstören, wobei er aber ausdrücklich betont, »daß zwar ein Teufel außer dem Menschen sei, und daß derselbe gleichsam von außen, jedoch auf innerliche und unsichtbare Weise in den Gottlosen sein Wesen treibe«, erregte er einen Sturm der Entrüstung. Nicht nur die Theologen, auch die Juristen nahmen gegen ihn Partei; allerdings hatte er beide scharf angegriffen. Eine dieser Gegenschriften führte folgenden Titel: »Petri Goldschmidts Huso-Cimbri p. t. Pastor Sterup. Verworffener Hexen und Zauberer Advokat. Das ist: Wolgegründete Vernichtung des thörichten Vorhabens Hn. Christiani Thomasii J. U. D. et Professoris Hallensis und aller derer, welche durch ihre superkluge Phantasie-Grillen dem Seite 131teufflischen Hexengeschmeiß das Wort reden wollen. Indem gegen dieselben aus dem unwiedersprechlichen göttlichen Worte und der täglich lehrenden Erfahrung das Gegentheil zur Genüge angewiesen und bestättiget wird, daß in der That eine teufflische Hexerey und Zauberey sey etc.« — Hamburg 1705.

Der Verfasser führt die Beweiskraft der Bibel an, in der der Teufel vorkomme, ferner die tägliche Erfahrung. In der »Zuschrift«, die an Friedrich IV. von Dänemark gerichtet ist, behauptet der Verfasser, durch sein Buch werde »die Wahrheit der göttlichen Schrift betreffend das Zauber- und Hexenwesen gegen einen frechredenden Philosophaster und Gottes-Wort-Schänder vertheidiget«. Er behauptet über Thomasius, »daß alle seine Reden nichtig, betrieglich und die göttliche Schrifft und gesunde Vernunfft äffende seyn« und spricht von »närrischen Vernunft-Grillen«.

Und doch war das Wesen und — in unseren Augen — das Verdienst von Thomasius Auftreten nur die Leugnung der Körperlichkeit des Teufels, was dann mit Notwendigkeit einen fleischlichen Umgang mit den »Hexen« ausschloß. Der Verfasser — notabene nur einer von einer Anzahl gleichdenkender fanatischer Verteidiger altehrwürdiger Dummheit und darum Geistesverwandter gar manches Zeitgenossen — versichert, daß »nichts auf der Welt zu ersinnen (sei), welches der Göttlichen Schrifft mehr Verachtung, Spott, Hohn und Gelächter verursachen und den subtilen Atheismum in die Gemüther der Menschen hinein flößen kann, wodurch bey ihnen das Fundament des Glaubens in Zweiffel gezogen und die göttliche Schrifft ihrer Autorität gäntzlich mag beraubet werden, als daß man für gewiß Seite 132hält, daß die Engel und Teuffel anders nicht seyn, als Schwärmereyen unsrer Phantasie und närrische Gebuhrten des Temperaments.« Daß Thomasius ein Atheist war, ist in des Angreifers Augen ausgemachte Sache[7].


Dieser kurze Streifzug durch die Geschichte des Kampfes zwischen dem erwachenden gesunden Menschenverstand und der hinter festen Bollwerken gut verschanzt liegenden Dummheit möge genügen.

Wir gehen nun zu der Frage über, wie es möglich war, das Volk in seiner überwiegenden Mehrheit in der Geistesverfassung von Anno dazumal festzuhalten. Dazu gab es außer der suggestiven Wirkung der Hexen- und Teufelslehre, sowie der Prozesse, noch ein vortreffliches Mittel, die Bücherzensur, die nicht nur verhütete, daß ketzerische Gedanken von Landeskindern durch den Druck Verbreitung fanden, sondern auch die Einfuhr solcher Erzeugnisse unterband. Gelang es so, das Land gegen alle fremden Gedanken hermetrisch abzuschließen, autochthone aber nicht aufkommen zu lassen, dann, sollte man meinen, müßte das Regiment der Dummheit für ewige Zeiten garantiert sein.

Die Zensur war gleich dem Buchhandel im alten Reiche durch eine Reihe von Reichsabschieden eingeführt und geregelt. Schon der vom Jahre 1524 machte es jeder Obrigkeit zur Pflicht, bei ihren Druckereien und sonst überall zu kontrollieren, daß Schmähschriften und Gemälde gänzlich beseitigt würden. Zugleich sei aber darauf zu halten, daß nicht Gutes zugleich mit dem Bösen unterdrückt würde.

Diese zweifellos sehr verständige Verfügung — wofern wir überhaupt irgendwelche Zensur für verständig Seite 133halten können — wurde in der Folgezeit ergänzt, aber gewiß nicht zu ihrem Besten. So lautet der Speirer Reichsabschied von 1529 schon wesentlich strenger:

»Es soll in allen Druckereien und bei allen Buchführern Vorsehung getan werden, daß weiter nichts Neues und sonderlich keine Schmähschriften gedruckt und zu Kauf getragen werden, sondern was gedichtet, gedruckt und feilgehalten wird, soll zuvor von jeder Obrigkeit dazu verordneten, verständigen Personen besichtigt, und so Mangel daran befunden zu drucken und feil zu haben bei großer Strafe der Dichter, Drucker und Verkäufer verboten werden.«

Die Angst vor den Schmähschriften entsprang selbstverständlich nicht der Sorge um das Wohl bzw. die Ehre der Untertanen, sondern vielmehr der Angst vor Kritik der Kirche, Obrigkeit und ihrer geheiligten Institutionen.

Das geht schon ganz klar aus dem Augsburger Reichsabschied von 1548 hervor, der den Druck von Büchern verbietet, die schmählich und aufrührerisch befunden würden und den Lehren der christlichen Kirchen und den Reichstagabschieden nicht gemäß seien, oder »zu Unruh und Weiterung« Ursache gäben.

Daß diese albernen Verfügungen nicht viel nützten geht daraus hervor, daß schon der Reichstag von 1577 sich nicht damit begnügt, die früheren Verbote mit Ausdehnung auf Verleger und Buchhändler zu wiederholen, sondern noch hinzufügt, »daß künftighin im ganzen römischen Reiche die Buchdruckereien nur in Residenz, Universitäts- und Reichsstädten geduldet werden, alle Winkeldruckereien aber stracks abgeschafft werden sollen. Auch soll kein Buchdrucker zugelassen Seite 134werden, der nicht seine Ansässigkeit, Ehrbarkeit und Tauglichkeit nachgewiesen und die Beobachtung dieser Satzungen beschworen hat. »Es wurden auch die Verträge verboten, die — höchst bezeichnend für den mittelalterlichen Geist — die Klausel enthielten, daß der Schuldner dem Gläubiger für den Fall des Nichtbezahlens die Erlaubnis einräumte, ihn mit Schmähschriften zu verfolgen.

Wie die Schlinge, die dazu angetan war, allmählich jegliche Gedankenfreiheit zu erdrosseln, immer enger gezogen werden sollte und auch wurde, geht aus dem Reichstagsschluß von 1715 deutlich hervor. Dieser bestätigt die früheren Verordnungen und fügt erläuternd hinzu: »daß alle Prediger, Gelehrte, Buchdrucker, Verleger, Buchführer, Bücherkommissionen sich in Beziehung auf alle Glaubens- und Staatssachen betreffende Schriften genau an diese Satzungen zu halten haben, auch bei allen Buchdruckereien verständige Censores anzustellen seien, welche auf genaue Durchsehung dieser Schriften, sowie auf strenge Wachsamkeit gegen das Einführen schädlicher Bücher aus fremden Ländern zu verflichten sind. Gegen alle diejenigen aber, die sich gegen diese Reichssatzungen verfehlen, soll mit Verhaftung, Untersuchung und Strafe am Vermögen, und nach Umständen an Ehre, Leib, Gut und Blut eingeschritten werden.«

Das kaiserliche Bücherpatent von 1746 verordnet gar, daß jeder Drucker oder Buchhändler fortan eine vollständige und aufrichtige Designation aller seiner zum Verkaufe habender Druckschriften dem Bücherkommissariate in den ersten Meßwochen vorzulegen Seite 135und dem gewöhnlichen Catalogo nundinarum einzuverleiben habe[8].

Diese reichsgesetzlichen Bestimmungen, die doch gewiß knebelnd genug waren, wurden von der Landesgesetzgebung noch teilweise überboten.

Wenn es mit Berücksichtigung der damaligen Borniertheit in konfessionellen Fragen auch nicht verwundern wird, daß man in protestantischen Ländern katholische, in katholischen Ländern aber protestantische Glaubensbücher zurückwies, so begnügte man sich doch keineswegs hiermit. Das Beispiel der bayerischen Gesetzgebung in dieser Frage möge darüber informieren, wie weit man sich in systematischer Volksverdummung vorwagen kann. Den Jesuiten, den Vorkämpfern gegen jegliche Geistesfreiheit, gebührt hier die Palme.

Daß man es in erster Linie auf die Jugend abgesehen hatte, um so die kommende Generation für sich zu haben, ist einleuchtend.

Die Schulordnung für Ober- und Niederbayern, die im Jahre 1569 in München erschien, enthält neben manchem verständigen Wort, folgenden köstlichen us:

»Bei allen lateinischen Schulen sind verboten: die Schriften aller derjenigen, die sich von der alten Religion abgesondert haben, und zwar nicht allein ihre theologischen Werke, sondern auch die über Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Physik, die bisher in den Schulen umhergezogen wurden. Denn obgleich die Lehrmethode dieser Leute anmutig und leichter als die ist, welche in den Schulen gebräuchlich gewesen, fehlt es doch Seite 136jetzt auch bei den Katholiken nicht mehr an solchen Werken.«

Dieselbe Schulordnung verbot, daß in den Klöstern irgendwelche alte Autoren, besonders in der Poesie gelesen würden. Denn da es sich doch nur um das gute Latein handle, dieses aber bei den christlichen Autoren ebenso gut sei, so seien letztere vorzuziehen[9].

Ein bayerisches Gesetz vom 6. Juli 1616, das strenge Verfügungen über den Buchdruck und Handel enthält, verbietet alle Bücher, von den in den namentlich aufgeführten Städten Ingolstadt, München, Dillingen, Mainz, Köln, Freiburg i. Br., Innsbruck, Löwen, Lion, Rom, Venedig, Florenz, Bologna oder in Spanien gedruckten Werken abgesehen: »Alle übrigen sowohl in Teutschland als Italien, in Frankreich und Engelland gedruckten Bücher sind abgeschafft und das Hausiren derselben den Buchhändlern bey schwerer Strafe und Confiscation untersagt.«

Schon bei seinem Regierungsantritt hatte der Kurfürst Maximilian I. folgendes verordnet:

»Da sich noch immer bey den Untertanen ketzerische Bücher vorfinden, und solche von den Hausierern eingeschwärzt werden, und in Bedenkung, daß der Abfall von der katholischen Religion fast allein durch die verbotenen, falschen ketzerischen Bücher, Tractätchen und Schriften entsprungen, wird befohlen, daß die Untertanen alle der katholischen Religion zuwiderlaufenden Bücher, soviel sie derer bei Handen haben, den Obrigkeiten unverzüglich zustellen. Würde jemand eines von solchen verbotener Büchern sträflicher Seite 137Weise verhalten (woraus eines jeden verstocktes und halsstarriges Gemüt unfehlbar abzunehmen), soll an selben ein solches Beispiel aufgestellt werden, daß andere sich vor ähnlichen Vergehen hüten werden.« Zugleich wurden eigene Kommissäre mit der Haussuchung nach derlei Büchern beauftragt. Diese hatten den Befehl, die Bücher zu konfiszieren und die Besitzer zur Bestrafung anzuzeigen.

Selbst bei Verstorbenen sollte man nach solchen Büchern fahnden und wenn man sie fand eine Geldstrafe aus der Verlassenschaft erheben.

Im Jahre 1609 wurde festgesetzt, daß zur Zensur jedesmal einige aus den geistlichen Räten zu deputieren seien. »Wenn aber solche Traktötl und Sachen, zum Druck bestimmt, vorgelegt werden, die etwas wichtig und disputierlich sind«, sollen auch andere Geistliche und gelehrte Personen beigezogen werden. Der Dechant der Frauenkirche mußte überdies jedes Attest über ein begutachtetes Buch mit Vor- und Familiennamen unterschreiben und diese Attestierung mußte bei Strafe in jedem Buche gedruckt werden[10].

In Ingolstadt wurde besonderes Augenmerk auf die Buchdrucker gerichtet, die Universitätsangehörige waren. Schon 1555, also im gleichen Jahre, in das der Einzug der Jesuiten fällt, wurde angeordnet, daß nichts gedruckt werden dürfe, was nicht vom einschlägigen Fakultätsdekan und außerdem noch vom Dekan der theologischen Fakultät approbiert sei. Außerdem mußte das Verzeichnis aller aus Frankfurt bezogenen Bücher diesen Zensoren vorgelegt werden. Um die Kontrolle noch mehr zu erleichtern, wurde im Jahre 1579 angeordnet, daß die Einfuhr auswärtiger Seite 138Bücher überhaupt nur zweimal im Jahre während zweier Wochen stattfinden dürfe. Daß die Geschäfte der Buchdrucker bzw. Händler einer ständigen Kontrolle unterstanden, versteht sich von selbst. Und zwar wurden die Buchhändler vom Dekan mit einem der zwei Stadtpfarrer visitiert[11].

Da es ein seit langem von der theologischen Fakultät der Universität Ingolstadt geübtes Recht war, die Zensur über alle Fakultäten auszuüben, so gab es weder in der philosophischen noch in der juristischen Fakultät akatholische Bücher von akatholischen Verfassern. Der »Geist«, mit dem die Zensur ausgeübt wurde, erhellt unter anderem daraus, daß die Schriften des Rektors der Universität, Freiherrn von Ickstatt, nur nach hartem Kampfe von der Zensurbehörde genehmigt wurden, darunter wurden sogar solche zurückgewiesen, die das Imprimatur katholischer Bischöfe trugen! Als nun Ickstatt einem oder zwei Schülern der juristischen Fakultät »verdächtige« Bücher, nämlich Köhlers Kompendium der Reichshistorie — noch dazu mit ausdrücklicher Warnung vor dem akatholischen Standpunkte des Verfassers! — empfahl und Lori sich Reinhards Reichshistorie verschafft hatte, da wurde von den Kanzeln aus gegen ihn im Jahre 1752 eine furchtbare Hetze inszeniert. Doch Ickstatt erwirkte im gleichen Jahre vom Kurfürsten Max Joseph die Erlaubnis, daß akatholische juristische und staatswissenschaftliche Werke gebraucht würden, solange die Ingolstädter Professoren nicht selbst Kompendien verfaßt hätten. Das kam allerdings einer Vertagung ad Calendas graecas so ziemlich gleich.

Seite 139Das war spanischer Geist!

Wer noch am Ende des 18. Jahrhunderts in Spanien oder Portugal im Besitze einer hebräischen Bibel war, machte sich des Judentums verdächtig. Viele und nicht die schlechtesten Ausgaben der Kirchenväter waren verboten, wenn ihre Herausgeber »Ketzer« waren. Wenigstens mußten Einleitung, Kommentar und Anmerkungen fortgelassen werden. Ein Kind durfte nicht einmal seinem Vater seine religiösen Zweifel vortragen, weil der Vater durch die Inquisitionsgesetze verpflichtet war, das den Inquisitoren anzuzeigen. Nach der Meinung einiger spanischer Theologen waren sogar die Beichtväter vom Beichtsiegel entbunden, wenn ihnen das Beichtkind seine Zweifel entdeckte und nicht sofort ihren Vorstellungen Gehör gab. Man sagte: Haeresis est crimen, quod nec confession celat. Wenn in Gedichten, Komödien, Opern, Ausdrücke wie Numen, Dei usw. vorkamen, so mußte der Autor eine Protestation beidrucken, daß sie nur aus poetischen Gründen gebraucht würden und nicht etwa aus Opposition gegen die wahre, allein seligmachende römische Kirche. Kamoens ließ seiner Lusiade folgendes Glaubensbekenntnis in Versen folgen:

A catholica May romana Igreja
Quanto digo, e disser, sujeito seja[12].

An der Universität Ingolstadt wurde erst im Jahre 1727 nach anfänglichem Widerstreben Geschichte in den Lehrplan aufgenommen. Der gelehrte Professor kam aber in seinem Diktat im Laufe eines ganzen Jahres nie über einen oder zwei Kaiser hinaus. Seite 140Da war es dann gewiß kein Wunder, wenn eifrige Studenten das Bedürfnis hatten, sich durch Bücher weiter zu bilden. Wohlgemerkt handelt es sich hier um Juristen, nicht etwa um Theologen, denen die Scheuklappen ja nie fest genug gebunden werden können, da tatsächlich jedes verständige Buch sie in die Gefahr bringt, ihren Glauben zu verlieren.

In der Philosophie war es ebenso bestellt wie in Geschichte und Jurisprudenz. Da sich die Philosophen aber zu schwach fühlten, um aus eigener Kraft ihrer kläglich darnieder liegenden Wissenschaft aufzuhelfen, überdies trotz des obligatorischen philosophischen Bienniums vor leeren Bänken dozierten, erbaten sie zu ihren Gunsten kurfürstliche Mandate. Aber der Nutzen blieb aus.

Vom wissenschaftlichen Geiste, der auf der ultrakatholischen Universität Ingolstadt noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herrschte, legt allein die Tatsache Zeugnis ab, daß der Oberstadtpfarrer und Professor der Theologie Eckler sich 1772 rühmen konnte, er sei seit Dr. Eck (1527!) der erste Oberstadtpfarrer und Professor in Ingolstadt, der »etwas zum Druck geschrieben«. Ist das auch nur so aufzufassen, daß keiner seiner Vorgänger im Stadtpfarramt, die allerdings auch häufig zugleich Professoren waren, literarisch tätig war, so beweisen die zweiundeinhalb Jahrhunderte beharrlichen Schweigens immerhin keinen allzu großen wissenschaftlichen Tatendurst. Übrigens hatte die Universitätsdruckerei trotz ihres dreihundertjährigen Bestandes keine hebräischen Lettern, so daß man beim Drucken der Festschrift in die größte Verlegenheit kam[13].


Seite 141Dafür sprach man an dieser Musteruniversität von einer katholischen Medizin. Man verstand darunter die ältere, auf der arabischen und griechischen Tradition beruhende, »solidere« Wissenschaft im Gegensatz sowohl zu den verkehrten Meinungen des Pöbels, als zu den Grundsätzen der parazelsianischen Neuerer[14].


Die Münchner Akademie der Wissenschaften, deren Schriften der Zensur unterstanden, und die keineswegs antikatholisch oder freigeistig war, wenn sie auch einigermaßen dem aufgeklärten Zeitgeist gegenüber der kirchlichen Versumpfung Bayerns Rechnung trug, wurde aufs heftigste von den Jesuiten bekämpft. So dichtete ein P. Joseph Pemble ein eigenes Schauspiel gegen die Akademie, das unter dem Titel »Der Bücherbrand zu Ephesus« im großen Kongregationssaale aufgeführt wurde. In den Zwischenakten erschien der Teufel als Verleger der neuen Schriften.

Die Jesuiten wußten eben sehr wohl, daß sie durch die geringste Aufklärung ihrer verdummten Herde von anderer Seite ihr Ansehen verlieren würden und kämpften deshalb wie die Verzweifelten um Aufrechterhaltung des Vorrechtes, ihre Schafe auch weiterhin zu verblöden. Dabei verstanden sie es, die Kanzelredner Bayerns auf ihre Seite zu bringen. Diese verkündeten denn auch, daß die Akademie die Religion unterdrücke, ein Akademiker ein »Neuling«, ein »Freigeist« sei, den man mehr fürchten müsse, als den Teufel. Das niedrige Volk wurde dadurch derart voreingenommen, daß es sich beim Anblick eines Akademikers bekreuzigte. Daß man nicht nur jede mißliebige Regierungshandlung, sondern Seite 142auch elementare Unglücke den »gott- und religionslosen Freigeistern« aufs Konto setze, wird hiernach niemanden verwundern.

Ein Franziskanermönch P. Leo überhäufte die Akademie in seinen Predigten mit den gemeinsten Beschimpfungen und forderte seine Zuhörer auf, die Freigeister mit dem Schwerte auszurotten. Das aufgestachelte Volk revoltierte, kündigte den Gesellen der akademischen Buchdruckerei das Quartier und der Magistrat forderte Aufhebung der Presse. Bedenkt man, daß sich das in München, vor den Augen des Kurfürsten, der die Akademie liebte und beschützte, zutragen konnte, so hat man eine Vorstellung von der selbst zum Märtyrertum begeisternden Allmacht der Dummheit[15].

Nur dank den Bemühungen Loris, eines Schülers und Gesinnungsgenossen von Ickstatt, entging die Akademie dem Lose, ihre Werke der Zensur der Ingolstädter Theologen unterwerfen zu müssen. Der von dieser Seite gegen sie entfesselte Sturm der Entrüstung wurde besonders schlimm, als der Theatiner Ferdinand Sterzinger am 13. Oktober 1766 eine akademische Rede gegen den Hexenglauben hielt. Es brach eine Flut von Streitschriften über ihn herein, die unter Berufung auf die heilige Schrift, die Erblehre der Kirche, die Aussprüche der Päpste die Bestreitung des Hexenglaubens geradezu für eine Ketzerei erklärten. Allerdings war noch im Jahre 1701 in München ein siebzehnjähriges Mädchen als Hexe hingerichtet worden[16].

Im benachbarten, von jesuitischem Geiste durchtränkten Österreich, war es natürlich nicht anders.

Seite 143In einem Schreiben vom 24. Oktober 1791, das gegen Josephs II. Reformen protestiert, wird vor allem der schädliche Einfluß des bei der Jugend genährten Hanges zur Belletristik geschildert: »Sie erweicht zu sehr die Gemüter, vertilgt die Vernunft und läßt nichts als Empfindung übrig. Sie verdirbt sogar die Beredsamkeit und erstickt alle männlichen Gedanken. Seit langem ist der Mangel an Kandidaten der Theologie immer fühlbarer geworden; die neue Erziehungsweise erzeugt nämlich einen Haß gegen das Zölibat, der von oben herab genährt wird, schon deshalb höchst unklugerweise, weil, je mehr jener steigt, desto mehr notwendig auch die Anzahl der Staatsdienst und Heiratsaspiranten und hiermit auch die Staatslasten zunehmen müssen[17]«.

Doch zurück nach Bayern. Als Maximilian IV. Joseph von Bayern die kirchliche Bücherzensur in seinen Staaten aufgehoben hatte, erhielt er vom Papst unterm 19. November 1803 eine Antwort, die aus der Freiheit von Buchhandel und Presse den Untergang der Kirche befürchtet. »Du siehst demnach, wie notwendig es ist, daß von den Bischöfen und ebenso von den übrigen Geistlichen das heilige Amt, welches ihnen zur Erbauung der Kirche übergeben ist, frei ausgeübt werde, da den Aposteln und Jüngern und ihren rechtmäßigen Nachfolgern, nicht aber andern von Christus dem Herren gesagt wurde: Gehet hin und predigt das Evangelium aller Creatur, lehrt alle Völker, und da die Bischöfe, nicht aber andere nach dem Zeugnis des Apostels Paulus der heilige Geist gesetzt hat, die Kirche Gottes zu regieren[18]«.

Der Papst versuchte hier also nicht mehr und Seite 144nicht weniger, als die bischöfliche Bücherzensur auf die heilige Schrift zu gründen! Der Kurfürst würdigte erfreulicherweise dieses Kulturdokument keiner Antwort.


Es liegt auf der Hand, daß die Bücherzensur allein nicht genügt, wenn nicht auch für die entsprechende Lehre in Schule und Universität gesorgt wird. Daß das geschah, ergibt sich zwar schon aus einigen oben angeführten Daten. Um aber die Organisation der Dummheit, wenigstens an einem Beispiel in ihrer ganzen Glorie zu zeigen, wollen wir auf das Unterrichtswesen noch einen Blick werfen. Daß auch hier die Jesuiten, die Hopliten Roms, in vorderster Reihe den Kampf führten, versteht sich von selbst. Ihrem Wirken auf dem Gebiete der Zensur entspricht völlig das im Lehrfach, was gewiß nicht ausschloß, daß sie da und dort auch Tüchtiges leisteten und in der Methode, ihrer Methode natürlich, deren Geist zu kennzeichnen überflüssig sein dürfte, glänzten.

Seit dem Jahre 1585 brach, wie sich Prantl, der Geschichtschreiber der Ludwig-Maximilianuniversität äußert, das »jesuitische Verderben« mit Entschiedenheit über die philosophische Fakultät der Universität Ingolstadt, damals bekanntlich der einzigen bayerischen Universität, herein. Die Jesuiten versuchten durch eine Schrift »Bedenken die Schulsachen zu Ingolstadt betreffend«, die sie dem Herzog unterbreiteten, den weltlichen Professoren den Todesstoß zu versetzen. Sie schlugen vor, die Vorlesungen über Dialektik, Poesie, Humaniora und Griechisch, die — man höre und staune — ohnedies viele Jahre nicht vertreten waren, ganz abzuschaffen, da sie Seite 145ja mit Ausnahme der Dialektik nur in das Pädagogium gehörten. Dialektik aber werde von den Jesuiten in zehn Wochen besser gelesen, wie an der Universität in einem ganzen Jahre. Auch Rhetorik sollte ihnen übertragen werden, desgleichen Mathematik und Ethik. Das alles geschähe, um den Ruhm der Universität zu steigern! Das beste sei ja überhaupt, dem Orden die ganze philosophische Fakultät einzuräumen.

Wiewohl nun Ingolstadt niemals eine reine Jesuiten-Universität war, wie etwa Dillingen oder Graz, benahmen sie sich doch derart herrisch, daß sie z. B. ihren Zuhörern verboten, in den Mußestunden anderweitige Vorlesungen zu hören, ebenso Institutionen zu belegen und absichtlich ihre Vorlesungen ausdehnten um die Hörer zu verhindern, eine andere Lehrstunde zu besuchen. Sie verboten in Ingolstadt bei den Franziskanern zu beichten und exkludierten 1610 einige Adelige, weil sie es gewagt hatten, der Vesper und der Prozession bei den Franziskanern beizuwohnen! Schon damals war man sich in Universitäts- und Studentenkreisen darüber klar, daß der Verfall der Universität bei diesem Verhalten unvermeidlich sei[19].

Damals wurde unter jesuitischem Einfluß auch verordnet, daß die Jugend hinfort in Deutschland nur noch die Universitäten Ingolstadt, Freiburg i. Br., Köln, Dillingen, in den Niederlanden Löwen und Douay besuchen dürfe, außerdem noch die Jesuitenkollegien und katholischen Partikularschulen. Wer schon an einem anderen Orte studierte, sollte schleunigst abgerufen werden.

Seite 146Noch strenger ist das Mandat von 1598: »Junge Leute, welchen Standes sie immer seien, dürfen des Studierens wegen außerhalb des deutschen Reiches nirgends hin, auch nicht auf katholische Universitäten und Partikularschulen geschickt werden. Wer im Auslande Sprachen oder Gewerbe erlernen will, muß die Erlaubnis der Obrigkeit vorher einholen, die gute Ermahnungen gibt, beim katholischen Glauben zu bleiben und die Sakramente nur bei Katholiken zu empfangen. Wer den Glauben wechselt, dem wird der Aufenthalt in Bayern verboten[20]

So hoffte man die Seelen keimfrei erhalten zu können!

Als der greise Freiherr von Ickstatt, der Reformator des Unterrichtswesens Bayerns, das bisher, wie sich zur Evidenz aus dem Mitgeteilten ergibt, unter klerikalem Regiment geistig völlig versumpft war, in der Münchener Akademie der Wissenschaften seine Gedanken über Reform des Schulwesens vortrug, wurde die Rede von der Akademie übergangen. Sie hielt es nicht für ihre Aufgabe, sich um das Schulwesen zu kümmern! Die Rede erschien noch nicht einmal im Verlag der akademischen Schriften. Ickstatt hatte beantragt, den naturwissenschaftlichen und mathematischen Studien weit größeren Platz einzuräumen. Deshalb war aber der Klerus gegen die Reform, da er mit einigem Recht für den Glauben fürchtete, da doch jeder Blick in die Natur ihn ins Wanken bringen mußte. Tatsächlich erhoben die Ordinariate von Freising, Regensburg und Eichstädt Klage.

Vor der Zeit von Ickstatt und Lori, sagt der Seite 147Verfasser einer 1788 erschienenen Schrift, hätte niemand in Ingolstadt das Wort Disziplin nennen dürfen, ohne verprügelt zu werden. Ingolstadt war wegen der Verkommenheit der wissenschaftlichen Zustände nicht minder aber wegen des zügellosen Treibens der Studenten derart verschrien, daß katholische Eltern aus Bayern ihre Söhne lieber außer Landes nach Salzburg oder Innsbruck schickten[21]. Also selbst die vielgerühmte jesuitische Zucht versagte völlig!

Als noch im Jahre 1791 ein Student der Jurisprudenz in Ingolstadt eine Rede hielt, in der er auf Grund des wissenschaftlichen Materiales, das er von Prof. Aschenbrenner erhalten hatte, den Satz verfocht, daß man alle Religionen dulden solle, wurde gegen ihn eine Untersuchung eingeleitet. Der Kurfürst erteilte schließlich Aschenbrenner einen scharfen Verweis, desgleichen dem Dekan der juristischen Fakultät, da »nach den angenommenen Grundsätzen keine andere, als die katholische Religion zu gedulden ist«. Der Regierung war augenscheinlich die Erinnerung an den westfälischen Frieden abhanden gekommen. Immerhin war ein begrüßenswerter Fortschritt in freiheitlicher Richtung, daß im Jahre 1782 den Professoren erlaubt wurde, ihre Schriften auch bei ausländischen — d. h. außerbayerischen — Verlegern erscheinen zu lassen. Von großem praktischen Werte dürfte diese Erlaubnis allerdings kaum gewesen sein, denn bis zur Mitte des Jahrhunderts hatte, von einigen Fachgelehrten abgesehen, ganz Deutschland keinen einzigen katholischen Schriftsteller hervorgebracht[22].

Die neue Universität von Innsbruck war von Seite 148ganz gleichen Grundsätzen infiziert; man klagte, daß daselbst die schlechtesten Studenten seien und doch zogen rechtschaffene Männer diesen Ort noch anderen, z. B. Dillingen, vor, wo »unter den Theologen gar keine Wissenschaft herrschte, das Brevierbeten und der Glaube an die Mutter Gottes ab, das höchste Verderben der Sitten aufkam[23]

Das Bild, das Küchelbecker zu Beginn des 18. Jahrhunderts von der unter jesuitischem Einfluß stehenden Wiener Universität entwirft, wird von ihm durch folgendes Resümee, das für alle jesuitischen Universitäten paßt, ergänzt:

»Gleichwie es nun allhier mündlich keinesweges erlaubet ist, von denen alten und einfältigen Praejudiciis abzugehen, und auf eine vernünftige Art und Weiße zu raisonniren, und die Wahrheit zu untersuchen; also ist solches noch viel weniger in Schrifften zu thun vergönnet. Denn weil die Jesuiten die Aufsicht über die Buchdruckereyen haben, und alles dasjenige, so gedruckt werden soll, ihre Censur iren muß, so kann man leicht erachten, daß sie dasjenige, was ihnen zuwider, oder nicht in ihren Kram dienet, ausstreichen, und den Auctorem wohl gar in die Inquisition bringen. Dahero ist kein Wunder, wenn in diesen Landen wenig an das Licht kommet, so die Approbation der gelehrten Welt findet; da man hingegen in Franckreich die gelehrtesten Sachen von Catholischen Auctoribus hat[24]

Als nun der Jesuitenorden durch Papst Clemens XIV. in der Bulle »Dominus ac redemptor noster« unterm 21. Juli 1773 aufgehoben wurde, geriet das bayerische Volk in den mittleren und niederen Seite 149Klassen, wo die Jesuiten viele Verehrer und Anhänger hatten, in die größte Aufregung. Die Magistrate von Ingolstadt und Straubing übersandten dem Kurfürsten Max III. Joseph Klageschriften und bedauerten die Vernichtung des Ordens, der sich um die Jugendbildung so große Verdienste erworben habe[25]. Das war ja für das 16. und teilweise für das 17. Jahrhundert richtig gewesen. Wie es in der Folgezeit um die Verdienste der Jesuiten, um Wissenschaft und Volksbildung bestellt war, sahen wir bereits.

Das Volk war eben an das Verdummungssystem schon so gewöhnt, daß es voraussah, es würde sich in einer anderen Atmosphäre nicht wohl fühlen.

Begreiflicher als das Jammern des Volkes nach den Jesuiten, ist die Klage der Kurie über den modernen Geist. Sie wehrt sich schließlich nur ihrer Haut.

In einer großen Beschwerdeschrift, datiert vom 30. September 1805, erhob die Kurie gegen die bayerische Regierung den Vorwurf, die Religion anzugreifen, weil sie der sorglosen und unkundigen Jugend die Freiheit eingeräumt habe, die Vorlesungen über protestantische Theologie zu besuchen und in philosophischen Disziplinen sogar die Notwendigkeit auferlegte, die Vorträge protestantischer Lehrer zu hören!

Ein protestantischer Professor der Mathematik! Man denke!

Gegen diese Ausgeburt pfäffischer Anmaßung und Spekulation auf die Dummheit der Herde scheint es harmlos, wenn die Kurie im gleichen Schriftstück einen weiteren Angriff gegen die Religion darin erblickt, Seite 150daß der Staat den katholischen Untertanen gemischte Ehen erlaubt, den Eltern gestattet die religiöse Erziehung der Kinder vertraglich zu bestimmen oder apostasierte und verheiratete Priester unter offenbarer Mißachtung der Strafbestimmungen des kanonischen Rechts zu öffentlichen Ämtern an den Universitäten oder im Staatsdienst beförderte[26].

Übrigens hat das Wettern der katholischen Kirche gegen gemischte Ehen ein Analogon in der Gesetzgebung des kalvinistischen Genf, das wir weiter oben als aufgeklärten Staat kennen lernten. Keyßler schreibt: »Keine Trauung wird verstattet, wo nicht beyde Theile der protestantischen Religion zugethan sind. Alle vorhergegangenen Verbindungen und Verlöbnisse einer reformirten Person mit einer römisch-katholischen werden null und nichtig erkläret, auch die Mittelspersonen und diejenigen, welche ihre Einwilligung dazu geben, nach Beschaffenheit der Umstände, zur Strafe gezogen[27]

Die Gerechtigkeit erfordert auch einen Blick auf den Protestantismus zu werfen. Wurden protestantische Universitäten auch natürlich nicht in jesuitischem Geiste geleitet, so herrschte doch insofern dasselbe System, als alles abgelehnt wurde, was irgendwie durch seine Neuheit verdächtig sein konnte. Das war aber außerordentlich viel. Denn die Dummheit ist stets durch ein schlechtes Gewissen ausgezeichnet. Sie wittert überall Gefahr und ist nie skrupelhaft in den Mitteln, diese zu beseitigen.

So hatte die reformierte Geistlichkeit gegen Descartes, als er sich in Holland aufhielt, in begreiflicher Furcht vor der Macht seiner Gedanken, eine Seite 151Anklage wegen Atheismus gerichtet. Um diese ganze Geistestat würdigen zu können, muß man sich erinnern, daß von Descartes derjenige Gottesbeweis stammt, der am meisten die Vernunft befriedigt und — soweit das Dasein Gottes überhaupt beweisbar ist — es noch am ehesten beweist. Descartes schließt nämlich: Gewiß ist alles, was ich klar und deutlich erkenne. Unter unseren Ideen finden wir die Gottes vor, die nicht durch Abstraktion von anderen Dingen gewonnen sein kann, da sie an Großartigkeit weit über sie hinausgeht. Daher kann sie uns nur von einem vollkommenen Wesen, d. h. einem wirklich existierenden Gott eingepflanzt sein. Würde Gott nicht in Wahrheit existieren, dann wäre er ein Betrüger, da er uns die Idee von sich einpflanzte.

Die Dummheit der holländischen Geistlichkeit wird vielleicht verständlicher, wenn man bedenkt, daß noch im Jahre 1690 die Synode von Amsterdam, die sich aus holländischen, englischen und französischen calvanistischen Priestern zusammensetzte, die Lehre, daß der Obrigkeit kein Recht zustehe, Ketzerei und Abgötterei durch weltliche Gewalt zu unterdrücken, einstimmig als »irrig, anstößig und verderblich« erklärte[28].

Eine hierher gehörige Tatsache, die jeden, der über den Geist der offiziellen Wissenschaft zu allen Zeiten mangelhaft informiert ist, in Erstaunen setzen muß, dem Kenner aber nur eine neue Bestätigung für seine Ansicht bedeuten kann, ist das Verhalten der Universität Oxford allen großen Neuerungen, die sich in England vollzogen, gegenüber. Das gilt vor allem dann, wenn theologische Gesichtspunkte in Seite 152Frage kommen. Als um die Mitte des 18. Jahrhunderts Middleton die Glaubwürdigkeit der Kirchenväter anzweifelte und ihre Leichtgläubigkeit bewies, kurz mit triftigen Argumenten ihre Autorität erschütterte und über diese Frage in England jahrelang die größten Kontroversen hervorrief, da war es natürlich die Universität Oxford, die sich an die Spitze der Opposition stellte. Allerdings waren die Streiter, die sie gegen den kühnen Skeptiker Middleton ins Feld führten, so schlecht gewappnet, daß damit der neuen Sache sicherlich kein Abbruch getan werden konnte.

Ebenso war die Theorie der bürgerlichen Freiheit im Gegensatz zur Theorie vom leidenden Gehorsam, desgleichen die Verteidigung der Duldung gegenüber der Verfolgung von Oxford aus am heftigsten und gewandtesten bekämpft worden. Noch im 19. Jahrhundert sehen wir diese Universität ganz auf der Seite der Tradition. Es handelte sich um die Testakte und die Emanzipation der Katholiken, kurz um die politische Gleichberechtigung der Konfessionen und damit um Beseitigung mittelalterlicher Reste durch die Fluten der neuen Zivilisation. Noch im Jahre 1833 wurde Oxford die Wiege einer großen reaktionären Bewegung gegen die neue Art des religiösen Denkens, die als durchaus falsch gebrandmarkt wurde. Nach Ansicht der Hochgelahrten war die Geschichte der englischen Theologie seit anderthalb Jahrhunderten eine Geschichte des ununterbrochenen Verfalls[29].

Es ist eben immer dieselbe Sache: Jedes Fünkchen gesunden Menschenverstandes und Kritik wird Seite 153in der Theologie als Fremdkörper betrachtet und paßt ja wohl auch nicht recht in dieses Kabinett von Geistespetrefakten. Da nun naturgemäß der Mensch das Maß aller Dinge ist, also auch der Theologe, sein Wohlergehen, seine Gewalt über die Seelen der Maßstab, so ist es nicht verwunderlich, wenn er deren Abnahme bei gleichzeitiger Zunahme der bürgerlichen Intelligenz als Verfall bezeichnet.

Seite 154V. Kapitel  Religiöse Zwangserziehung 5a11s

Wir lernten in den vorigen Kapiteln eine Reihe von Dummheiten schlimmster Art kennen. Wir sahen, wie man emsig bemüht war durch Zensur und hermetische Absperrung gegen neue Gedanken diesen Dummheiten, die man mit der Religion identifizierte oder doch wenigstens zu ihrem wichtigsten Bestandteile erklärte, Dauer und Alleinherrschaft zu sichern.

Irgend jemand sagte einmal etwa folgendes: Die Religion fordert Glauben; wer viel glaubt, weiß wenig; wer wenig weiß, ist dumm; je dümmer einer ist, desto leichter ist er zu regieren.

So anfechtbar dieser Satz ist, so enthält er doch zweifellos die Quintessenz der Regierungsweisheit früherer Zeiten. Ja, man munkelt, daß es heute noch Länder und Völker gibt, deren Regierungen noch nicht jede Erinnerung daran geschwunden sein soll.

Doch wie dem auch sein mag: Die Vergangenheit konnte sich Friede und Ordnung in einem Lande ohne Religiosität, die jedoch mit Kirchlichkeit gleichgesetzt wurde, nicht denken. Diese zu unterstützen, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln alles fernzuhalten, Seite 155was in den Busen der frommen Herde irgendwelchen Zweifel zu tragen vermocht hätte, vor allem jede Glaubensspaltung zu hintertreiben, hielt jede Landesregierung, die es mit sich und den Untertanen gut meinte, für ihre dringendste Aufgabe. Sie zu erfüllen, war ihre Pflicht; Mittel zur Durchführung zu ersinnen und anzuwenden ihr gutes Recht.

Betrachten wir zunächst einmal am Beispiel Bayerns, welche Blüten dieses System trieb. Daß wir gerade Bayern wählen hat gute Gründe, geht doch dieses Land neuerdings den gleichen Weg, den es erst seit einem Jahrhundert verlassen hat. Daß er zum Ziele führen wird, läßt sich kaum bezweifeln bei den guten Relationen, die das Ministerium Hertling zum lieben Gott hat. Wenige Wochen nach dessen Amtsantritt verfinsterte sich die Sonne am hellen Tage (17. April 1912). Heißt das nicht: sub hoc signo vinces?

Unterm 30. April 1599 verordnet Kurfürst Maximilian I. von Bayern: »An hohen Festtagen, dann beim Allerseelen-Gottesdienste für Gestorbene haben Vizedome, Präsidenten, Räte, Sekretäre und Kanzellisten, dann die landesherrlichen und ständischen Beamten nebst ihren Frauen und Kindern, nach dem ihnen gebührenden Range die Opfergänge mitzumachen, auch jene Stühle in den Kirchen einzunehmen, welche denselben angewiesen oder anzuweisen sind.«

Mit dieser Zwangsmaßregel, die augenscheinlich, wie der heutige Kirchenbesuch unserer Schuljugend, die Liebe zu Religion und Kirche stärken sollte, war der Einmischung des Staates in das Privatleben noch keineswegs genüge getan. So erhielt die Regierung Seite 156in Landshut 1597 den speziellen Auftrag: »sorgfältig zu wachen, daß die Untertanen nicht in Gefahr kommen, vom katholischen Glauben abzufallen und bei allen Gelegenheiten besondere Aufmerksamkeit darauf zu verwenden, um sich die genauesten Notizen über alle religiösen Verhältnisse der Einzelnen zu verschaffen.«

Schon am 15. März 1598 waren die Geistlichen angewiesen worden, das Volk zu sittsamem und religiösem Leben zu ermahnen, die weltliche Obrigkeit aber mit gutem Beispiel voranzugehen. Gewiß sehr verständig! Doch die Kralle fehlt natürlich nicht, wenn es weiter heißt: »Wer sich aber während des Gottesdienstes auf den Kirchhöfen, Märkten, Plätzen und anderen Schwätzorten, oder gar in Wirts- und Winkelhän finden läßt, ist entweder um Geld oder mit dem Brechen, die solcher Leute halber bereits bei allen Kirchen aufgerichtet sind, zu bestrafen. Während des Läutens um 12 Uhr, als Zeichen zu dem täglichen Gebete wider die Türken, soll jedermann, er sei zu Hause oder auf der Gasse, solange mit entblößtem Haupte niederknien, bis er wenigstens ein Vaterunser und ein Ave andächtig gebetet hat

»Wer überwiesen wird, daß er aus Zorn, Trunkenheit und verdammlicher Gewohnheit des Lasters des Fluchens sich schuldig gemacht hat, soll nicht nur mit hartem Gefängnis und namhaften Geldstrafen, mit Landesverweisung, Ausstellung auf dem Pranger, Ausreißung und Durchbrennung der Zunge, sondern wohl auch mit dem Leben bestraft werden.«

Im Jahre 1601 verfällt Maximilian auf das Seite 157glaubensfördernde Mittel, Räten, die bei den Prozessionen nicht erscheinen, ein 8- oder 14-tägiges Ratum an ihrer Besoldung abzuziehen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Prozessionen wöchentlich abgehalten wurden!

Vier Jahre später ergeht eine Anweisung an die Pfarrer, diejenigen ihrer Herde, die nicht zur Kommunion gingen, der weltlichen Obrigkeit behufs Bestrafung anzuzeigen. Wer verreiste, mußte vorher oder nachher die Kommunion empfangen, und zwar — von spezieller Erlaubnis abgesehen — nur bei ihrem Pfarrer.

Das Reisen der Landeskinder machte dem frommen Fürsten überhaupt Sorge. So verfügte er 1606 und 1607, daß niemand ohne Vorwissen der Obrigkeit an außerbayerische Orte reisen darf. Wer aber seine Kinder an solchen Orten, wo die katholische Religion nicht in freier Übung ist, hat, muß sie binnen 2 Monaten zurückrufen oder bei Bestrafung an andere Orte schicken. Das galt natürlich auch für Erwachsene: »Landskinder, die sich auswärts an Orten in Kondition befinden, wo neben der katholischen Religion die protestantische Lehre exerziert wird, sollen binnen Monatsfrist Zeugnis beibringen, daß sie in katholische Dienste treten, oder ihnen doch in Übung ihrer Religion kein Hindernis gemacht werde. Die außer Land reisenden sollen ermahnt werden, sich an katholische Orte zu wenden.« Es hatte also Schwierigkeiten von München nach Augsburg oder Regensburg zu reisen, da an diesen Orten beide Religionen nebeneinander bestanden! Wer dorthin wollte, mußte sich unter die Aufsicht der dortigen herzoglichen Agenten begeben!

Seite 158Im Jahre 1608 wird der geistliche Rat ausdrücklich angewiesen, keinem Fremden oder Ausländer zu gestatten, sich im Lande zu verheiraten und häuslich niederzulassen oder auch nur eine Zeitlang in Bayern seinen Beruf auszuüben, es sei denn, er wäre katholisch[1].

Von erstaunlichem Verständnis für das Wesen der Religion als Gemütsbedürfnis zeugt auch die Instruktion Maximilians I. vom Jahre 1629 an seinen geistlichen Rat. Hier wird u. a. bestimmt, daß Landeskinder, die sich aus Gründen des Dienstes oder in Ausübung eines Handwerks an unkatholischen Orten aufhalten, jährlich die österlichen Beicht- und Kommunionsscheine entweder an die bayerischen Agenten in Augsburg, Memmingen usw. oder an ihre Geburtsorte senden, widrigenfalls sie gewärtigen müßten, »daß sie bei Verlust ihres dermaligen und künftigen Vermögens nach Hause berufen, und eher nicht von der Stelle gelassen werden, bis sie nicht ihre Beichte und Kommunion verrichtet, und versprochen haben, daß sie entweder dergleichen unkatholische Orte gar nicht mehr besuchen, oder obiger Verordnung Genüge leisten wollen«. Der geistliche Rat hatte auch dafür zu sorgen, daß an Feiertagen kein Fleisch gegessen würde.

Der Güterkauf durch Akatholiken wurde in Bayern 1608 ausdrücklich und unbedingt verboten, was 1619 wiederholt wurde mit der neuen Bestimmung, alle in Bayern wohnenden begüterten Akatholiken zu beschreiben.

Schon im Jahre 1616 war verordnet worden, daß jedermann, der beim Läuten des Abendgebetes und Seite 159der »Schiedung« das Haupt nicht entblößte, ebenso bestraft werden solle, wie das beim Türkengebet schon früher angeordnet worden war.

Von besonderer Humanität zeugt auch folgendes Dekret von 1618: »Akatholische Landsassen, welche im Lande Güter haben, sollen nicht für beständig darauf wohnen, und im Falle sie nachsehen wollen, sich über einige Tage nicht aufhalten, auch keine ketzerischen Bücher nicht mit sich hereinehmen, noch weniger gegen den katholischen Glauben sprechen; sie sollen an verbotenen Tagen sich des Fleischessens enthalten, niemand zu sich außer Landes ziehen usw.«

Noch radikaler war das Dekret vom 30. November 1629, das dem kurfürstlichen Hofrat den Befehl erteilt, sich zu erkundigen, was für akatholische Landsassen sich im Lande befinden und — falls noch solche vorhanden sein sollten, was man also doch nach der ihnen zugemuteten Behandlung nicht für sehr wahrscheinlich hielt, — ihnen zum Verkauf ihrer Güter einen gewissen Termin zu bestimmen und ihnen vor allem keinen weiteren Güterkauf zu gestatten.

Den Handwerksburschen war, bevor sie auf die Wanderschaft gingen, auferlegt — wiederholt im Jahre 1658 — nicht nur sich vorher in Glaubenssachen wohl unterrichten zu lassen, sondern auch ein Attest von der weltlichen und geistlichen Obrigkeit darüber mit sich zu führen. Sie und andere, die längere Zeit außer Landes zubrachten, dürfen sich bei ihrer Rückkehr nicht eher häuslich niederlassen, bis sie nicht bei ihrem Seelsorger wegen ihrer Religion Rechenschaft abgelegt haben. Noch im Jahre 1739 wurde diese Bestimmung neuerdings eingeschärft[2].

Seite 160Die bayerischen Gesetze verboten während des Gottesdienstes, und zwar vormittags so gut wie nachmittags, Spazierfahrten zu unternehmen. Die Wirtshä, Wein- und Bierschänken, Kaffee- und Branntweinhä usw. mußten geschlossen sein, und in ihnen war weder Zechen, Spielen, Tanzmusik, noch andere Lustbarkeit gestattet. Nur ankommenden Fremden, die ihre Reise gleich wieder fortsetzen mußten, durfte etwas verabreicht werden. Während es auch verboten war, das Vieh vor Beendigung des Gottesdienstes auf die Weide zu treiben, war hier ausnahmsweise gestattet, die Pferde zu füttern und umzuspannen[3].

Das Köstlichste ist nun, daß trotz aller dieser schikanösen Bestimmungen, wie eine Reihe von Dekreten beklagen, durchaus kein religiöser oder sittlicher Geist in Bayern herrschte. Nicht nur, daß auch ältere Leute infolge der Pflichtvergessenheit der Geistlichkeit weder das Vaterunser, noch das Ave Maria, die zehn Gebote oder gar die geringsten Grundlehren des katholischen Glaubens auswendig wußten, man machte die Beobachtung, die bis heute noch in ähnlichen Fällen stets gemacht wurde, daß, je mehr Religionsbefehle erlassen wurden, sie desto mangelhafter befolgt wurden.

Man arbeitete trotz aller Verbote an Sonn- und Feiertagen genau so wie an Werktagen, ging während der Messe spazieren oder in Wirtshä und trieb allerlei Unfug. Es wird ausdrücklich konstatiert, daß an akatholischen Orten weit mehr Zucht und Sitte herrsche, als an katholischen. Statt nun daraus den Schluß zu ziehen, daß sich Andacht schlechthin nicht befehlen lasse, daß zu viel befehlen, auf welchem Gebiete es auch sei, abstumpfe, Seite 161daß die Kirche oder gar die Religion dadurch nur verhaßt gemacht werde, schärfte man der Obrigkeit vielmehr strenge Befolgung der alten Verordnungen ein und erließ neue[4].

An der katholischen Universität Ingolstadt, an der die Professoren mit den Studenten im häufigen Kirchenbesuch, Einhaltung der Fastengebote, Bittgänger usw. usw. wetteiferten, herrschte ein Ton, der den erzieherischen Einfluß dieser Sorte von Religion nicht eben hoch einschätzen läßt. Schon um 1554 konnte ein Student in einem an das Georgianum gehefteten Blatte es aussprechen, daß die Ingolstädter Studierenden von den Wittenbergern, Leipzigern und Tübingern wegen ihrer Unwissenheit verspottet würden. Und dabei war das noch nicht einmal in der jesuitischen Ära! Das Hauptübel war Trunksucht und, meist als deren Folge, wüste Rauferei. Es wimmelte trotz scharfer Ermahnungen von seiten der akademischen Behörden und des Herzogs von nächtlichen Tumulten und tödlichen Raufereien, auch Wilddieberei war an der Tagesordnung[5].

Wie man noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts über die religiöse Erziehung dachte, erhellt aus nachstehendem:

»Ist eine Religion einmal in einem Staate eingeführt, vom Volke genehmigt, und hat sie noch dazu — wie Portalis spricht — die Achtung und den Nutzen mehrerer Jahrhunderte für sich, so ist ihre Vortrefflichkeit, ihre Erhabenheit über alle menschliche Philosophie unwidersprechlich und ihre Göttlichkeit unverkennbar, und das ist der Fall bei der katholischen Religion. Solch eine Religion verächtlich zu machen, Seite 162wohl gar stürzen zu wollen, ist daher ein Verbrechen, das der Staat, auf dessen Schutz sie alle gegründeten Ansprüche hat, bestrafen muß, zumal mit dem Sturze der Religion auch sein Verfall, oder doch eine große Zerrüttung verbunden ist.«

Von diesem Standpunkt aus, den Bayern jahrhundertelang einnahm, wurden die Gesetze erlassen und ihn teilt völlig der Verfasser von »Baierns Kirchen- und Sitten-Polizey unter seinen Herzogen und Churfürsten«, der Reichsarchivar Felix Lipowsky, dem wir obigen us entnehmen.

Zu welchen Konsequenzen diese Denkweise führt, wie sie als ehernes Joch auf den Untertanen lasten muß und die gewaltsamsten Eingriffe in das Privatleben hervorruft und billigt, möge aus folgenden Gesetzen hervorgehen:

»Sämtliche Untertanen, wessen Standes und Würde dieselben immer wären, sind daher verpflichtet, der allein seligmachenden katholischen Religion nach dem erhabenen Beispiele ihrer Beherrscher und ihrer Voreltern hold und treu zu verbleiben, dem heiligen apostolischen Stuhl zu Rom gebührende Ehrfurcht und schuldigen Gehorsam zu bezeigen und ihre Religion nicht nur im Innern zu bekennen, sondern auch durch äußere Zeichen und Merkmale öffentlich zu beweisen. Sie haben daher an den Sonntagen und sonst von der Kirche gebotenen Feiertagen Vormittags den ordentlichen in den Pfarrkirchen gehaltenen Gottesdiensten, sie mögen in einem Hochamte nebst Predigt, oder in einer heiligen Messe nebst einer geistlichen Ermahnungsrede bestehen, mit Erbauung und Andacht beizuwohnen.«

Seite 163Nur in seltenen Ausnahmefällen war es gestattet, statt der Pfarrkirche eine andere, näher gelegene zu besuchen. So die Dienerschaft auf einer Einöde, die sich aus Sicherheitsgründen nicht weit entfernen darf, oder Rekonvaleszenten. Zur Osterzeit mußte aber unbedingt zwecks Beichte und Kommunion die Pfarrkirche aufgesucht werden.

Eltern, Vormünder und Hausväter haben ihre Kinder und Dienstboten an Sonn- und Feiertagen nicht nur vormittags, sondern auch nachmittags in Amt und Predigt zu schicken; dasselbe haben die Handwerksmeister bei ihren Lehrjungen zu beobachten. Die gleichen Eltern, Dienstherren usw. haben auch darauf zu achten, daß der Unterricht im katholischen Glauben von ihren Kindern usw. in entsprechender Weise besucht wird; selbstverständlich werden sie bei Saumseligkeit bestraft.

Es ist »Pflicht der landesherrlichen Beamten, der ständischen Verwalter, Hofmarks- und Klosterrichter, dann der Magistratspersonen, daß sie nicht nur dem Gottesdienste in den Pfarrkirchen an Sonn- und Feiertagen mit Erbauung beiwohnen (die »Erbauung« wird im Mandat vom 5. März 1701, § 6 ausdrücklich befohlen!), sondern auch die Fronleichnams-Prozessionen und, soviel möglich, ihnen ihre Amtsgeschäfte gestatten, diejenigen Prozessionen, welche alle Donnerstage in den Pfarrkirchen gehalten werden, begleiten und hierbei darauf sehen, daß die Zünfte mit ihren Lichtstäben nach althergebrachter Sitte mitgehen.

Werden öffentliche Gebete in der Pfarrkirche, oder sonst besondere große Feste gehalten, so haben die landesfürstlichen und ständischen Beamten und Seite 164Magistrate auch hierbei unfehlbar zu erscheinen und ihre Gebetstunden zu halten. Gleiche Pflichten haben die Vicedomen, Präsidenten, Kanzler, Direktoren und Räte der Kollegien in jenen Städten, wo sie bestehen, zu beobachten und daß ein gleiches vom Kanzleipersonale geschehe, zu veranstalten.«

An hohen Festtagen und beim Allerseelengottesdienste für Verstorbene, haben die genannten Beamten mit Frauen und Kindern die Opfergänge mitzumachen und ihre Kirchenstühle einzunehmen[6].

Selbstverständlich war die katholische Religion noch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts die notwendige Bedingung für die Erlangung öffentlicher Ämter. Alle Offiziere, Beamte, bürgerliche Obrigkeiten und deren Untergebene waren ebenso wie die Schulmeister zur Ablegung des katholischen Glaubensbekenntnisses verpflichtet. Selbst die Zulassung zur Erlernung eines Gewerbes, die Erlaubnis zur Wanderschaft, sowie zur Ansässigmachung nach der Rückkehr waren an die gleichen Bedingungen geknüpft[7].

Nun mag sich ja ein gutmütiges Volk das alles gefallen lassen, wenigstens geraume Zeit, wenn die Geistlichkeit, der es diese Segnungen verdankt, nach jeder Richtung einwandfrei ist. Wie stand es nun damit in Bayern?


Noch unter der Regierung Max III. Josephs herrschten im bayerischen Klerus unerhörte Zustände. Und wiewohl der Kurfürst eingriff, änderte sich in den folgenden Jahrzehnten nur sehr wenig. Erst seit der Säkularisation, seitdem die Kirche um ihre Existenz Seite 165kämpfen mußte, besserten sich ihre inneren Verhältnisse. Nicht die Kirche reformierte sich, sie sank vielmehr immer tiefer, sondern sie wurde widerstrebend reformiert durch Staat und Gesellschaft, durch unmittelbare staatliche Verfügungen und Gesetze und durch den Zwang der Tatsachen.

Damals fiel es den bischöflichen Ordinariaten gar nicht ein, sich um die Seelsorge zu kümmern. Sie richteten vielmehr ihr Augenmerk so gut wie ausschließlich auf die Vergrößerung ihrer Einkünfte. Den Mitgliedern fehlten gründliche theologische Kenntnisse; man berief am liebsten solche Geistliche in die Ordinariate, die über eine gewandte Suada verfügten und mit hohlen Worten gegen die bayerische Staatsregierung kämpften. Sie besteuerten gegen die Konkordatsbestimmungen von 1583 die Hinterlassenschaft der Geistlichen, zerstückelten eigenmächtig die Patronatspfarreien, schufen mehrere Pfarreien in sogenannte »Tafelpfarreien« um, d. h. sie vergaben sie simonistisch an solche Priester, die sich zur Leistung von Pensionen verpflichteten. Allen Pfarramtskandidaten fertigten die Ordinariate für alle Fälle immer dieselben lobreichen Atteste aus, um die Taxen zu vermehren. In gleicher Absicht wurden die Prozesse und Untersuchungen gegen Geistliche endlos hinausgezogen.

Bei Disziplinaruntersuchungen gegen Pfarrer und Kooperatoren wurde die Wahrheit nie festgestellt, da der beauftragte Dekan seinen Kollegen möglichst gegen die reichbepfründeten adeligen Domherren in Schutz nahm. Deshalb ernannten die geistlichen Oberbehörden in den Städten und Märkten »Denunziatoren«, die das ehrenvolle Amt hatten, Verfehlungen Seite 166von Priestern geheim anzuzeigen. Dafür wurden die Denunziatoren wieder bei der Staatsregierung angeschwärzt. Da diese aber ihre Untersuchungen wenigstens unparteiisch führte, war sie im niederen Klerus ebenso beliebt, wie die Ordinariate verhaßt waren. Eine Wiederauferstehung feierten ja die »Denunziatoren« durch den Modernistenerlaß Pius X.!

Die Bischöfe hatten nur unter den adeligen, in einträglichen Pfründen sitzenden Pfarrern Anhänger, natürlich auch nur deshalb, weil diese Herren sich Hoffnung auf den violetten Talar machten. Im übrigen taten sie nichts, d. h. sie jagden, überließen aber ihre kirchlichen und pfarrlichen Verpflichtungen zum Vollzuge herumwandernden Supernumeraren.

Die Folge dieser Zustände war tiefe Versunkenheit des Volkes in Aberglauben und Dummheit. Zauberer, Wahrsager und Wundermänner hatten gute Zeiten. Man durchwühlte Gräber, verbrannte die geraubten Gebeine der Toten und machte aus ihnen Zauberpulver. Ließ das Ungeziefer die Menschen nicht schlafen, nagten Ratten und Mäuse die Vorräte an oder ließ sich gar eine harmlose Natter blicken, so rief man nach den zahlreichen Hexenmeistern oder Teufelsbannern. Desgleichen wenn eine schwarze Wetterwolke am Himmel stand. Denn daß Hexen und Unholde das Gewitter angezettelt hatten, stand fest. So nachhaltig war die Wirkung der kirchlichen Lehren der vorangehenden Jahrhunderte! Ehe das Unwetter vorbei war, hatte der Magier seinen Hexenlohn eingesackt. Wollte sich jemand vor Schwindsucht sichern, so ließ er sich von einem Barbier oder Wundarzt, der im Geruch der Zauberei stand, einige Seite 167Tropfen Blut abzapfen, in einen angebohrten Baum gießen und mit einem hölzernen Zapfen verwahren. Das kostete natürlich schweres Geld. Man kaufte und verkaufte Krankheiten, besonders Fieber. Leidenschaftlich wurden Ketten, Stricke oder Kleidungsstücke von auf dem Schafott gestorbenen Verbrechern begehrt; die unbrauchbar gewordenen Schwerter der Scharfrichter erstand man um hohe Summen. Um die Felder gegen Hagel zu schützen, raufte sich das Volk am Pfingsttage während der Vesperandacht um die Stückchen, die von der brennenden Figur des hl. Geistes vom Plafond der Kirche herabfielen, um sie auf die Äcker zu stecken. Am Karfreitag eilten die Bauernweiber in die Kirche, beschmierten das zur Verehrung ausgestellte Kruzifix mit Eiern, Brot und Schmalz in Kreuzesform und waren nun sicher, daß das ganze Jahr hindurch diese Nahrungsmittel gedeihen würden.

Dies sind einige Beispiele des damaligen Aberglaubens, der sich keineswegs auf die Bauern beschränkte, sondern auch gebildete Bürgersfrauen und die Angehörigen höherer Stände ergriffen hatte.

Selbstverständlich fiel es den Predigern und Beichtvätern gar nicht ein, hier Wandel zu schaffen. Die Regierung mußte vielmehr mit strengen Strafen gegen Zauberer und solche, die sich ihrer bedienten, einschreiten[8].

Daß es im benachbarten Tirol noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts um nichts besser war, ist nicht verwunderlich, da die blutigen Kriege ja sicherlich den Aberglauben beförderten. Ein Zeitgenosse berichtet darüber:

»Im Jahre 1811 erhitzten tausend Erzählungen Seite 168von Zeichen und Wundertaten in Tirol die ohnehin aufgeregte Einbildungskraft der unerschütterlichen Bewohner.

Heiligenbilder sollen geweint, Kruzifixe an Kreuzwegen mit den Augen gewinkt haben. Abgeblühte Lilien und Sträuße erhoben frisch ihre Kelche, wenn Waisen und Witwen auf dem Schlachtfelde entschlummerter Landesverteidiger sich inbrünstig vor den Madonnen niederwarfen, denen die Blumen zum Schmuck gedient hatten. Auf unzugänglichen Felsen versicherte man Gewieher gehört zu haben. Aus Moosen und Heiden streckten zerfleischte Arme und krallenartige Finger sich dem schaudernden Wanderer entgegen. Mehr als einmal sahen die bayerischen Wachen den alten Kaiserturm zu Kufstein nachts in hellen Flammen stehen, die der tiefsten Dunkelheit Platz machten, wenn man hinzueilte. Die Ruinen der Burgen der Vorzeit sprühten rote Funken in Kränzen, daß es am Firmamente gleich Nordlichten widerglänzte.

In Meran wie im Pustertal erblickten Bauern, die um die Geisterstunde nach den Wiesen gegangen waren, sie zu bewässern, auf den Bergjochen lange Züge österreichischer Soldaten, mit Kanonen und Geschütz, und sie vernahmen, wenn sie das Ohr dem Boden näherten, das Getöse eines Heeres, den Hufschlag der Pferde, das Lachen unbändiger Krieger; jedoch alles zerfloß in Dunst, sobald sie auf Nebenpfaden hinzu schlichen, sich an dem Anblicke zu weiden.

Auf dem blutgetränkten Friedhofe bei Wilten aber schwärmten, gleich Irrwischen, jeden Abend nach der Dämmerung blaue Flämmchen auf den Gräbern Seite 169der erschlagenen Tiroler und luden die Trauernden ein, für die Seelen ihrer Abgeschiedenen zu beten und ihrer in Liebe zu gedenken[9]

In Innsbruck sah damals das Volk an mehreren Fenstern das blutende Haupt Christi[10].

Wie hätte auch die Geistlichkeit dem entgegen treten können, wenn sie nur einigermaßen einem Bericht aus dem Beginn des vorigen Jahrhunderts entsprach. Da heißt es:

»Es läßt sich leicht denken, was die meistens unwissenden Mönche für erbärmlichen Unsinn auf den Kanzeln auskramen. Nur immer die schlechtesten von unseren Studenten treten — aus Verzweiflung irgendwo Brot zu finden — in den Kapuzinerorden. Das Noviziat und die zwei nächst darauf folgenden Jahre dürfen sie kein Buch, außer ein Gebetbuch ansehen. Ihre Philosophie ist ebenso elend, als ihre Kasuistik. Und solche Ignoranten stehen auf öffentlichen Kanzeln als Volkslehrer auf! — Ein äußerst unangenehmer, brüllender, stets einförmiger Ton — eine höchst fehlerhafte Mundart — eine wüste Aussprache — bootsknechtmäßige Gebärden, unbändiges Schlagen mit Händen und Füßen, bierschenkenartiges Schimpfen und Toben auf ihre Zeitgenossen — grobe Ausfälle auf gewisse Personen und ihnen nicht behagende obrigkeitliche Anstalten usw. sind die äußerlichen Zieraten der Bettelmönchspredigten. Die Komposition selbst gleicht einer Hanswurst-Jacke, aus buntscheckigen Lappen zusammengesetzt, und meistens aus einem alten lateinischen Prediger ins Undeutsche versetzt.«

Diese generelle Zeichnung wird nett beleuchtet durch folgendes Geschichtchen, das wir an gleicher Seite 170Stelle finden: Der Karmeliter-Prediger in München sagte einst auf der Kanzel: »Liebe Christen! Morgen gehen wir öffentlich mit der Prozession. Ihr werdet — wenn ihr Acht habet — Freymaurer und Freydenker an vielen Fenstern der Stadt sehen. Unchristen, die über unsere Andacht, wo nicht laut, doch wenigstens im Stillen spotten. Waffnet Euch denn mit dem Eifer des Herrn, greifet nach Steinen, und werfet sie nach ihnen

Zur Belohnung für diese liebevolle Ermahnung sandte der Exjesuit Pater Frank dem Redner sechs Krüge Wein und einen Eierkuchen. Aber nicht genug damit, ließ der Kurfürst Karl Theodor den Prediger seiner höchsten Gnade und seines Wohlgefallens versichern mit dem Zusatz: »er möchte unermüdet in seinen christlichen Bemühungen fortfahren!«

Der tolerante Geist des Vorganges wirkte im Volke noch heftig beim Regierungsantritte Max IV. Josephs, der bekanntlich eine protestantische Prinzessin zur Gemahlin hatte, nach. Als sie guter Hoffnung war und nach altem Herkommen in landesherrlichen Bekanntmachungen das Volk aufgefordert wurde für eine glückliche Entbindung zu beten, stieß das christkatholische Volk Münchens laute Verwünschungen gegen die vortreffliche Frau aus, lediglich weil sie Protestantin war und die Geistlichkeit gegen sie hetzte. Es hätte damals auch fast eine Pöbelrevolte gegeben, als der Kurfürst für seine Gemahlin ein protestantisches Bethaus in Nymphenburg errichten ließ und hier ein protestantischer Geistlicher angestellt wurde. Man war desto empörter, als dieser ketzerische Prediger so ausgezeichnet sprach, daß selbst viele Katholiken Seite 171seinen Predigten beiwohnten und sie gegenüber denen der Bettelmönche als Muster hinstellten.

Was die Geistlichkeit an Qualität vermissen ließ, ersetzte sie durch Quantität, und was an der Güte des in der Kirche Gebotenen fehlte, wurde reichlich wettgemacht durch die Zahl der Gotteshä.

Damals gab es nämlich in München acht Männerklöster und neun Nonnenklöster. Wundertätige Bilder wurden siebzehn gezählt, dank einer neuen Augenwendung eines dieser Gemälde in der St.-Peters-Pfarrkirche erhöhte sich diese Zahl im Jahre 1801 auf achtzehn. Aber in nächster Umgebung der Stadt gab es noch mehr. Die Reliquien und heiligen Leiber waren unzählbar. Kongregationen oder Brüderschaften zu gewissen Andachtsübungen gab es 27[11].

Unter Max III. Joseph erreichte der weltliche Klerus in Bayern eine Kopfzahl von 10800 Mann, Kirchen gab es 28709. Außerdem wohnten noch 5400 Ordensmönche in 180 Klöstern. Von der Staatsregierung, den Ständen und Städten wurden jährlich über hundert Freitische an die Theologen der Universitäten und Lyzeen, besonders an die Söhne der Bediensteten verteilt. Jeder Kandidat der Theologie, der über einen solchen Tischtitel verfügte, wurde vom Weihbischof zum Priester ordiniert ohne jede Rücksicht auf geistige und moralische Befähigung. Da Hunderte von Geistlichen überzählig waren und keine Anstellung fanden, so zogen sie von einem Pflegegericht bettelnd und schmutzig, mit zerrissenen Kleidern ins andere, von Dorf zu Dorf. Zur Osterzeit und an den Feiertagen von den Pfarrern gedungen, ergaben sie sich nachher wieder der Bettelei und Seite 172dem Vagieren. Es war vorwiegend ein Klerus ohne Bildung, Gesittung und Unterhalt.

Da die Pfarrer auf dem Lande größtenteils in ihren Einkünften von der Landwirtschaft abhingen, so forderten sie Kooperatoren, die in der Landwirtschaft bewandert waren. Darauf mußten sie begreiflicherweise größeres Gewicht als auf wissenschaftliche Bildung legen. Viele Pfarrwohnungen wurden in schmutzige Bauernstuben umgewandelt, wo verschiedenerlei Haustieren ein warmes Winterquartier eingeräumt wurde. Die Einkünfte waren auch deshalb so dürftig, weil sich die Landbevölkerung ihre Messen um wenige Kreuzer in den Klöstern lesen ließ.

In den Städten ahmten die Geistlichen ihre Domherren nach und vertrieben sich die Zeit durch die Jagd. Im malerischen Gewande, mit aufgestülptem Hute, mit goldenen und silbernen Schnüren daran, mit gepudertem Haar, weithin flatternder Halsbinde, gefärbten Strümpfen und tressiertem Leibrock gingen sie zum Weidwerk. Da sie aber nicht jagdberechtigt waren, so machten sie mit den Wilddieben gemeinsame Sache. Diejenigen Geistlichen, die die Jagd nicht liebten, zogen in die Gasthä, wo sie sich mit Gesang, Spiel, Tanz und leichtfertigen Weibern ergötzten.

Der hohe Klerus, die bayerischen Bischöfe von Salzburg, Freising, au, Regensburg, Bamberg, Eichstädt und Augsburg, sämtlich Fürstenhän oder ersten Adelsfamilien entstammend, waren durch Staatsgeschäfte ihrem geistlichen Amt entzogen, verwalteten ihre Domänen und zogen von einer Villa zur anderen.

Seite 173Von der Anmaßung der Domherren zeugt etwa das Verhalten der Freisinger gegen ihren Bischof, den bayerischen Herzog Johann Theodor, Onkel des Kurfürsten Max Joseph. Bei der Wahlkapitulation forderten sie außer anderem auch Jagd in den bischöflichen Waldungen, und an hohen Festtagen für jeden Domkapitular einen Hirsch. Nicht genug damit, daß diese Herren ihrem Bischof das schönste Wild abschossen, sie vergeudeten auch noch die Einkünfte und machten überdies jährlich für über 47000 Gulden Schulden. Allerdings konnte sich der Bischof wenig um Freising kümmern, denn er bekleidete noch nebenher die Würden eines Bischofs von Regensburg und Lüttich. Läßt sich denken, wie gewissenhaft er seiner seelenhirtlichen Tätigkeit obliegen konnte und wie viel die fromme Herde ihren Bischof zu sehen bekam! Übrigens hinderte das keineswegs, daß Papst Benedikt XIV. Johann Theodor zum Kardinal ernannte, »in Rücksicht auf die großen Verdienste, welche sich das bayerische Haus um die katholische Religion erworben«.

Die Armut des niederen Klerus stand überhaupt im schärfsten Gegensatz zu Üppigkeit und Reichtum des hohen. So war der Erzbischof von Salzburg und Fürstprimas von Deutschland, Reichsgraf Sigismund von Schrattenbach, ein gar prunkliebender Herr. Bei Konferenzen war er von seinen 8 Suffraganbischöfen umgeben, in seinem Domkapitel saßen 7 Reichsfürsten und 17 Reichsgrafen, ihn bedienten 73 Kammerdiener, 18 Hoflakaien und 7 Heiducken; 55 Hofmusiker verscheuchten ihm die Regierungssorgen und 21 Köche sorgten für des Leibes Wohlfahrt. 12 Edelknaben servierten ihm in prunkendem Gold.

Seite 174Wie der Erzbischof, so besaßen seine Suffragane Erblandmarschalle, Erbkämmerer, Erbschenken, Erbtruchsessen, Universitäten mit theologischen, juristischen und philosophischen Fakultäten, einen Hofrat, Sanitätskommission, Oberhofmarschallamt, Oberjägermeisteramt. Die meisten Ämter waren unter die Domherren verteilt, unter denen ein jeder den vierten Grad adeliger Abkunft in väterlicher und mütterlicher Linie aus deutschem Geblüt nachzuweisen hatte. Schon in der Wiege wurde der adelige Knabe als Domherrnaspirant vorgemerkt, um mit 14 Jahren tonsuriert und mit dem geistlichen Violett bekleidet zu werden. Als niedersten Gehalt bezog der junge Domherr 1500 Gulden, wofür er von 12 Uhr nachts an im ersten Jahre innerhalb der Mauern der Bischofsstadt weilen mußte. Um später eventuell eine gute Partie machen zu können, ließen sich viele dieser Domherren nur die niedere Weihe erteilen.

Das Volk aber ließ sich in unergründlicher Dummheit solche Seelenhirten gefallen!

Was den Jesuitenorden betrifft, so hatte er es immer verstanden, über seine religiösen, ewigen Zwecke das zeitliche Wohl nicht zu vergessen. Die ersten Jesuiten waren im Jahre 1555 zu Fuß nach Ingolstadt gekommen. Sie waren so arm gewesen, daß Herzog Albrecht V. ihnen das Reisegeld nach Rom hatte schicken müssen. In ihrer Gründungsbulle von 1540 waren sie an das Gelübde der evangelischen Armut gebunden worden, doch hatten sie das Privileg zur Förderung der Wissenschaft und Studien Eigentum zu erwerben. Wie gut ihnen das gelungen war, lehrt ihr Besitzstand im Jahre der Aufhebung. Seite 175Damals gab es in Bayern 546 Ordensangehörige. Deren Gesamtvermögen, das sich aus alten Klöstern, Kammergütern, Stiftungen, Erbschaften der Novizen, unbeweglichen Gütern, angelegten Kapitalien, Mobilien und vorhandener Barschaft zusammensetzte, belief sich auf die Höhe von 7382500 Gulden. Das war für die damalige Zeit eine ungeheure Summe, die an Kaufkraft etwas 40-50 Millionen Mark heute entsprechen dürfte[12].


Eine Folge des klerikalen Verdummungssystems in Bayern war ein fanatischer Haß alles Fremden, besonders alles Norddeutschen.

Die von Max I. Joseph nach München berufenen Gelehrten wurden als halbe Landstreicher betrachtet, denn die Bayern, die wenig reisten, konnten sich gar nicht vorstellen, daß einer seine Heimat freiwillig verließ, um zu ihnen zu kommen. Norddeutsch und protestantisch waren identisch. Die Württemberger wurden deshalb mit den Norddeutschen in einen Topf geworfen.

Man schilderte diese fremden Völkerschaften in den öffentlichen Blättern etwa so, wie man heute von den Patagoniern dem Volke erzählen würde. Der »Morgenbote«, Jahrgang 1809, S. 277, schreibt z. B.: »Der Grundzug des süddeutschen Charakters ist Kraft, der des norddeutschen Schwäche. Daher bei jenen Ausschweifung im Genuß der Liebe und anderer sinnlicher Vergnügungen, kriegerischer Geist, Herzensgüte, Offenheit. Bei diesen Hypochondrie, Falschheit, Feigheit, Ränkesucht. Schon im Wuchs und in der Sprache hat die Natur diese Charakterverschiedenheit klar ausgedrückt[13]

Seite 176Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts weigerte sich der Münchener Stadtmagistrat den ersten protestantischen Bürger aufzunehmen. Man unterbreitete die Frage dem landständischen Ausschuß. Dieser geriet aber in »durchdringende Bestürzung«, als der Kurfürst Maximilian IV. Joseph die Toleranz erzwang und wandte ein, daß die bayerischen Fürsten durch Hausvertrag von 1771 gehalten seien, keine andere Religion als die katholische selbst zu bekennen und in Bayern einzuführen. Die landesherrlichen Verordnungen vom 10. November 1800 und vom 26. August 1801, die erklärten, daß die katholische Religion weder nach der Reichsverfassung, noch nach der Landesverfassung als ein Erfordernis für die Ansässigmachung in Bayern zu betrachten und demnach andern Religionsangehörigen wegen dieser (akatholischen) Eigenschaft die Ansässigmachung nicht fernerhin in Bayern zu versagen sei, wurden vom landständischen Ausschuß in ihrer Rechtskraft bestritten. Dazu kommen folgende Vernunftgründe!!!

Die Religionseinheit ist das beste Mittel zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung. »Bayern genoß diese Einheit in Ruhe; mit der Vervielfältigung jetzt Trennung einzuführen, kann keine überwiegenden Vorteile gewähren. Diese uneingeschränkte Aufnahme fremder Religionsverwandten ist eine Quelle gefährlicher Spaltungen, die Grundursache einer fortwährenden Entstehung entgegengesetzter Parteien; Einheit der Religion hingegen ist ein geheiligtes Band, welches alle Staatsbürger am Fuße des nämlichen Altars vereinigt, welches in brüderlicher Eintracht alle an die nämlichen Pflichten hinweist, welches Seite 177also durch die Identität der Gesinnungen und die Übereinstimmung der religiösen Handlungen mehr denn irgendein anderes Mittel die Ordnung und Ruhe im Staate befestigen kann.«

Der aufgeklärte Kurfürst und sein vortrefflicher Minister Graf Montgelas trat dieser Anschauung natürlich mit Nachdruck und Erfolg entgegen[14].

Die Meinung, daß der Staat sich nicht um die Kirche zu kümmern habe oder, richtiger ausgedrückt, nur insofern, als er für sie Schergendienste verrichte, ihr Ausführungsorgan sei, war und ist auch heute noch die der Kirche. Das kommt deutlich in der Stellungnahme gegen die Toleranzbewegung vom Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck.

An den letzten Reichstag, der im Jahre 1806 in Regensburg tagte, sandte der Bischof von Trient, Graf Thun, im Einverständnis mit den Bischöfen von Augsburg, Chur und Brixen, zu Händen des päpstlichen Nuntius Della Genza »Gravamina«, eine Beschwerdeschrift. Sie klagten über weltliche Willkür der Kirche gegenüber und »jenen unerträglichen Gewissenszwang, der unter dem Vorwande allgemeiner Toleranz und des jus circa sacra gegen diejenige Anstalt geübt wurde, die von dem Heilande selbst nicht zu iver Duldung, sondern zur Leitung aller Völker, Fürsten und Staaten auf dem Wege des Heiles eingesetzt worden ist.«

In dieser Beschwerdeschrift findet sich auch folgender us: Durch das Toleranzedikt Kaiser Josephs II. sei in denjenigen Ländern, wo die Häresie sich festsetzte, durch öffentliche Verträge bewilligt Seite 178worden, daß die Akatholiken geduldet würden und sich friedlich des Bürgerrechts erfreuen könnten. Durch das Toleranzedikt sei aber diese Duldung auch über diejenigen Länder ausgedehnt worden, welche sich bis dahin von aller Häresie rein erhalten hätten, so daß, wenn die Irrgläubigen in diesen Gegenden eine bestimmte Anzahl von Personen oder Familien bildeten, sie akatholische Pastoren, einen solchen Gottesdienst, solche Kirchen und Schulen haben könnten, woraus den Katholiken wegen des Umganges mit solchen große Gefahr der Verführung erwachse. Es wäre daher sehr zu wünschen, daß das Toleranzedikt in allen reinkatholischen Ländern zurückgenommen werde. Anstatt aber selbst die natürliche Toleranz zu üben und den Katholiken ihre Rechte zu lassen, mische sich der Staat in alle Verhältnisse ein. Vor allem müsse die Kantische Philosophie von ihrem Throne gestoßen werden, da deren Grundsätze folgerichtig eine allgemeine Anarchie hervorbringen müßten[15].

Zu welch völliger Verdrehung der Meinung und Verkennung der Tatsachen es infolge der Sklavendienste, die der Staat jahrhundertelang der Kirche erwiesen hatte, gekommen war, lehrt die Stellungnahme, die etwa Besnard der Denk- und Gewissensfreiheit gegenüber einnimmt. Er meint: Sie gewähre jeder Gesinnung genug Freiheit, nur nicht der christlichen!

»Mit dieser Freiheit hielt man es aber nicht für unvereinbar, Gesetze in Vorschlag zu bringen, die die Rechte und Freiheiten der Katholiken, älter als die Rechte aller Throne der Welt, im höchsten Grade Seite 179gefährdeten, wie eine gemessene Regulierung des Aufwandes der Kirche und der Geistlichkeit nach dem Verhältnisse der Staatsrevenuen, Belebung toter Kirchenschätze durch willkürliche Verwendung von Stiftungen usw.«

Der Verfasser entrüstet sich auch über die Verminderung der Prozessionen, Feiertage und der Ehehindernisse. Er meint, man hätte lediglich deshalb auf eine Aufhebung des Zölibats verzichtet, weil dadurch die staatliche Witwenkasse mehr in Anspruch genommen worden wäre.

Man empörte sich darüber, daß Protestanten sich in der Hauptstadt München selbst ansässig machten, ja, daß es einer gewagt hatte, das aufgehobene Kloster der Karmeliterinnen »zum allgemeinen Ärgernisse der Katholiken« anzukaufen. »Wahrhaften Schrecken« aber bereitete es, als etwas später (als 1803) die Nachricht kam, daß Akatholiken zum Unterrichte der Katholiken in das Land gerufen, ihnen die Erziehung der Jugend anvertraut, selbst auf der katholischen Hochschule, einst das Bollwerk des wahren Glaubens in Süddeutschland, ihnen Katheder eingeräumt worden. »Man konnte sich das alles nicht im Einklang denken mit den Pflichten, die ein katholischer Fürst seinen katholischen Untertanen gegenüber übernommen hatte[16]

So weit hatte es kommen können nur deshalb, weil ursprünglich die Fürsten aus Angst für ihr Seelenheil sich verpflichtet gefühlt hatten, so gut wie alle kirchlichen Forderungen zu erfüllen. Das Beispiel Heinrichs IV. mag gar manchen davor gewarnt haben, sich gegen kirchliche Machtansprüche, so unbegründet Seite 180sie waren, mit Energie aufzulehnen. Ein Brauch aber, der Jahrhunderte besteht, wird in den Augen der Urteilslosen geheiligt, und sei es der größte Mißbrauch. So war die Folge, daß man nicht etwa jeden Versuch des angeblichen Nachfolgers Petri sich um weltliche Angelegenheiten zu kümmern, als Anmaßung zurückwies, sondern daß man im Gegenteil die Bemühungen der weltlichen Gewalten um Rückerlangung der durch Dummheit ihrerseits und raffinierte Schlauheit auf der andern Seite verlorenen Rechte als Sakrileg betrachten konnte.

Man hatte es dank der menschlichen Dummheit dahin gebracht, daß das Monopol der kirchlichen Lehre, deren Beschaffenheit wir ja weiter oben zur Genüge kennen lernten, allseitig anerkannt wurde. Man hatte das Volk daran gewöhnt, den Staat nur als Ausführungsorgan der Kirche zu betrachten und hatte den gesunden Menschenverstand, jedes Billigkeitsgefühl so weit eingebüßt, daß man sich in diesem Pfuhle wohl fühlte und den angriff, der es wagte, das verblendete Volk daraus zu befreien, ja, der ihm die Möglichkeit gewährte, auch nur andere Meinungen kennen zu lernen.

Das war der Segen einer Zeit, die mit Staatsgewalt Frömmigkeit zu erzwingen versucht hatte.


Aus Billigkeitsgründen wollen wir nun auch auf protestantische Länder einen Blick werfen. Daß man hier im wesentlichen die gleichen Prinzipien hatte, leuchtet ein.

Die Zwickauer Ratsschulbibliothek verwahrt ein Seite 181Exemplar der Originalausgabe des am 25. Juni 1580 in Dresden erschienenen Konkordienbuches. In diesem dicken Folioband sind Bekenntnisschriften, die drei ökumenischen Symbole, die Sondersymbole der evangelisch lutherischen Kirche und endlich die Konkordienformel von 1577 vereinigt. Vorbesitzer dieses Buches war der Pastor Wenzeslaus Altwasser aus Oels, der in Bergreichenstein wirkte, dann aber nach der Schlacht am Weißen Berge und den nunmehr einsetzenden Bekehrungsversuchen der Jesuiten und Mißhandlungen katholischerseits zum Wanderstabe griff.

Von seiner Hand befinden sich auf dem Vorsatzpapier folgende Eintragungen:

Anno Domini 1629. 20. Julij. Nach vollendeter fünffacher ordentlicher Außlegung mit den Summarien Herrn Viti Dieterichs der H. Bibel von Meinen zwayen Kindern alß Matthia Altwasser, von Prag auß Böhmen, eilf järgen vndt numehr inß zwölffte gehenden Knaben, vndt Anna Maria Altwasserin der Jungern, in das zehende Jahr gehenden Mägdlein, auch auß Böhmen, in der Königlich Freyen Berg Stadt Bergreichenstein gebohren, geschehen, ist ihnen beyden gegenwertiges Buch Formula concordiae auch vnder die Hende ordentlich vndt verstendlich außzulesen von Mir gegeben worden, Gott verleihe vnd gebe ihnen seinen heiligen Geist, daß die nach ihrem Kindlichen Alter so viel drauß fassen vndt Behalten mögen, das ihnen die zeit ihres Lebenß zu ihrem Besten gedeyen möge etc.

Den 6. Septemb. gleich auf den Abendt ist es mit lesen ordentlich zuendt gebracht worden.

Den 10. Septemb. ist es Widterumb von Neuem Seite 182Angefangen worden vndt die woche furm Advent noch desselben Jares absolviret worden.

Anno Domini 1630. den 22. May Stylo Veteri. Nachdem gedachte meine zwey Kinder, Matthiaß vndt Anna Maria, die H. Bibel (Gott sey lob vndt danck dafur gesagt) nu zum sechsten mahl mit ordentlichem Lesen zu ende bracht vndt numehr daß Jüngste Kind Wenzeßlauß Johanneß Altwasser auch darzu angewiesen worden. Alß habe ich ihnen eben desselben tags, Welcheß Vigilia SS. Trinitatis gewesen, das Buch Formula Concordiae zum dritten mahl vnter die Hände gegeben, daß eß also diese 3 Meine Kinder Matthiaß, Anna Maria vndt Johannes Wenzeßlauß ordentlich Morgenß, Mittagß vndt Abendß durchlesen sollen. Gott wolle seinen heiligen Geist ihnen verleihen, darmit eß auch in ihren vnmundigen Jahren nicht ohne frucht wolle abgehn vndt auf dieser Lehr vndt Bekentnuß biß an ihr ende ... bestendig verharren vnd seliglich ihr Leben beschließen. Amen, Amen, in deinem Namen, Herr J. C. Amen.

Den 23. Junij ist dieses Buch Formulae concordiae mit ordentlichem durch lesen Morgenß früe zu ende bracht worden. Gott dem Herrn sey dafür lob vndt danck gesagt, der wolle geben vndt verleihen, daß es nicht ohne Nutz möge abgegangen sein[17]«.

Ein Kommentar erübrigt sich!


Eine Analogie zur katholischen Intoleranz und Beschränktheit bietet der Kampf zwischen den einzelnen protestantischen Konfessionen.

Seite 183Bekanntlich bekämpften sich in früheren Jahrhunderten die Lutheraner und Reformierten mit der größten Leidenschaft, ja man paktierte lieber mit dem Katholizismus, als daß man sich zu Konzessionen innerhalb der protestantischen Glaubensgemeinschaften herbeiließ. Da dieser Zustand sehr viele Unzuträglichkeiten im Gefolge hatte und naturgemäß lediglich dem Katholizismus dienlich war, da überdies die Unterschiede der Glaubenslehre zwischen den protestantischen Konfessionen kaum in die Wagschale fielen gegenüber den Gemeinsamkeiten, war nichts näher liegend, als der Versuch einer Verschmelzung, einer Union. Sparte sie doch nicht nur Kräfte, um sie für wichtigere Aufgaben freizumachen. Vor allem ermöglichte erst sie der Disziplin und Geschlossenheit des Katholizismus in einer Erfolg versprechenden Weise entgegenzutreten. So ist es nicht verwunderlich, daß von Zeit zu Zeit immer wieder Versuche nach dieser Richtung unternommen wurden, nachdem Luthers Starrsinn in Fragen der Abendmahlslehre auf dem Religionsgespräch zu Marburg (1529) eine Verständigung mit Zwingli verhindert hatte.

Endlich sollte das 19. Jahrhundert die längst gehegten Wünsche verwirklichen, als Friedrich Wilhelm III. von Preußen 1817 in seinen Staaten die Union vollzog. Nassau, Rheinbayern, Baden, Darmstadt schlossen sich im gleichen und den folgenden Jahren an. So wäre alles in schönster Ordnung gewesen, hätte nicht die Geistlichkeit beider protestantischer Konfessionen da und dort zu stören versucht, was die Regierungen mit großer Mühe geeint hatten. Der sogenannte Positivismus, die Richtung, die einen Ruhm darin Seite 184findet, den Zeitbedürfnissen und Fortschritten der Wissenschaft möglichst gar keine Konzessionen zu machen und im Buchstabenglauben und Konservierung des größten Unsinns, wofern er nur alt genug ist, sich nicht genug tun kann, gewann nun in den fünfziger Jahren die Oberhand. Damit wurde die Rückbildung des gesamten kirchlichen Lebens im Sinne des 16. und 17. Jahrhunderts eingeleitet, alle freie Forschung und Wissenschaft wurde geächtet.

Laut Ausschreibung vom 26. Januar 1854 sollten in Kurhessen zu Kirchenältesten nur die Erleuchtetsten gewählt werden und diese mußten wöchentlich einmal in den Hauptstücken des Katechismus und den Bußpsalmen überhört werden! In Mecklenburg wurde die Bilderbibel von Schnorr verboten »wegen erheblicher in der christlichen Lehre begründeter Bedenken die bildlichen Darstellungen Gottvaters betreffend!«

In diesem heute noch gottgesegneten Lande hatte — wie sich aus obigem schon schließen läßt — die Volks- und Schulbildung einen wunderbaren Grad der Vollkommenheit erreicht: von 822 Rekruten des Jahrganges 1855 konnten nur 361 Gedrucktes lesen, 405 schwankten zwischen Lesen und Buchstabieren und bloß 118 konnten fertig schreiben. In 79 Ortschaften waren in einem der letzten Jahre sämtliche Geburten unehelich und in 100 Ortschaften die Hälfte.

Ist es doch eine bekannte Erfahrungstatsache, daß jede Priesterschaft, sobald sie die Gewalt erlangt, weit größeren Wert auf unbedingte Unterordnung und blinde Anerkennung ihrer Lehren legt, als auf sittliche Lebensführung; freie Forschung aber und unabhängiges Seite 185Streben nach Wahrheit in Acht und Bann tut.

Im Musterlande Mecklenburg wurde unterm 6. Juni 1858 dem positiv gesinnten Professor Dr. Baumgarten von Rostock das Recht, Vorlesungen zu halten, entzogen, »weil seine Häresien den ganzen Bestand der kirchlichen Lehre zu zersetzen und auch die faktischen Bestände der kirchlichen Ordnung aufzulösen drohen«.

In einer am 18. und 19. August auf dem Gute des Freiherrn von Maltzan abgehaltenen Konferenz wurde über die Frage »Wer ist ein Ketzer?« verhandelt. Man bewies aus der Konkordienformel, daß es mit einem Reformierten, der die reformierte Lehre aufrecht erhalte, keine Gebetsgemeinschaft gäbe! Als der Abgeordnete Manecke-Duggenkoppel diese Unduldsamkeit im Landtag zur Sprache brachte, forderte ihn der Vizelandmarschall von Maltzan, ein Sohn des Vorgenannten.

In Reuß-Greiz wurde auf Betreiben des lutherischen Agitators Löhe unterm 11. Dezember 1856 die Teilnahme der Reformierten am Abendmahl, wiewohl die Fürstin dazu gehörte, verboten, »weil die gemischte Abendmahlsgemeinschaft Sünde sei«.

Der bayerische Pfarrer Wucherer erklärte es in seinem kirchlichen Wochenblatt sogar für bedenklich, daß lutherische Pfarrer mit reformierten Frauen in gemischter Ehe lebten!

Am tollsten und unionsfeindlichsten gebärdeten sich die lutherischen Pfarrer in Preußen. Die Intoleranz und Verfolgungssucht dieser Richtung fand ihren klassischen Ausdruck in der Rede des Justizrates Seite 186und Oberkirchenrates Dr. Stahl vom 29. März 1855. Er sprach in Berlin »Über die christliche Toleranz« und erklärte die Toleranz als Kind des Unglaubens. »Die Forderung der Gewissensfreiheit als Recht gesetzlicher Staaten und verfassungsmäßig regierter Völker ist ein Teil jenes Werkes der Zerstörung und Umwälzung, welche die moderne Wissenschaft bezeichnet und die Ruhe Europas bedroht.« Er erklärte — allerdings mit einigem Recht! — das Christentum für seinem Wesen nach intolerant. Sein Keim ist die Exklusivität, seine Wirkungsart ist die Aggression gegen alle anderen Religionen, die Propaganda unter allen Völkern. »Der einzelne Mensch könne für seine Person denken und, soweit es die polizeiliche Fürsorge für Presse und Buchhandel zuläßt, auch sogar schreiben, nur darf er hiernach nicht Gott mit Gleichgesinnten verehren wollen.« Stahl wendet sich ausdrücklich an die christliche Obrigkeit, die »zur Vermeidung von Ärgernis und öffentlicher Verführung über die Freiheit der religiösen Vereinigung wachen müsse, auch hinsichtlich positiv gläubiger Konfessionen und Sekten der Christenheit gehe ihre rechtliche Verbürgung der Religionsübung über die Grenze der christlichen Toleranz hinaus[18]

Noch heute ist ein preußischer Erlaß vom 30. Januar 1851 in Gültigkeit, nach dem ausländische Juden zur Bewilligung eines längeren Aufenthaltes der Genehmigung des Ministers des Innern bedürften. Gegenwärtig sind für die Genehmigung nachgeordnete Behörden zuständig[19].


Seite 187Die Verfolgungen Andersdenkender in den Grenzen des deutschen Reiches muß als höchst maßvoll bezeichnet werden gegenüber der im kalvinistisch-puritanischen Schottland. Zweifellos waren die protestantischen Verfolgungen in allen Ländern weit weniger blutig, als die katholischen. Das hängt aber viel weniger mit der toleranteren Gesinnung, als mit der geringeren Macht zusammen, die in der Regel der Protestantismus über die Seelen und die Regierungen ihrer Länder ausübte. Immerhin wurde an Intoleranz auch anderwärts erkleckliches geleistet.

In England wurde 1562 ein Gesetz erlassen, wonach alle, die jemals einen Ehrengrad an den Universitäten erlangt hatten oder ordiniert worden waren, alle Rechtsanwälte, alle Magistratsmitglieder bei Gefängnisstrafe den Supremateneid leisten mußten. Weigerten sie sich nach drei Monaten, den ihnen wieder zugemuteten Eid zu leisten, so wurden sie als Hochverräter mit dem Tode bestraft.

Das war insofern berechtigt, als die Katholiken sehr unsichere Untertanen waren. Die Regierung hätte unter diesen Umständen ganz recht gehabt, sie durch diesen Eid in Zukunft von solchen Ämtern auszuschließen. Aber ein rückwirkendes Gesetz zu erlassen, das beinahe jeden gebildeten römischen Katholiken, der sich weigerte, den mit den Lehren seiner Kirche zugestandenermaßen unvereinbaren Eid zu leisten, der Todesstrafe schuldig machte, war sowohl eine unerhörte Grausamkeit, als eine haarsträubende Dummheit. Denn selbstverständlich schworen ihn nur die schlechten Charaktere, die darum doch innerlich ihrer Kirche treu blieben und kaum einer Seite 188Regierung geneigter wurden, die sie zu solcher Heuchelei zwang. Übrigens wurde dieses Gesetz lange vor der Bulle erlassen, die Elisabeth des Trones verlustig erklärte.

Fast noch dümmer als das Gesetz, sind die zu seiner Rechtfertigung angeführten Gründe. Bischof Bilson sprach in seinem Werke »Christian Subjection« (1585) von der absoluten Sündhaftigkeit der Toleranz. Nicht bloß das öffentliche Bekenntnis des Katholizismus sei darum verwerflich, sondern auch die geheime Gesinnung. Er ruft den Katholiken zu, »kein Winkel ist so geheim, kein Gefängnis so fest, um zu gestatten, daß eure Ruchlosigkeit dort Gott schände, andere anstecke und euren Trotz befestige ... Ein christlicher Fürst darf keine Verzeihung und Nachsicht gegen eure Falschheit haben« (p. 26).

Bei der Thronbesteigung Elisabeths wurde ein Gesetz erlassen, das jeden Gottesdienst der Katholiken — die sich bis dahin noch vollkommen ruhig verhalten hatten — außer nach dem Prayer Book verbot. Die Strafe für die dritte Übertretung war Einkerkerung auf Lebenszeit. Ein anderes Gesetz legte jedem, der sich vom anglikanischen Gottesdienst fern hielt, eine Geldbuße auf. Die Presbyterianer wurden während einer langen Reihe von Herrschern eingekerkert, gebrandmarkt, verstümmelt, gegeißelt und an den Pranger gestellt. Viele Katholiken wurden unter falschen Vorwänden gefoltert und gehängt, die Wiedertäufer und Arianer aber lebendig verbrannt.


Seite 189In Schottland war es am schlimmsten. Dort wurde fast während der ganzen Zeit, die die Stuarts auf dem Trone Englands saßen, von der englischen Regierung auf Anstiften der schottischen Bischöfe und mit Billigung der englischen Kirche eine Verfolgung gegen alle, die die bischöfliche Verfassung verwarfen, mit einer Grausamkeit geführt, die mit fast allen, die uns überliefert sind, wetteifern kann.

Wenn ein Konventikel in einem Hause gehalten wurde, war der Priester der Todesstrafe verfallen. Wurde es unter freiem Himmel abgehalten, verfielen Prediger und Gläubige demselben Schicksal. Die Presbyterianer wurden wie Verbrecher über die Berge gejagt, man riß ihnen die Ohren vom Kopf, brandmarkte sie mit glühenden Eisen, riß ihnen die Finger mit Daumenschrauben auseinander, zerquetschte die Knochen ihrer Beine in spanischen Stiefeln, peitschte Frauen öffentlich durch die Straßen, exportierte unzählige nach Barbados, hetzte wütend gemachte Soldaten auf sie und feuerte sie an, ihre Geschicklichkeit im Foltern zu zeigen.

Als die Reformation in Schottland siegte, war eine ihrer ersten Handlungen ein Gesetz, das jedem Priester die Zelebrierung und jedem Laien das Hören der Messe verbot bei Strafe der Vermögensentziehung bei der ersten, der Verbannung bei der zweiten und des Todes bei der dritten Übertretung. Man bezeichnete es öffentlich als unerträgliches Übel, daß der Königin von Schottland gestattet sein sollte, in ihrer eigenen Privatkapelle die Messe zu hören. Daß noch heute in England die Katholiken einige Rechte nicht besitzen, ist ja allgemein bekannt.

Seite 190Als in Frankreich die Verwaltung gewisser Städte den Protestanten eingeräumt wurde, unterdrückten sie sofort gewaltsam den katholischen Gottesdienst unbedingt, verboten jedem Protestanten einer Hochzeit oder einem Leichenbegängnis beizuwohnen, wobei ein katholischer Priester fungierte, hoben alle gemischten Ehen auf und verfolgten mit Aufbietung all ihrer Macht diejenigen, die von ihrem Glauben abgefallen waren.

In Schweden wurden alle, die in irgendeinem Artikel von der Augsburger Konfession abwichen, sofort verbannt[20].

Es war eben in allen Ländern, bei allen Konfessionen der gleiche Geist der Intoleranz lebendig. Mit den gleichen Mitteln der Absperrung gegen Gedanken, die von den eigenen abwichen, der Zwangserziehung zu einer äußerlichen Kirchlichkeit, der Verfolgung Andersdenkender wurde gewirkt. Überall machte sich der Staat zum Büttel der Kirchen. Und doch hätte jedem Verständigen klar sein sollen, daß man mit Gewaltmitteln Gedanken nicht besiegen kann und daß es doch wohl an der Beschaffenheit der kirchlichen Lehren liegen müsse, wenn sie sich nicht anders, als durch solche Zwangsmaßnahmen aufrecht erhalten ließen.

Wir haben gar keine Veranlassung, hoheitsvoll auf jene Zeiten herabzublicken. Es wäre heute noch ebenso, wenn der Laienverstand nicht über die Weisheit der Theologen und ihrer Werkzeuge gesiegt hätte. Die Gefahr eines Rückfalles besteht aber so lange, bis nicht die Trennung von Kirche und Staat durchgeführt ist. Denn auch heute noch muß der Seite 191freie Denker, jeder, dessen Gewissen sich nicht in die Schablone irgendeiner polizeilich konzessionierten Lehrmeinung einzwängen läßt, um sein Dasein kämpfen. Die Mittel sind ja minder barbarisch, aber der Geist, in dem sie angewandt werden, unterscheidet sich nur unwesentlich von dem der Vorzeit.

Und fragen wir uns, welche hohen Glaubensgüter denn heute noch mit Gewaltmitteln, als da sind Kirchenzwang, Boykott gegen Andersdenkende, Schwierigkeiten bei Staatsanstellungen usw. usw. verteidigt und propagiert werden, so finden wir, daß darunter gar manche sind, die alles andere eher als Schutz verdienen. Sehr häufig wird die Dummheit gegen Aufklärung und Intelligenz in Schutz genommen, und wenn das nicht schon immer so gewesen wäre, dann hätten wir es in der Kultur unendlich viel weiter gebracht. Dem Laienverstand gehört und gehörte stets die Zukunft. Er brachte immer und überall den Fortschritt, führte der Wahrheit näher und darum wurde er auch immer bekriegt.

Die folgenden Kapitel werden keinen Zweifel darüber lassen können, daß noch in der Gegenwart von Faktoren, die sich für Hüter der Wahrheit und Volkserzieher halten, und die durch die staatliche Autorität in diesem Wahn bestärkt werden, ja denen geradezu ein Monopol verliehen wurde, Lehren verbreitet und Anschauungen vertreten werden, die wir nur als hohes Lied der Dummheit bezeichnen können.

Seite 192VI. Kapitel  Der Teufel in der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart 2ia27

Die Leidenschaft mit der die spätmittelalterliche Kirche für den Teufels- und Hexenglauben eintrat, die Gewaltmittel, mit der sie das Volk, das sich zum guten Teil gegen diesen Blödsinn sträubte, zu seiner Anerkennung zwang, haben wir kennen gelernt. Desgleichen die literarischen Don Quichote, die auf die Bibel und sonstige Autoritäten gestützt, dem Fortschritt der Vernunft Knüppel in den Weg warfen. Endlich siegte diese doch mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Aber dieser Sieg war keineswegs vollständig.

Die Kirche hielt und hält auch heute noch an der Teufelslehre fest, nur daß sie sie aus guten Gründen nicht mehr in allzugroßen Buchstaben auf ihre Fahne schreibt. Heute noch wagt sich da und dort ein kühner Streiter Gottes mit einer Dissertation zu Ehren des höllischen Fürsten vor, ohne daß die kirchlichen Oberen es wagen würden, ihn zu verleugnen. Ob sie gerade ihre besondere Freude an solchen Arbeiten haben, ist ja eine andere Frage.

Seite 193Am bekanntesten sind auf katholischer Seite die Untersuchungen des Höllentopographen und Professors in Münster, Dr. Joseph Bautz (vgl. Kultur-Kuriosa I, S. 232 ff.), sowie des Professors in Dillingen, David Leistle (vgl. Kultur-Kuriosa II, S. 35 ff.), über diese Materie. Sie beweisen, daß man heute noch in diesen Kreisen der Frommen um kein Haar anders denkt, als vor einem halben Jahrtausend. Denn es handelt sich keineswegs um einzelne Entgleisungen wie die Leo Taxil-Affäre zum Gelächter der ganzen gebildeten Welt hinreichend bewiesen hat. (Vgl. Kultur-Kuriosa I, S. 236 ff.)

Noch im Jahre des Heils 1912, konnte der württembergische Pfarrer Zisterer in Eriskirchen am Bodensee in der Zeitschrift »Der Katholik« die Verfassung der Hölle zu seinem Spezialstudium erwählen. Er führt in dem Aufsatz aus, daß es falsch sei von Teufeln in der Mehrzahl zu reden, denn der Teufel, Satan oder Luzifer sei der einzige souveräne Fürst und unbeschränkte Monarch im höllischen Reiche. Die bösen Geister seien seinem Willen als untertänige Diener und persönliche Hilfskräfte unbedingt unterworfen. Daher ist es klar, daß man wohl von bösen Geistern, nicht aber von Teufeln reden darf. Das unterirdische Reich ist einheitlich, seine Bewohner sind durch den Geist der Solidarität miteinander verbunden. Sie dürfen ohne persönliche Teilnahme ihres Herrn und Meisters auf der Erde Streifzüge ausführen und Mensch und Vieh Schaden bringen.

Also selbst an einem theoretischen Ausbau der Lehre fehlt es nicht!

So war das rücksichtslose Eintreten der alten Seite 194Kirche für den alten Teufelsglauben doch nicht umsonst. Die Dummheit hat eben nicht weniger Ewigkeitsdauer, als die Wahrheit, nur daß sich beider Machtsphären, was das Menschenmaterial betrifft, nicht decken.


Doch nicht allein die römisch-katholische Kirche, die ja als Lehrerin ewiger Wahrheiten ihrem prinzipiellen Standpunkte nach eine einst gültige Lehre, möge sie auch noch so töricht sein, nicht aufgeben darf, hält am Teufel fest. Auch der Protestantismus, der sich so gern als Träger des religiösen Fortschrittes feiern läßt und keinesfalls dogmatisch festgelegt ist, zählt in seinen Reihen mannhafte Verfechter des Teufelsglaubens.

Daß er sich auf die Bibel stützt, die soundso oft vom persönlichen Teufel spricht, will ihn nicht entlasten. Denn im Kampfe zwischen Bibel und Vernunft siegte letztere doch im Laufe der Zeit und trotz aller dem Fortschritt bereiteten Schwierigkeiten stets. Das müßte längst bei denkenden Menschen zur Erkenntnis geführt haben, daß nicht die Bibel oder irgendeine Glaubenslehre als Maßstab der Vernunft in Frage kommen kann, sondern lediglich die Vernunft als Maßstab der ersteren.

Doch sehen wir uns nunmehr einmal im höllischen Reiche, das noch bis auf den heutigen Tag in den Köpfen protestantischer Gottesgelahrter sein petrifiziertes Dasein fristet, näher um!

In den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, jener berüchtigten Reaktionszeit auf allen Gebieten, Seite 195sollte auch der Teufelsglauben, den man wenigstens im Protestantismus seit den Jahren der Aufklärung für endgültig überwunden halten durfte, selige Urstände feiern. Jedenfalls waren Kräfte am Werke, ihm zu neuem Leben zu verhelfen.

August Friedrich Chr. Vilmar, in weitesten Kreisen als Verfasser der Literaturgeschichte bekannt, ließ unter dem Titel »Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik« (Marburg 1856, 4. Aufl. Gütersloh 1876) eine Schrift erscheinen, die nicht mehr und nicht weniger, als die Wiedereinführung des Teufelsglaubens bezweckt.

Er führte (S. 38f.) u. a. folgendes aus: »Unsere Rhetoriker lachen zwar nicht mehr über den Teufel, wie die Vokabulisten und Grammatisten vor vierzig Jahren taten und so weit sie noch vorhanden sind, auch jetzt, gleich den Naturweisen, noch immer tun. Die Rhetoriker und Dogmatiker unter ihnen zum voraus, besitzen allerdings nicht die aller Belehrung unzugängliche Dummdreistigkeit der Vokabulisten, denen ihre Vokabeln die Welt sind ... Also die Existenz des Teufels kommt wieder zum Vorschein, aber nur als eine Existenz der Floskel, der Phrase; käme die Existenz des Teufels wirklich wieder in der christlichen Lehrunterweisung der Hirten und Lehrer zum Vorschein, so müßte sie als eine Existenz des Schreckens und Entsetzens zum Vorschein kommen; denn, beiläufig gesagt, die Lehre vom Teufel ist wie die von der ewigen Verdammnis nicht ein Artikel des Glaubens und des Trostes, sondern des Wissens und der Furcht. ... Es kommt hier darauf an, wenn man recht lehren und die Seelen recht behüten Seite 196will, des Teufels Zähnefletschen aus der Tiefe gesehen (mit leiblichen Augen gesehen; ich meine das ganz unfigürlich), und seine Kraft an einer armen Seele empfunden, sein Lästern, insbesondere sein Hohnlachen aus dem Abgrund gehört zu haben. Wer kann nun hiervon zeugen? Wer kann mit einer solchen Erfahrung, zugleich den Sieg des Gekreuzigten auf den Lippen und in den Augen, als rechter Lehrer an Christi Statt, auftreten? Wer lehrt mit dem Teufel kämpfen? Wer lehrt, sich gegen ihn zu verwahren? Ihn zu überwinden? Davon schweigt die heutige Dogmatik, dieser Tatsachen gänzlich entleert, durchaus ...

Ich habe einmal, schon vor Jahren, von der Kanzel mit mißtönender aber aus tiefstem Herzen kommenden Stimme die laute Apostrophe gehört: ‚Könnt ihr denn beten, beten von selbst und wann ihr wollt? Ihr könnt's nicht, nein! Warum könnt ihr's denn nicht? Der Satan leidet's nicht, ja der Satan; der Teufel verwehrt's euch!‘ ... Mir jedoch klang jene mißtönende Stimme damals und klingt mir nachhallend noch jetzt gleich der Stimme der Harfen, die da ist wie die Stimme starker Donner und wie die Stimme großer Wasser.«

Vilmar will in diesem IV. Abschnitt nicht mehr und nicht weniger, als den Teufelsglauben wieder in die Theologie einführen.

Zur Lehre vom geistlichen Amt bekennt Vilmar, der als vortragender Rat im Ministerium gewirkt hatte, bevor er in Marburg Professor der Theologie wurde, daß es nicht aus der Gemeinde, sondern direkt von Christus stamme, »welcher unmittelbar Seite 197hinter der Ausübung desselben steht.« Er führt u. a. als Begründung an: »Zumal vermag sie (die Gemeinde) nicht in des Teufels zornige Augen zu sehen, denn was von den letzten Zeiten geweissagt ist, daß wo es möglich wäre, die Awählten verführt würden, das gilt mit weit schärferem Nachdrucke von der einzelnen Erscheinung des Teufels in dieser Welt: vor ihr stiebt die Gemeinde auseinander wie Schneeflocken, nicht verführt, aber erschreckt bis in den Tod. Nur wir erschrecken nicht und fürchten uns nicht, denn der, welcher den Fürsten dieser Welt ausgestoßen hat, hat uns vor des Teufels ödes Schlangenauge, vor seinen lästernden und hohnlachenden Mund und vor sein im Höllenzorn zuckendes Angesicht gestellt.« (S. 85 f.)

Der gleiche Gelehrte, der nur das Unglück hatte, um einige Jahrhunderte zu spät das Licht der Welt zu erblicken, äußert sich auch über den Hexenglauben und Teufelslug, als dessen Verteidiger er sich aufwirft. Er schreibt:

»So beruht das Hexenwesen seinem Ursprunge nach keineswegs auf leeren Einbildungen, törichten Träumen und kindischen Märchen, sondern auf wirklichen Verhältnissen und handgreiflichen Zuständen, welche wie die Versammlungstage und Versammlungsplätze noch in der Gegenwart vollkommen deutlich erkennbar sind.« »Der Kampf gegen das Hexenwesen und die Hexen ist kein anderer, als derselbe, welcher heute noch die Welt bewegt, der Streit zwischen dem Glauben und dem Unglauben, zwischen dem Bekenntnis Christi und dessen Verleugnung.«

Seite 198Die Pièce de résistance ist entschieden folgender Satz, in dem Vilmar sich mit nicht mißzuverstehender Klarheit auf den Standpunkt des Hexenglaubens stellt: »Vielleicht zur größern Hälfte waren die Bündnisse mit dem Teufel, diese Zauberkünste, Einbildung, aus der zum Abfall geneigten Zeitrichtung gezogene Einbildung, niemals jedoch Einbildung eines einzelnen; zur kleineren, indes bedeutenderen Hälfte, waren sie, wie die Giftmischerkünste, Wahrheit[1]

Da hier Vilmar zweifellos nicht sagen will, daß die »Hexen« gewisse hypnotische oder ähnliche Kräfte besaßen, sondern auf dem Standpunkte des von der Kirche gelehrten Teufelsbündnisses steht, so redet er natürlich hellen Unsinn. Und doch handelt es sich keineswegs um die Entgleisung eines einzelnen, vielmehr stand die Regierung hinter ihm.

Das geht mit größter Deutlichkeit aus der Tatsache hervor, der Pfarrer Ewald, der in einer Predigt im Jahre 1858 Vilmar, der über die Versuchungen des Teufels einen Vortrag gehalten hatte, bekämpfte, vom hessischen Konsistorium einen Verweis erhielt. Ewald vertrat den Standpunkt, daß Jesus nichts weniger als verlieren könne, wenn man seine Versuchung als innerlichen Vorgang auslege[2].

Wie weit die kirchliche Reaktion sich vorwagte, lehrt vor allem der protestantische Hannoversche Katechismus. Dieser führte im ersten Teile die fünf Hauptstücke auf, dann folgt die Erklärung nach Luther. Hier werden die Gläubigen ermahnt: »des Morgens, so du aus dem Bette fährst oder des Abends, wenn du zu Bette gehst, sollst du dich segnen mit dem heiligen Kreuz.« Im dritten Buche folgt eine Seite 199»ausführliche Erklärung des lutherischen Katechismus.« Hier wird in Frage 45, 46 und 47 der förmliche Bund mit dem Teufel gelehrt. Frage 45 lautet: »Zaubern heißt übernatürliche Kräfte und wunderbare Aushilfe wider Gottes Ordnung und ohne Gottes Verheißung suchen.« Frage 46: »Wie geschieht solches? Durch allerlei Aberglauben mit Besprechen und Wahrsagen, Zeichendeuten, Geisterbannen und dergleichen, da man das Heilige mißbraucht und die hochgelobte Dreieinigkeit, Gottes Wort, Sakrament und Kreuz lästert und sonst vorwitzige Kunst treibt.« Frage 47: »Warum ist dies eine schwere Sünde? Die solches selber tun, oder durch andere tun lassen, verleugnen den Glauben und treten wissentlich oder unwissentlich mit dem Teufel in Verbindung.« Frage 56 lautet: »Wie versucht uns der Teufel? Wenn er uns durch innerliche Anreizung oder äußerliches Blendwerk zur Sünde locket und dränget oder nach geschehener Sünde in Mißglauben und Verzweiflung treibt.«

Dieser Katechismus vertrat nicht nur antediluvianische Anschauungen, sondern kam auch dem Katholizismus entgegen, wie etwa die Frage 139 beweist: »Was ist die ewige Verdammnis? Es ist die unaufhörliche Verwerfung von dem fröhlichen Angesicht Gottes zu unaussprechlicher Pein und Qual an Leib und Seele unter der schrecklichen Gesellschaft der bösen Geister in der Hölle.«

Gottlob bewies das Publikum auch hier wieder mehr Verständnis für den Zeitgeist und den gesunden Menschenverstand als die Gottesgelahrten. Am 14. April 1862 sollte dieser wundervolle Katechismus dem Lande Seite 200»zum Geschenk gemacht« und in die »evangelisch-lutherischen Kirchen und Schulen« des Königreichs Hannover eingeführt werden, um — wie die königliche Verfügung sich ausdrückt — bei den Untertanen die rechte Erkenntnis und den wahren Dienst Gottes fördern zu helfen. Doch es erhob sich dagegen im Volke ein solcher Entrüstungssturm, daß unterm 19. August das Gebot der allgemeinen Einführung zurückgenommen wurde[3].

In den Zeiten des Rationalismus war die Abrenuntiationsformel: »Entsagst du dem Teufel und allen seinen Werken?« aus den Agenden ausgeschieden worden. Die lutherische Reaktion hatte in ihren Verdummungsplan auch ihre Wiederaufnahme als wesentlichen Bestandteil der Taufe aufgenommen und auf der vom 16.-24. Mai 1854 tagenden Kirchenkonferenz dies empfohlen. Von den Vertretern Sachsens, Bayerns, Hannovers, Mecklenburgs und Württembergs hatten außer denen des letztgenannten Landes alle dem dahingehenden Antrage Kliefoths zugestimmt! Dieser Kliefoth hatte in Mecklenburg schon im Jahre vorher den Prediger Bartholdi seines Amtes entsetzt, weil er sich an der Teufelsentsagung Änderungen erlaubt hatte!

Weil sich in Sachsen der Pastor Siedel aus Tharand nicht damit begnügte, bei der Taufe die Teufelsentsagung im allgemeinen auszusprechen, sondern die Frage jedem einzelnen Paten vorlegte, war es zu ärgerlichen Szenen gekommen. Er hatte von dem Kaufmann Decker keine Antwort erhalten. Als er die Frage wiederholte, entgegnete dieser: ich glaube an Gott, aber an keinen Teufel. Seite 201Wegen dieser Erklärung wurde er nicht nur von der Patenstelle ausgeschlossen, sondern auch in eine Kriminaluntersuchung wegen Störung des Gottesdienstes verwickelt! Die Sache führte sogar im Landtage zu einer aufregenden Szene.

Als in Bayern im Jahre 1854 ein sogenannter Agendenkern als Anhang zum neuen Gesangbuch empfohlen wurde, worin die Teufelsentsagung enthalten war, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, die damit endeten, daß König Max unterm 27. November 1854 erklärte, es sollten ohne Zustimmung der Gemeinden keine Veränderungen in der Gottesdienstordnung getroffen werden. Endgültig wurde diese Teufelsangelegenheit erst im Jahre 1879 entschieden und zwar dadurch, daß nach den Beschlüssen der Generalsynode Parallel-Formulare zu freiem Gebrauch mit und ohne Entsagungsformel aufgenommen wurden. Wen also Herz und Geist dazu treiben, der kann noch heute in feierlicher Weise seinen Teufelsglauben bekennen!

Übrigens war auch in der badischen Generalsynode im Jahre 1855 über die Wiedereinführung des Teufels lebhaft debattiert worden. Es ist ja bewundernswert, mit welcher Harmonie und Gleichzeitigkeit in allen deutschen Staaten der Verdummungsprozeß eingeleitet wurde. Wiewohl in Baden das ans Ruder gekommene orthodoxe Kirchenregiment mit einem Schlage den bisherigen Katechismus, Gottesdienstordnung, biblische Geschichte usw. abgeschafft hatte, so wagte man es doch nicht recht, den Teufel bzw. die Teufelsentsagung in die Agenden so glatt wieder einzuführen. Wohl aber figurierte er wieder Seite 202in den neuverfaßten Katechismen, den biblischen Geschichten und in den neuen Gebeten[4].

Bekanntlich spielt für die Geschichte der Hexenprozesse die Stelle 1. Mosis 6, 1-4 eine traurige Rolle. Hier wird erzählt, daß die Göttersöhne mit den Menschentöchtern Verbindungen eingingen, aus denen »Gewaltige in der Welt und berühmte Leute« entsproßten. Der Professor Heinrich gab nun 1857 in Berlin unter dem hochaktuellen Titel »Die Ehen der Söhne Gottes mit den Töchtern der Menschen« ein Buch heraus, in dem er vor allem betont, daß die Bibel »göttlich und inspiriert« ist. Daher kann sich in ihr keine Mythe finden, sondern alles in ihr sei reell und wirklich »nirgends menschliche Fabeln und Phantastereien, sondern überall Geschichte und göttliche Lehre« (S. 1). Es handelt sich also um einen wirklichen Vorgang. Durch den Fall der Engel mit den Menschenweibern sei ein wildes Geschlecht entstanden, das Gottes ganzen Weltplan zerstört hätte, wenn er es nicht vertilgt haben würde. Er entwickelt, wie es den Engeln möglich war, physisch diese Ehen zu vollziehen, »warum die Engel allein in die männliche und nicht auch in die weibliche Geschlechtsform sich metamorphosierten« (S. 94), und daß das tierische Gesetz, wonach Tiere verschiedener Gattung keine Jungen hervorbringen, hier nicht gelte usw. usw. Daß diese geistreiche Untersuchung ganz auf den Standpunkt des Hexenhammers hinausläuft, ist klar.

Merkwürdig ist keineswegs, daß ein Theologe so etwas produzieren konnte, wohl aber, daß es ein protestantischer war und im Jahre 1857[5].

Noch im Jahre 1859 konnten in der evangelischen Seite 203Kirchenzeitung (Nr. 8 und 9) ähnliche Gedanken geäußert werden. Der Verfasser, der bescheidenerweise nur E. M. zeichnet, veröffentlichte hier »Zeitbetrachtungen über die christliche Lehre vom Teufel«. Nach seiner Überzeugung kann »die Zugehörigkeit der Lehre vom Satan zu dem Ganzen der kirchlichen, speziell der evangelisch-kirchlichen Glaubenslehre nicht in Frage gestellt werden«. Er findet »die Gegenwart merkwürdig durch den Widerspruch, welchen sie der Annahme eines persönlichen Teufels entgegensetzt« und charakterisiert »unsere Zeit der christlichen Lehre vom Teufel gegenüber« sehr richtig mit den Worten »es ist die allererklärteste Antipathie«. Er beklagt, daß »das Verhalten der großen Masse des Volkes und zumeist der Gebildeten unter demselben, auch das eines nicht geringen Teils der Vertreter heutiger, selbst wohl der sich gläubig nennenden Theologie »noch immer richtig durch den Ausspruch von Klaus Harms aus dem Jahre 1817 gekennzeichnet werde«. »Den Teufel hat man totgeschlagen und die Hölle zugedämmt[6]

Wenn es allerdings nach solchen frommen Glaubensstreitern auf protestantischer oder katholischer Seite ginge, dann würde der Teufelsglaube heute noch so lebendig sein, als je zuvor und man würde auch weiterhin das bequeme Verfahren befolgen für Vergehen und Verschuldungen nicht selbst die Verantwortung zu übernehmen, sondern sie einem Außenstehenden, eben dem Fürsten der Finsternis, aufs Konto zu setzen.

Doch noch ein Menschenalter später begegnen wir derselben Sorte Literatur.

Seite 204Ernst Mühe, Pfarrer in Derben in Pommern, ließ 1884 in Leipzig seine Predigten erscheinen unter dem Titel »Die Leidensgeschichte Jesu Christi, sowie seine Höllenfahrt und glorreiche Auferstehung«. Wundervoll schildert er hier die Höllenfahrt, die er natürlich für eine historische Tatsache hält und so eingehend beschreibt, als wäre er dabei gewesen. Er kennt auch genauestens die Wirkung der Predigt Jesu bei den »Geistern der Vorwelt«. »Seht, wie sie aufhorchen, wie sie die Epiphanie des Herren anstaunen. Die Millionen scharen sich um den einst Verachteten ... Millionen fallen nieder, bekennen und bereuen ihren Unglauben und beten ihn an ... und der Held führt das ganze Gefängnis im Triumphe gefangen und führt alle die, welche sich retten lassen wollen, als den ersten Lohn seiner Todesschmerzen, hinüber in das selige Paradies« (S. 121).

Mühe weiß es ganz genau, wie lange Christus in der Unterwelt war: drei Stunden. Da er um 3 Uhr nachmittags starb, und zum Schächer gesagt hatte, »heute noch sollst du mit mir im Paradiese sein», »so kann er nach irdischer Zeitrechnung nicht ganz drei Stunden in der Unterwelt verweilt haben, denn der Tag ging um sechs Uhr zu Ende und er mußte Wort halten« (S. 123).

»Da nun aber bald die Zeit herannahte, da Jesus auferstehen mußte, so kam er wieder aus dem Paradies hinauf, begab sich in seine Grabeshöhle und nahm seinen Leib wieder an, und seine Gottheit durchleuchtete und verklärte ihn. Nur seine Wundenmale behielt er freiwillig, als Beglaubigungs- und Erkennungszeichen und als ehrenvollen Siegesschmuck. Seite 205Bald darauf kam ein Engel vom Himmel herab und wälzte den Stein von des Grabes Tür. Die Erde aber erbebte vor Freuden über ihren auferstandenen Schöpfer. So ist die Auferstehung in Wahrheit geschehen; nur blinder Unglaube kann daran zweifeln.«

So geht es weiter. Herrlich ist auch die Predigt Mühes über die unbefleckte Empfängnis. Dieser Protestant sagt: »O selige Stunde der unbefleckten Empfängnis! Maria wird Mutter ohne Zutun eines Mannes.« »Ein geistgesalbter Prediger der Neuzeit sagt: Gott hat Adam geschaffen nicht bloß ohne Zutun des Mannes, sondern auch ohne Zutun einer Frau. Er hat Eva geschaffen mit Zutun eines Mannes und ohne Zutun einer Frau; nun schafft er Jesum ohne Zutun eines Mannes mit Zutun einer Frau.«[7]

Dieser würdige und völlig ebenbürtige Geistesgenosse seines katholischen Kollegen Bautz, erzählt in seinen »Biblischen Merkwürdigkeiten« und der »Neuen Folge biblischer Merkwürdigkeiten« (Leipzig 1886) folgende erbauliche und seinem Scharfsinn Ehre machenden Geschichten:

In der Arche Noah waren alle Tiere in Winterschlaf verfallen. Infolgedessen brauchten sie nicht ernährt zu werden (Vorwort).

Die Mauern Jerichos sind mit Hilfe der Engel eingefallen (I, 80).

Die Sonne Josuas stand still, indem »Gott den Umschwung der Erde um ihre Achse und infolgedessen auch den Lauf des Mondes plötzlich aufgehalten hat« (I, 95).

Der Teufel vollbrachte sein erstes teuflisches Wunder, indem er der Schlange Sprache verlieh, Gott Seite 206sein erstes göttliches, indem er die Schlange umbildete, daß sie auf dem Bauche kriechen mußte (II, 17-19).

Dieser unerschrockene Streiter Gottes ist auch in der beneidenswerten Lage, über die Werke des Teufels und sein Treiben genau Auskunft geben zu können. In seiner Predigt »Alttestamentliches Exempel aus Moses Leben« (Leipzig 1883) hat er die glorreiche Entdeckung gemacht, daß die Wunder der ägyptischen Zauberer keineswegs Blendwerk waren, sondern »nach der einzig richtigen Auslegung« vollbrachten sie ihre Wunder »mit Hilfe des Satans und der bösen Geister, mit denen sie im Bunde standen« (S. 77). Wie der fromme Verfasser in seinen »Biblischen Merkwürdigkeiten« feststellt, unterliegt »es keinem Zweifel, daß der Teufel in Menschengestalt oder sonstwie erscheinen und sichtbar werden kann«, denn in der Versuchungsgeschichte (Matth. 4) »faßte er Christus an und führte ihn im Fluge mit sich durch die Luft«. — »Es ist ganz verkehrt, wenn die Weltmenschen den Teufel immer als eine Spukgestalt mit Hörnern und Pferdefuß lächerlich machen. Er kann in tausenderlei Gestalt die Menschen betrügen. Am meisten Macht übt er dadurch, daß er den Menschen einredet, es gäbe gar keinen Teufel.« Aus Hiob geht hervor, daß Unglücksfälle, Sturm, Hagel, Krieg, leibliche Krankheit und geistliche Anfechtungen nur vom Satan über uns gebracht werden, freilich dürfen wir damit nicht sagen, daß jede Krankheit geradezu vom Teufel komme, aber mittelbar kommt doch alles von ihm.

Der gleiche Gottesmann setzt in seinem Buche »Der Seite 207Aberglaube. Eine biblische Beleuchtung der finstern Gebiete der Sympathie, Zauberei, Geisterbeschwörung usw.« (2. Aufl., Leipzig 1886) auseinander, wie sich der Teufel bei Bündnissen mit ihm benimmt. Diese Greuel haben auch in unserer aufgeklärten Zeit nicht aufgehört, nur daß der Teufel jetzt »manierlicher auftrete und sich der Mode und Zeitrichtung schlau zu akkomodieren wisse«. »Alles Unheimliche fasse der Glaube an Zauberer und Hexen in sich.« Die Zauberei ist der Höhepunkt menschlicher Teufelei. Nach dem abschließenden Gesamturteil Mühes ist der Aberglaube ein Eintreten in die Gemeinschaft mit dem Reich der Finsternis und in höchster Linie eine Auflehnung gegen Gott. Darum gebühre ihm die Strafe der Gotteslästerung, die Gott im Alten und Neuen Testament hundertfach angedroht habe (3. Mos. 20, 27, Offenb. 22, 15): Hinrichtung und Steinigung. Doch will Herr Mühe ihn zunächst mit Predigt und Belehrung bekämpfen, »da leider die neue Gesetzgebung den Obrigkeiten keine genügende Handhabe bietet, um diesem Frevel wirksam zu steuern«[8].

In dieselbe Kategorie von Wahrheitssuchern scheint sich auch der evangelische Pfarrer Ewald Dresbach stellen zu wollen, wenn er in seinem Buche »Die protestantischen Sekten der Gegenwart im Lichte der heiligen Schrift« (Barmen 1888) schreibt; wir sprechen es »als unsere wohlerwogene Überzeugung aus, daß im Sektentum sich der Antichrist offenbart«. Auf den Einwurf, daß sich doch auch in ihnen fromme Leute finden, antwortet er: »Was die Frömmigkeit betrifft, so wissen wir es auf Grund der apostolischen Seite 208Aussage, daß auch der Satan hin und wieder das Lichtgewand des Engels tragen kann«, das gehört zuweilen zu seinen Manieren; im übrigen reden wir ja nicht von einem einzelnen, auch nicht von einer schnell vorübergehenden Erscheinung: sondern tiefer schauend haben wir das Allgemeine im Auge, die Dinge betrachten wir im »Lichte der Ewigkeit« — und eben da besteht die Behauptung zu Recht: im Sektenwesen äußert sich der »Widerchrist« (S. 19).

Daß sich in den Sekten außerordentlich viel Fanatismus und Dummheit jeder Art findet, ist ja zweifellos richtig. Aber etwa in den großen Kirchen nicht? Mit welchem Recht bestreiten wir der Minderheit eine Meinung, die die Mehrheit haben darf?

Am deprimierendsten aber wirkt es, wenn ein Mann, der sich zur Aufgabe stellte, die Sekten und ihre Torheiten und Schattenseiten zu beleuchten, keine schärfere Angriffswaffe findet, als die aus dem Arsenal des finstersten Mittelalters entnommene des Antichrists und Satans!

Wen wird es, wenn Männer mit solch finsterem, stupidestem mittelalterlichen Aberglauben auf das Volk losgelassen werden, wundern, wenn sich nachstehende Geschichte ereignen kann?

Im Dezember 1910 erschien bei der Polizeiverwaltung Cöpenick eine Arbeiterfrau namens K. und wünschte den Polizeiinspektor in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen. Sie stellte allen Ernstes das Verlangen, ihrer Nachbarin, einer 70jährigen Frau, den Prozeß zu machen, denn sie sei — eine Hexe! Die alte Frau habe schon viele Leute behext, lasse alte Hexenbücher im Zimmer herumtanzen usw. Das Seite 209schlimmste aber sei, daß sie das neugeborene Kind der Beschwerdeführerin, das bis zum dritten Tage ganz gesund gewesen sei, behext habe, so daß es seitdem immer schreie. Auch ihr Mann war überzeugt, daß das Kind behext sei. Da die Frau durchaus nicht den Eindruck einer Geisteskranken machte, versuchte der Polizeiinspektor ihr durch Vernunftgründe den Aberglauben auszureden. Natürlich nützte es nichts. Sie entfernte sich mit den Worten: »Sie mögen noch so schlau sein, Herr Inspektor, aber die Hexe ist doch noch schlauer. Sie hat ihre alten Bücher, die Sie nicht haben[9]

Das Verfahren der oben gekennzeichneten Theologen wirkt umso grotesker, je mehr wir die Forderungen des Tages auf den verschiedensten Gebieten betrachten. Wenn wir einen Blick werfen auf die Fortschritte der Naturwissenschaften, die uns zur Stellung immer größerer Fragen zwingen, auf die sich auf ihrer Grundlage bildende neue Weltanschauung, auf den Siegeslauf der Technik, der Medizin und so und so vieler anderer Wissenszweige. Wenn wir die gewaltigen Aufgaben ins Auge fassen, die das Wirtschaftsleben an uns stellt, der Übergang des Agrarstaates in den reinen Industriestaat mit seinen unabsehbaren Folgen. Wenn wir in die Rechtspflege, Wohnungsfrage und tausend andere Probleme hineinleuchten, Probleme, die die Zukunft zu lösen haben wird, aber nicht lösen kann, ohne die regste Mitarbeit jedes einzelnen von uns.

Und in solchen Zeiten, wo letzten Endes die Fortexistenz des Vaterlandes als Weltmacht auf dem Spiele steht, wo das Europäertum gegen das erstarkte Seite 210Amerika und das neu erwachte Asien kämpfend seine Kräfte sammeln muß, da treten Männer auf, angeblich Verkünder der Religion der Liebe, Bringer der Wahrheit, und schüren konfessionelle Zwietracht, wenn sie nicht einer längst endgültig abgetanen Weltanschauung neues Leben einzuhauchen versuchen.

Gäbe es einen Teufel, selbst dann wäre es eine Dummheit kostbare Zeit durch Nachdenken über ihn zu verlieren. Unser harren wichtigere Aufgaben!

Seite 211VII. Kapitel  Die heilige Garderobe und ähnliches 3s2h3y

So ungefähr alles das, was wir bisher an Dummheiten kennen lernten, was naive Zeiten, eine irregeleitete Phantasie auf diesem Gebiete ersannen, finden wir zu einem blühenden Strauß gebunden in einer gewissen Literatur vereint, in die sich hineinzuwagen, nicht geringe Überwindung kostet. Es handelt sich nicht etwa um Hintertreppenromane oder Detektivgeschichten, mit denen die hungernde Phantasie unserer Jugend verdorben wird. Für Erwachsene ist sie geschrieben, für das unwissende Volk, das in Büchern Belehrung sucht, seine kärglichen Mußestunden dazu benutzen will, den Geist zu bilden, der Wahrheit näherzukommen.

Und wo könnte es das mit größerer Zuversicht tun, als in Schriften seiner geistlichen Hirten? In Büchlein, für deren Inhalt die höchste Autorität eintritt. Soll es hier nicht Belehrung und Erbauung finden, wo wäre sie dann zu suchen?

Folgen wir also dem gläubigen Leser in seine Erbauungslektüre! Wenn wir dabei kirchlichen Lehren begegnen, deren Ersetzung durch bessere wir für kein Seite 212unerreichbares Ideal menschlicher Geistesarbeit halten können, so mag auch das nicht ohne Nutzen sein.

Mit bischöflicher Approbation erscheinen eine große Reihe von Schriften, die sich mit den kirchlichen Gnadenmitteln befassen und deren billiger Preis keinen Zweifel darüber aufkommen lassen kann, daß sie für Verbreitung in die Volksmassen bestimmt sind. Sie sollen der frommen Herde Fingerzeige geben für die zur Erlangung der ewigen Seligkeit erforderlichen Schritte.

Besonders handelt es sich hier darum, den Gläubigen das Tragen von gewissen Kleidungsstücken, deren hohe Bedeutung für das Seelenheil wir gleich kennen lernen werden, ans Herz zu legen.

Wir meinen die Skapuliere.

Unter Skapulare versteht die Ordensregel des h. Benediktus ein Kleidungsstück, das die Mönche bei der Handarbeit über der Ordenskleidung trugen. Es bedeckte die Schultern und hatte das eine Ende vorn, das andere hinten herabhängen. Manche Ordensleute tragen dieses Skapulier als Teil ihrer Ordenskleidung in der Form eines etwa einen Fuß breiten, vorn und hinten bis auf die Füße herabhängenden Stückes Zeug.

Dieses Skapulier nun, in verschiedenen Farben getragen, hat eine gar wunderbare Kraft!

Da ist zunächst das braune der Karmeliter. Dem h. Simon Stock, Generalobern dieses Ordens, erschien die heilige Jungfrau und gab ihm ein braunes Skapulier mit dem Auftrage, die Mitglieder seines Ordens und der mit diesem verbundenen Bruderschaften sollten ein solches tragen als Zeichen ihrer Seite 213besonderen Verehrung gegen die heilige Jungfrau und als Unterpfand ihres besonderen Schutzes. Um an den gewährten Gnaden und Ablässen Anteil zu haben, muß das Skapulier beständig, auch zur Nachtzeit, getragen werden, desgleichen in Krankheiten. Legt man es ohne Not ab, dann hat man während dieser Zeit keinen Anspruch auf Ablässe. Allerdings darf man es auch unter der Kleidung tragen.

Die kleine Mühe des Tragens lohnt dieses Skapulier allerdings reichlich. Hat doch die Madonna dem h. Simon Stock verheißen, daß »wer in dem braunen Skapulier sterbe, das ewige Feuer nicht erleiden werde.« Wenn es sich nun auch allerdings nach katholischer Lehre von selbst versteht, daß der Träger des Skapuliers nicht darauf sündigend ein ruchloser Mensch sein darf, so ist es doch offenkundig, »daß gar manche durch Bekleidung mit dem Skapulier noch auf dem Todbette die Gnade der Bekehrung und Rettung ihrer Seele erlangt haben, ebenso liegen auch Beispiele vor, wo Vermessentlichen und Unbußfertigen auf auffallende Weise noch vor ihrem Tode das Skapulier entrissen wurde und abhanden kam.« So schreibt wenigstens der Jesuit Maurel in seinem mit Genehmigung der Oberen in sechster Auflage 1878 in Paderborn erschienenen Buche »Die Ablässe, ihr Wesen und ihr Gebrauch« (S. 379).

Besonders günstig gestellt sind die Träger des Skapuliers, der an einem Samstag das Zeitliche segnen: die Jungfrau Maria wird in höchsteigener Person zu diesen »hinabsteigen und jene, welche ich im Fegefeuer finde, befreien und zum Berge des ewigen Seite 214Lebens führen.« Allerdings muß der Skapulierträger auch einige »gute Werke« verrichten, aber von ihnen allen, vom Fastengebot, täglichen Gebeten usw. usw. kann er befreit werden — so entschied noch Papst Paul V. unterm 15. Februar 1613 — nur das Tragen des Skapuliers ist eine unerläßliche Bedingung.

Die Länge des Aufenthaltes im Fegefeuer hängt also nicht etwa von der persönlichen Würdigkeit des armen Sünders ab, sondern vom Skapuliertragen und vom Wochentage, an dem er stirbt!

Doch diese Vergünstigungen scheinen dem Papst Clemens X. noch nicht ausreichend gewesen zu sein, sonst hätte er nicht unterm 8. Mai 1673 verordnet, daß die mit dem Skapulier der Karmeliter Bekleideten »von der Mutter Gottes auf ganz besondere Weise an Kindesstatt angenommen« sind und »einen größeren Anteil von all dem Guten, was in der gesamten katholischen Kirche geschieht«, erhalten.

Dazu bemerkt der Karmeliter-Pater Grassi: »Ordensleute, Mitglieder der Bruderschaft und andere, die zu diesem Skapulier Andacht hegen, entgehen vermöge eines ungewöhnlichen Beistandes der Mutter Gott zahllosen Gefahren. Die Gewehre, welche nicht losgegangen oder deren Kugeln matt und ohne zu verwunden zu Boden gefallen, die Ketten, welche zerbrochen, die Dolche, die sich gekrümmt, die Bedrängnisse, von welchen man befreit, die Abgründe, in die man gefallen und aus denen man unbeschädigt hervorgekommen, die Feuersbrünste, welche gelöscht, die Krankheiten, welche gehoben, die verzweifelten Lagen, denen man glücklich entronnen, wie auf so vielen Gemälden dargestellt wird, die unzähligen Seite 215Gedenktafeln, welche an den Altären der h. Jungfrau Maria vom Berge Karmel aufgehängt sind, — verkündigen alle der Welt, mit wie großem Rechte dem Karmeliter-Skapuliere der Titel »Rettung in Gefahren« zukommt, welchen ihm die h. Jungfrau gegeben hat. Man sah sogar viele von diesen Wundern sich ereignen, wenn man dieses Skapulier anderen Gläubigen, die in Gefahren des Leibes oder der Seele waren, auflegte, Beängstigten, Verwundeten, Besessenen usw. oder wenn man es in anderen Notfällen anwandte, z. B. es mit lebhaftem Vertrauen in die Flammen warf, um eine Feuersbrunst zu löschen, oder in die Luft, in das Meer, um einen Sturm zu stillen[1]!

Ein anderes Skapulier ist das weiße, das der »allerheiligsten Dreifaltigkeit«, bestehend aus zwei Zeugstücken aus weißer Farbe mit eingenähten Kreuzchen von roter und blauer Wolle. Die weiße Farbe weist auf die Herrlichkeit des Vaters, die blaue auf das Leiden des Sohnes, die rote auf die Liebe des heiligen Geistes hin. »Das Skapulier verleiht die Gemeinschaft der guten Werke und Verdienste sowohl mit dem Orden der heiligen Dreifaltigkeit als auch mit der Bruderschaft gleichen Namens, in welche man durch Annahme dieses Skapuliers eintritt.«

Ein drittes Skapulier ist das blaue, das der »unbefleckten Empfängnis der heiligen Jungfrau Maria«. Es hatte einst die ehrwürdige Ursula Benincasa, die in Neapel im Rufe der Heiligkeit starb, vom Jesuskind erbeten, das ihr mit der unbefleckten Jungfrau selbst erschienen war. Durch Tragen dieses Skapuliers erhält man nicht nur die besondere Gunst der Seite 216Madonna, sondern auch noch Anteil an den Gebeten und guten Werken der Theatiner. Wer es trägt, gewinnt »so oft er, es sei an welchem Orte es wolle, zu Ehren der heiligen Dreifaltigkeit und der allerseligsten, ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau sechs Vaterunser mit ebenso vielen Ave Maria und Ehre sei dem Vater usw. nach der Meinung des Papstes spricht, alle Ablässe, welche für den Besuch der sieben Hauptkirchen Roms, der Portiuncula-Kirche zu Assisi, sowie für den Besuch Jerusalems und des Gnadenortes des heiligen Apostels Jacobus zu Compostella in Spanien bewilligt sind, und ist hierzu ausnahmsweise keine Beichte und Kommunion und auch kein weiteres Ablaßgebet erforderlich.«

Wer sich über dieses geheimnisvolle Skapulier näher informieren will — und wer wollte das nicht, nachdem man auf bequemere Weise kaum seiner Sünden ledig werden kann — lese »Andachten und Satzungen der Bruderschaft zu Ehren der unbefleckten Empfängnis Mariä mit dem himmelblauen Skapulier« (Regensburg, Verlag Pustet) oder »Kurze Erklärung über das kleine himmelblaue Skapulier zu Ehren der allerseligsten unbefleckten Jungfrau Maria, das von den Skapulierklerikern der Theatiner-Kongregation geweiht wird, samt einem Verzeichnis der Ablässe. Getreue Übersetzung des römischen approbierten Textes« (Mainz, bei Kirchheim).

Ferner gibt es das »rote Skapulier des Leidens des heiligsten Herzens Jesu, sowie des liebreichsten und mitleidigen Herzens der seligsten unbefleckten Jungfrau Maria« über das ein bei Pustet in Regensburg mit Genehmigung des dortigen bischöflichen Seite 217Ordinariats erschienenes Schriftchen »Herz-Jesu oder rotes ions-Skapulier« näheren Aufschluß gibt. Wir verdanken es einer barmherzigen Schwester in Paris, der im Jahre 1846 »der Heiland wiederholt mit einem solchen Skapulier in der Hand erschien«.

Das Skapulier der sieben Schmerzen Marias oder das schwarze ist von den sieben Stiftern des Servitenordens eingeführt. »Man wird durch Anlegung dieses Skapuliers der Bruderschaft der schmerzhaften Mutter Gottes einverleibt und erhält sowohl an den Verdiensten aller Bruderschaftsmitglieder wie des Ordens der Serviten Anteil. Außerdem hat der Herr, wie nach dem heiligen Alphons der heiligen Elisabeth geoffenbart worden ist, auf die Bitte seiner Mutter den Verehrern ihrer Schmerzen u. a. die Gnade verheißen, daß, wer die göttliche Mutter durch ihre Schmerzen anruft, vor seinem Tode wahre Buße über alle seine Sünden tun wird.«

Nun ist es klar, daß dem wahrhaft Frommen die Qual der Wahl zwischen so viel Glücksspendern äußerst wehe tun muß. Doch es ist in anerkennenswerter Milde dafür gesorgt, sie zu lindern. Man kann nämlich ein »fünffaches Skapulier« tragen, indem man alle aufeinander heftet. Dadurch wird man »aller Gnaden und Ablässe« teilhaftig. Und das ist doch was wert! Allerdings kann jedes Skapulier nur von einem dazu bevollmächtigten Priester angelegt werden, doch haben die Redemptoristen-Patres die Vollmacht mit einem vierfachen Skapulier, bestehend aus allen, mit Ausnahme des roten, zu bekleiden[2]. Sie können, wie Pater M. Ulrich in seiner Schrift »Die geistliche Schatzkammer, oder kurzgefaßter Unterricht Seite 218über das vierfache Skapulier, die geweihten Kreuze usw.« (au, Bucher, 5. Aufl., 1874) S. 24 sagt: Durch eine einzige Weihe und Auflegung in alle vier Bruderschaften zugleich aufnehmen.

Was der fromme Skapulierträger für einen Profit macht, ist allerdings fabelhaft. Wer das fünffache Skapulier trägt, gewinnt »am Tage der Aufnahme fünf vollkommene Ablässe; täglich, sooft er sechs Vaterunser, Ave Maria und Ehre sei usw. betet, jedesmal die mit dem Besuche verschiedener heiligen Orte verbundenen Ablässe (vgl. oben); in jeder Woche Mittwochs und Freitags je einen vollkommenen Ablaß usw.; ferner: in der Todesstunde vier General-Absolutionen und fünf vollkommene Ablässe; nach dem Tode bei jeder für ihn gelesenen Messe wenigstens einen vollkommenen Ablaß; das samstägliche Privilegium.« Nach dem von Ulrich gegebenen Verzeichnis (S. 41 ff.) der Ablässe, kann man an einigen Tagen« etliche Jahrhunderte Ablaß gewinnen; erhält man doch schon 60 Jahre, »sooft man durch eine halbe Stunde das innerliche Gebet übt oder eine fromme Betrachtung anstellt«.


Das Skapulier, von dem übrigens auch die Franziskaner eines besitzen, ist nicht das einzige Kleidungsstück der frommen Garderobe. Verfügt doch der gleiche Orden in seinem »seraphischen Gürtel« über ein nicht minder seelenrettendes Instrument. Darüber belehrt das Schriftchen »Der Seraphische Gürtel und dessen wunderbare Reichtümer. Nach dem Französischen des hochw. Herrn von Segur«, das mit Seite 219bischöflicher Erlaubnis 1877 in erster, im folgenden Jahre in zweiter Auflage erschien.

Sixtus V. errichtete im Jahre 1585 eine »Erzbruderschaft des Gürtels des heiligen Franziskus«, deren Mitglied man werden kann, wenn man aus der Hand eines Franziskaner-Oberen oder eines anderen dazu bestellten Priesters den Gürtel empfängt und denselben Tag und Nacht trägt. »Es ist Gebrauch, aber nicht Pflicht, jeden Tag zum Andenken an die fünf Wunden des Erlösers und des heiligen Franziskus sowie auch für die Bedürfnisse der Kirche nach der Meinung des heiligen Vaters sechs Vaterunser usw. zu beten. Man kann den Gürtel auf dem Hemde tragen. Er mag von Wolle oder Baumwolle sein, von Garn oder Hanf, von weißer oder Naturfarbe. Man soll ihn nur ablegen im Falle der Not, um ihn so bald als möglich wieder anzulegen. Ist er zerrissen oder sonst nicht mehr tauglich, so kann man ihn verbrennen und ganz einfach durch einen anderen ersetzen. Eine kleine Schnur wäre nicht hinreichend, doch muß es auch kein dicker Strang sein.«

Es lohnt sich wirklich, diesen Gürtel zu tragen, denn er spendet geradezu fabelhaften Segen. Segur schreibt darüber: »Die mit dem seraphischen Gürtel verbundenen geistlichen Vorteile enthalten den unvergleichlichen Schatz der Ablässe, welche aus der Franziskaner-Familie ein Wunderding machen, einzig in seiner Art. Die Träger des seraphischen Gürtels haben Anspruch auf alle diese Gnaden« (S. 6). »So oft sie die sechs Vaterunser usw. beten, gewinnen sie alle Ablässe des h. Landes, der sämtlichen Basiliken und Heiligtümer von Rom, der Heiligtümer von Seite 220Assisi usw., das heißt Tausende vollkommener Ablässe und sicher mehr als 100000 Jahre teilweiser Ablässe. Ist das nicht gleichsam ein unvergeßlicher Ozean von Erbarmungen? Kann man da nicht täglich Tausende armer Seelen aus dem Fegfeuer erlösen? Und diese Ablässe kann man gewinnen, so vielmal des Tages, als man will; es ist nicht notwendig, morgens kommuniziert zu haben, man darf sich nur im Stande der Gnade befinden, seine Sünden bereuen und fest entschlossen sein, Gott dem Herren treu zu bleiben. Wo ist ein Christ, der dies nicht tun könnte und gern tun sollte?« (S. 7).

Aber das ist noch nicht alles: Wenn die Gürtelträger nach der Kommunion den Psalm Exaudiat usw. beten, können sie alle Ablässe gewinnen, die je allen Heiligtümern der ganzen Welt verliehen worden sind (S. 8) und 36mal im Jahre die »große Franziskaner-Absolution« empfangen.

Die »Monatsrosen« vom Februar 1874 berichten noch von einem anderen Gürtel, dem Sankt-Josephs-Gürtel, durch den schon 1657 eine Nonne in Antwerpen »von grausamen Schmerzen« wunderbar geheilt wurde. Als Pius IX. ihn auf Ersuchen des Bischofs von Verona 1859 nebst der Weiheformel bestätigt und mit Ablässen begnadigt hatte, kam sein Gebrauch erst recht in Aufnahme. Der Gürtel besteht aus einer Schnur von Baumwolle, Wolle oder Leinen mit »sieben Knoten als sieben Schmerzen und sieben Freuden des h. Josephs«. Man trägt ihn unter der Kleidung, »um durch die Fürbitte des h. Joseph wirksame Hilfsmittel zur Bewahrung der Reinigkeit und zur Enthaltsamkeit, die in jedem Stande notwendig ist, Seite 221zu erlangen oder sie wieder zu erringen, wenn sie verloren ist«.

Doch das ist keineswegs die einzige Wirkung dieses Wundergürtels. Im Märzheft 1878 der »Monatsrosen« ermahnt der Herausgeber die Gläubigen, sich mit dem Gürtel des h. Joseph zu umgürten und macht darauf aufmerksam, daß in der Servitenkirche zu Innsbruck ein Filialbündnis der Umgürteten des h. Josephs bestehe. Man könne sich um Gürtel und Büchlein an die Redaktion der Monatrosen wenden. Das kann auch tatsächlich nur jedem angeraten werden, ist doch auch die Wirkung dieses Kleidungsstückes nach der gleichen Quelle geradezu verblüffend. »Ein siebenjähriges Kind, welches an Lungen- und Brustentzündung erkrankt und von drei Ärzten aufgegeben war, wurde in den Gebetsverein eingeschrieben, eine heilige Messe für dasselbe gelesen, ihm einige Tropfen Lourdes-Wasser eingegeben und ein Josephsgürtel umgelegt, und die Krankheit wendete sich zum Bessern« (S. 247). Ein anderer Fall betrifft »ein großes Übel«, das nach Auflegung des h. Joseph-Gürtels plötzlich behoben wurde (S. 343).

Daß solche Mittel bei Krankheiten auf nervöser Basis wirksam sein können, wird niemand bestreiten wollen, der den gewaltigen Einfluß der Suggestion auf den Körper kennt. Die Gürtel aber bei Lungenentzündungen und ähnlichen Infektionskrankheiten empfehlen, heißt in gewissenloser Weise mit dem Leben derer, die nicht alle werden, spielen.

Der heiligen Garderobe gehört endlich noch ein dritter Gürtel an, über den der Spitalbenefiziat Joseph Seite 222Löcherer unter dem Titel »Vollständiger Inbegriff der Gnaden und Ablässe der ehrwürdigen Erzbruderschaft Maria vom Troste, oder der schwarzlederne Gürtel der h. Mutter Monica, des heiligen Vaters Augustin und des h. Nicolaus von Tolentin, zum Gebrauche der Vorstände und aller einverleibten der Bruderschaft, getreulichst nach dem von P. Clemens X. herausgegebenen und für ewige Zeiten bestätigten Breve und Ablaß-Summarium Ex injuncto nobis vom 27. März 1675 und dem neuesten, von der h. Kongregation der Ablässe durch Urkunde vom 7. März 1863 ausdrücklich gutgeheißenen Bruderschaftsbüchlein bearbeitet« ein Büchlein schrieb, das bei Manz in Regensburg im Jahre 1878 in achter Auflage erschien.

Der Gürtel hat natürlich auch seine historische Berechtigung: Der h. Monica, die auch in der Kleidung der Jungfrau Maria ähnlich sein wollte, ist diese mit dem schwarzledernen Gürtel erschienen und sagte ihr, daß sie ihn seit dem Tode Christi getragen habe. Natürlich legte ihn nun die h. Monica, die Mutter Augustins, auch an.

Auch diese Gürtel-Bruderschaft ist, wie das ja nur recht und billig ist, an Ablässen außerordentlich reich[3].

Es leuchtet jedem denkenden Menschen ohne weiteres ein, daß die himmlischen Heerscharen, Gottvater, Sohn, heiliger Geist, kurz das ganze Weltregiment eine närrische Freude darüber haben muß, wenn christkatholische Menschen mit Skapulieren und Gürteln herumwandeln. Wenn es eine genaue Bekleidungsvorschrift für das Militär oder den hoffähigen Adel Seite 223gibt, warum braucht nur gerade der Himmel keine zu haben? Sollte hier etwa auf enden Anzug weniger Gewicht gelegt werden? Das wäre eine geradezu beleidigende Annahme.

Wie oberflächlich, wie weltlich klingt doch der Satz »Kleider machen Leute«. Der wahrhaft Fromme sagt, »Kleidungsstücke machen himmelsfähig«, oder »Bekleidungsstücke machen Seelen«.


Doch nicht nur auf Skapuliere und Gürtel beschränkt sich die wunderbare Kraft für Lebzeiten und im Tode, sondern sie erstreckt sich auch auf Medaillen. Die Benediktiner sind im Besitze der sogenannten Benediktus-Medaille. Über sie schrieb Dom Prosper Gueranger, Abt des Benediktiner-Klosters Solesmes in Frankreich, »Bedeutung, Ursprung und Privilegien der Medaille oder des Kreuzes des hl. Benedikt«, bearbeitet von P. Laurenz Hecht, Benediktiner des Stiftes Einsiedeln. 2. Auflage, mit Approbation des Bischofs von Chur-Einsiedeln 1871. Ferner existiert über diese wichtige Materie das »St. Benediktus-Büchlein oder die Medaille des hl. Benedikt« von einem Priester der Diözese Münster, mit Erlaubnis der geistlichen Obrigkeit, Münster 1876.

Es ist aber auch wirklich der Mühe wert, um dieser Medaille willen zur Feder zu greifen, denn, wie Pater Hecht aus einer zu Rom 1857 mit kirchlicher Approbation erschienenen Schrift mitzuteilen in der glücklichen Lage ist, wurde sie wirksam angewendet: »1) um Zaubereien und alle anderen teuflischen Einwirkungen zu zerstören; 2) um die Zauberei vom Orte Seite 224abzuhalten; 3) um die Tiere, welche von der Pest oder Seuche angesteckt oder von Zauberei befallen sind, zu heilen und gesund zu machen; 4) um jeden Menschen, der vom bösen Feinde versucht, getäuscht oder geplagt wird, den notwendigen Schutz zu gewähren; 5) um die Bekehrung irgendeines Sünders, insbesondere wenn er in Todesgefahr ist, zu erlangen. Der vertrauensvolle Gebrauch dieser Medaille ist überdies wirksam: 1) zur Zerstörung des Giftes; 2) zur Vertreibung der Pest; 3) zur Wiederherstellung der Gesundheit für diejenigen, welche von Steinkrankheiten, Seitenstechen, fallender Sucht, Blutüberfüllung oder Blutspeien befallen sind; 4) für die Mütter, damit durch den geistlichen Beistand die Kinder zur rechten Zeit und gesund geboren werden; 5) zum Schutze der Menschen vor dem Blitze; 6) zum Schutze derjenigen, welche von Ungewittern hart bedrängt sind; 7) was aber mehr als alles andere geschätzt werden muß, dient diese geweihte Medaille, fromm gebraucht, dazu alle Versuchungen gegen die leibliche Tugend der Reinigkeit zu überwinden und durch Gottes Gnade die Menschen heilig an Seele und Leib zu bewahren.«

Daß diese theoretischen Wirkungen auf voller Wahrheit beruhen, bezeugt uns Abt Gueranger. In einem Kapitel »Wunderbare Wirkungen der Medaille des h. Benedikt im 19. Jahrhundert« überschrieben (Übersetzung von Hecht, S. 64 ff.), werden u. a. einige körperliche Heilungen mitgeteilt:

»Eine Dame wurde plötzlich von starkem Nasenbluten befallen; die Mittel, welche der Arzt verordnete, schienen den Blutfluß eher zu Seite 225fördern, als zu hemmen; so war der Abend des dritten Tages herangekommen; da empfängt die Kranke, eine Person voll lebendigen Glaubens, die Medaille des h. Benedikt, und sogleich hört das Bluten auf.«

Ein anderer Fall: »Eine Ordensschwester wurde von einem Augenleiden befallen; nachdem sie sich die Augen mit Wasser gewaschen, in das sie die Medaille des h. Benedikt getaucht hatte, erlangte ihr Gesicht bald seine frühere Kraft wieder.«

Ferner: »Eine Frau, deren Tochter von einer heftigen Entzündung des Kehlkopfes befallen wurde, kam auf den Einfall, die Medaille in ein Glas voll Wasser zu tauchen und es dem Kinde zu trinken zu geben. Sogleich führt sie ihren frommen Einfall aus. Das Kind trinkt das Wasser; am anderen Tage ist es außer aller Gefahr. — Eine Frau, die an heftigem Ohrenweh litt und der von Zeit zu Zeit Klumpen geronnenen Blutes und Eiterstoff aus den Ohren kamen, legte eine Medaille in das Ohr und betete mit Vertrauen ein Vaterunser und ein Gegrüßt zu Ehren des h. Benedikt. Eine Minute nachher war sie gänzlich geheilt.«

Die geistige Wirkung steht ganz auf der Höhe der körperlichen. Davon mögen folgende Beispiele aus dem 2. Abschnitt, überschrieben »Geistige Gnaden. Plötzliche Bekehrungen« (S. 76 ff.) überzeugen.

»Eine Frau berührte mit einer Medaille die Weinflasche ihres dem Trunke ergebenen Mannes; dieser fand den Wein abscheulich und ging in eine benachbarte Schenke, kam aber nach einer Viertelstunde zurück und sagte, der Wein sei dort noch Seite 226schlechter. In den nächsten Tagen trank er nur Wasser, und die Frau benutzte dies, um die Zusage von ihm zu erlangen, daß er hinfort seine religiösen Pflichten erfüllen wolle.«

Ein anglikanischer Geistlicher disputierte neun Tage lang mit drei Konvertiten; einer von diesen begleitete ihn, als er am zehnten Tage zurückkehrte, und disputierte noch mit ihm bis zum Abend. Der Anglikaner brach endlich die Unterredung mit Worten ab, welche gar keiner Hoffnung zu seiner Rückkehr in die katholische Kirche Raum gaben. Da bat ihn der Katholik, die Medaille des h. Benedikt, die er bei sich trug, anzunehmen. Er tat es, und nach einigen Minuten, während deren der Katholik betete, erklärte er: »Das Licht strahlt vor meinen Augen, und ich habe an nichts mehr zu denken, als an die Abschwörung meiner Irrtümer.« Fünf Tage nachher erfolgte diese Abschwörung.

Daß die Benediktus-Medaille auch gegen böse Geister hilft, wissen wir schon. Nachstehend sei eine dieser erbaulichen Geschichten wiedergegeben: In einem Hause in Rennes trieben »böse Ceister« ihr Wesen: man hörte Lärmen und Stimmen, das Hausgeräte veränderte seinen Platz, ohne daß jemand es berührte usw.

»Die Hausbewohner ließen viele Messen für die Verstorbenen lesen, für den Fall, daß eine verstorbene Person durch solche Zeichen ihren Wunsch um Befreiung von den Schmerzen des Fegfeuers hätte kund geben können und wollen; nebst dem riefen sie auch den Priester herbei, damit er die Gebete verrichte, welche von der h. Kirche gegen vom bösen Feinde Seite 227belästigte Hä angeordnet sind. Allein die unheimliche Plage wollte nicht weichen. Da begann man damit, an den Türen eine Medaille des h. Benedikt aufzuhängen, und alsbald erfolgte die gänzliche Befreiung. Aber man hatte vergessen, eine Medaille an der Türe des Kellers zu befestigen; die ganze Bosheit der höllischen Geister schien sich dort vereinigt zu haben; so groß war dort der Lärm und die Unordnung. Nun befestigte man auch dort eine Medaille, und siehe, die teuflische Bosheit verließ endlich das Haus, jedoch nicht ohne Rache zu nehmen; denn die Person, welche (den Rat erteilt hatte und) uns diese Tatsachen berichtete, wurde alsbald vom bösen Geiste sehr grausam an Leib und Seele geplagt. In diesem Leiden erhielt sie endlich Erleichterung durch genaue Befolgung der Ratschläge ihres Beichtvaters, der ihr empfohlen hatte, kühn und mutig gegen den bösen Feind aufzutreten und öfters die h. Namen Jesus, Mariä und Joseph gegen ihn auszusprechen.«

Mehr hätte es uns ja imponiert, wenn es ohne den Beichtvater allein durch die Medaille gegangen wäre. Immerhin war auch so die Wirkung recht zufriedenstellend.

Hausfrauen! Schafft euch die Benediktus-Medaille an! Oder wer fühlt sich nicht durch folgende schöne Geschichte dazu geradezu verpflichtet? Das »St.-Benediktus-Büchlein« erzählt (S. 63): »Im Jahre 1863 zerbrachen täglich in einem Kloster mehrere Lampen und Trinkgläser auf eine ganz unerklärliche Weise. Mehrere Wochen hatte dies gedauert, da verfielen die Schwestern auf den Gedanken, die Benediktus-Medaille anzuwenden, und fortan blieb alles in bester Ordnung.«

Seite 228In einer Stadt wollte der Gemeinderat die Straße breiter machen lassen und zu diesem Zwecke einen bedeutenden Teil einer von Wallfahrern stark besuchten Kirche der h. Jungfrau abbrechen lassen. Man befestigte die Medaille des h. Benedikt am Fuße des Standbildes der h. Jungfrau und »wenige Tage nachher wurde der Baumeister, welcher den unglücklichen Gedanken gehabt hatte, das Haus Gottes zu verstümmeln, plötzlich krank und starb. Seinem Nachfolger leuchtete es gleich ein, wie unnütz die Verstümmelung der Kirche sei«, und auf seinen Antrag hin wurde der Verbreiterungsplan geändert (Hecht, S. 93).

»Zu T. in Frankreich wurde durch Aufhängung einer Medaille des h. Benediktus im Hühnerstalle den Hühnern die Fruchtbarkeit zurückgegeben.«

Hecht folgert daraus die »Wahrheit, daß es dem Herren in seiner Weisheit gefallen, einen kleinen, materiellen, zu seiner Ehre geweihten Gegenstand als Werkzeug für Zernichtung aller teuflischen Gewalt und für das Wohl der Menschen und Tiere zu bestimmen« (S. 120).

Diese und viele andere ähnliche, erbauliche und wunderschöne Geschichten werden in jedem intelligenten Leser — und wer wäre das in den Augen eines Autors, dessen Bücher er auszeichnet, nicht? — den brennenden Wunsch wecken die Medaille zu besitzen. Damit er sie auch richtig anwendet, geben wir die wörtlich übereinstimmenden Anweisungen Guerangers (S. 161) und des Priesters von Münster (S. 95) wieder:

»Diese Medaille wird bei ansteckenden Krankheiten an den Wänden und Pforten der Hä, bei Viehseuchen an den Wänden der Ställe befestigt, damit Seite 229bei dem Anblicke des darauf befindlichen Zeichen des h. Kreuzes die bösen Geister fliehen. Sie wird bei Aufführung von Gebäuden in das Fundament eingesenkt ... Ferner pflegt sie gegen Ungeziefer auf den Wiesen in die Erde gegraben zu werden. Auch ist es üblich, daß die Gläubigen sie in ein Wassergefäß legen, damit Menschen und Tiere, wenn sie von diesem Wasser trinken, die Gesundheit erlangen. Die Art und Weise, die Benediktus-Medaille zu gebrauchen, wird durch das Ansehen der h. Kirche und durch die glücklichsten Erfolge empfohlen.« Allerdings sind die Wirkungen nur insofern unfehlbar, »als sie von Gott für das Heil der Gläubigen zuträglich erkannt werden«.

Übrigens macht bisweilen nicht nur die Benediktus-Medaille den Arzt überflüssig. So wird im »Sendboten« (1871, S. 302) berichtet: »Ein Mann, der infolge eines Beinbruchs an sehr heftigen Schmerzen litt, band eine Herz-Jesu-Medaille an den Fuß, versprach eine neuntägige Andacht zum Herzen Jesu, und nach kurzer Zeit verließ ihn der Schmerz. Einer protestantischen Frau wurde geraten, ihrem kränklichen Kinde, das katholisch getauft war, etwas Geweihtes beizulegen, und ihr eine Herz-Jesu-Medaille gegeben. In wenigen Tagen besserte sich das Kind. Die Frau wurde katholisch[4]


Die Jesuiten haben zwar weder ein besonderes Skapulier, noch einen Gürtel, noch eine Medaille, dafür aber ein Wasser, das Ignatiuswasser. Und wenn man ihnen glauben darf — und wer wird einem Jesuiten nicht glauben? — dann macht die wunderbare Seite 230Flüssigkeit die anderen Mittel auch entbehrlich. Der belgische Jünger Loyolas Eduard Terwekoren hat darüber eine Schrift verfaßt, die 1867 bei Mayer & Comp. in Wien unter dem Titel »Das Weihwasser des h. Ignatius von Loyola für alle Leiden der Seele und des Leibes« in Übersetzung erschien. Aus unbekannten Gründen ist diese Ausgabe nicht mehr im Buchhandel, was wir noch lebhafter beklagen würden, wenn mit ihr auch das Wasser verschwunden wäre. Das ist aber zum Heile aller frommen Seelen und deren beglückwünschenswerten Körper nicht der Fall. Vielmehr wird nach wie vor das Wasser geweiht und wir haben keinen Grund zur beleidigenden Annahme, daß es heute weniger wirksam sein sollte, als vor 45 Jahren.

Übergehen wir die wunderbaren Heilungen früherer Jahrhunderte, um uns auf die jüngere Vergangenheit zu beschränken: »Der im Jahre 1860 zu Alost im Geruche der Heiligkeit verstorbene Pater Bernhard erwarb sich gerade durch die Verteilung des Ignatius-Wassers und durch seine Unermüdlichkeit im Beichtstuhle ungeheure Popularität. Die Vorsehung hatte ihn awählt, um in der Gegend von Alost diese alte und mächtige Andacht zum Weihwasser des h. Ignatius zu erwecken (S. 22, 24). Bei einer Viehseuche gebrauchte man das Wasser auf einem Bauernhofe, und von 15 Pferden ging kein einziges zugrunde (S. 25). Als den Pater Bernhard seine Krankheiten verhinderten, die Kranken zu besuchen und eine Schwerhörigkeit ihn nötigte, das Beichthören aufzugeben, fuhr er doch fort, das Ignatius-Wasser auszuteilen. Er zeichnete Tag für Seite 231Tag die Zahl der Personen auf, welche solches von ihm erhielten. Als nach seinem Tode sein Leichnam ausgesetzt war, brachten viele Leute die Fläschchen, welche das Weihwasser des Paters enthalten hatten, in der Meinung, dadurch daß sie dieselben an seinen Händen und an seinem Munde anrührten, ihnen die Weihe zu erhalten.« (S. 27.)

Wie wenig doch oft dazu gehört, um im Geruch der Heiligkeit zu sterben!

»Im Jahre 1859 wurde zu Antwerpen eine Frau, welche beinahe blind geworden war, geheilt. Ihr Vertrauen wurde glücklicherweise ansteckend: noch an demselben Vormittage holten 5 oder 6 Personen dieses Wasser, um sich gegen die Cholera zu schützen. Am Nachmittage zählte man bereits etliche 30 Begehrer, und wenige Tage später war ein solcher Andrang um das Ignatius-Wasser, daß 4-5 Personen kaum hinreichten, es auszuteilen.« (S. 29.) Im Jahre 1839 hörte die Choleraepidemie in der Straße auf, in der ein Mann das Wasser brauchte! Daß Sünder nach dem Trinken des Wunderwassers sich bekehrten, ist klar. Kann es bei dieser Wirkung wundernehmen, daß das Wasser wie frische Semmel abgeht? Verlangte man doch in Gent binnen zweier Monate 100000 Flaschen und mehr als 50000 Personen aus Stadt und Umgebung bedienten sich seiner.

Am verdienstlichsten ist aber folgende Wirkung: »Außerdem gibt es noch zwei Umstände, in welchen man früher seine Zuflucht zum h. Ignatius nahm, und das scheint heute aufs neue in Schwung zu kommen. Nämlich bei Frauen, welche das Herannahen des Augenblicks fürchten, wo sie ein Kind Seite 232zur Welt bringen sollen, und bei solchen, welche sich darüber betrüben, daß sie keine Hoffnung haben, eines Tages mit dem süßen Namen ‚Mutter‘ benannt zu werden. In diesen beiden Umständen hat die Fürbitte des h. Ignatius viele Tränen getrocknet, viele Ängsten beseitigt« (S. 68). »Man gebraucht das Ignatius-Wasser gar oft bei Frauen, welche in Gefahr einer Schwergeburt sind, und man erzielt damit die glücklichsten Erfolge« (S. 73)[5].

Der »Sendbote des göttlichen Herzens Jesu«, der mit »Genehmigung der geistlichen Oberen« von Malfatti als Monatsschrift herausgegeben wird, besonders zur Förderung der Andacht zum Herzen Jesu, die in den letzten Jahrzehnten eifrig kultiviert wird, erzählt außer unzählbaren ähnlichen Geschichten, folgende zwei, die wir als besonders leuchtende Perlen herausgreifen möchten.

Im Jahrgang 1871 (S. 184) finden wir folgenden Bericht: »Im Dekanat Bozen wurde ein totes Mädchen geboren, in dessen mißgestaltetem Gesichte weder Augen noch Nase zu sehen waren. Zwei Personen trugen das tote Kind zur wundertätigen Mutter Gottes nach Riffian mit der festesten Hoffnung, in der dortigen Wallfahrtskirche Lebenszeichen zu erbitten, um dasselbe mindestens bedingungsweise taufen zu können. Sie kamen am 13. Januar spät abends in Riffian an und trugen am folgenden Tage das Kind in die Kirche.« Es zeigten sich Lebenszeichen. Sie trugen darauf das Kind zum Pfarrer, um es taufen zu lassen, konnten aber kein Lebenszeichen mehr wahrnehmen. Es wurde am gleichen Tage wiederholt und auch beim dritten Gebete zeigte Seite 233sich kein Lebenszeichen. Nunmehr begrub man das Kind. Sie ließen es aber am 18. wieder ausgraben, bemerkten während ihres Gebetes Lebenszeichen und ließen das Kind durch den gerade anwesenden Meßner taufen. Die Lebenszeichen wurden nach der Taufe immer noch schöner und verschwanden erst allmählich wieder.

Eine ähnliche Geschichte steht im gleichen Jahrgang (S. 268):

»In Stilfs ertrank am 3. Juli eine schwangere Frau; die Leiche wurde erst am 5. untersucht und geöffnet, und das Kind als tot gefunden. Abends kamen viele Personen bei der Leiche zusammen, um durch die Fürbitte Marias die Taufgnade zu erbitten; sie nahmen ihre Zuflucht besonders zur schmerzhaften Mutter von Stilfs. Wie sie beteten, sahen sie, daß das Gesicht des Kindes Lebensfarbe erhielt, daß Lippen und Wangen sich röteten und der Mund sich öffnete; einige Weiber wollten auch den Pulsschlag des Herzens gesehen haben. Das Kind wurde bedingungsweise getauft; bald nach dem Taufakte schloß es den Mund und wurde bleich wie Wachs.«

In früheren Jahrhunderten waren solche schönen Geschichten ja nichts Seltenes. Friedrich berichtet in seinen Beiträgen zur Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts (München 1876, S. 8) ähnliche Fälle. Damals aber schritt die römische Inquisition gegen diese Volksverdummung ein. Heute wird dieser Blödsinn von Kreisen, die Rom sehr nahe stehen, zu neuem Leben erweckt[6].

Seite 234VIII. Kapitel  Die Dummheit der Massen 4t67u

Jahrtausende alte Erfahrung erbringt den unwiderleglichen Beweis dafür, daß ein großer und weiser Gedanke sehr lange braucht, um vom Volke angenommen zu werden. Ja, die größten Gedanken dringen überhaupt nicht in die Menge oder doch nur in einer Form, die wenig mehr vom Geiste ihres Schöpfers verrät. So wurde etwa aus den erhabenen Lehren Christi der Paganismus der römisch- und griechisch-katholischen Kirche. Die edle Weisheit eines Buddha konnte zum Lamaismus Tibets entarten; während die weltumstürzende Entdeckung eines Kopernikus Jahrhunderte brauchte, bis sie sich allseitig durchzusetzen vermochte.

Man wird das ganz natürlich finden und mit der mangelnden Bildung, dem Mangel an Intellekt, dem Trägheitsbedürfnis breiter Volksschichten motivieren.

Wie aber, wenn ein Gedanke absurd ist? Wenn der Wahnwitz ihm aus den Augen grinst? Wenn er jeder Vernunft, jeder Erfahrung widerspricht, seinen Anhängern die größten Mühen, Opfer und Seite 235Gefahren an Gut und Blut auferlegt? — Dann wird er in zahllosen Fällen fanatisch aufgegriffen werden und mit elementarer Gewalt sich durchzusetzen versuchen. Der Träge wird zum Tatenmenschen, der Zauderer kühn, der Geizhalz verschwenderisch, der Feigling ein Held werden. Es ist nur nötig, daß der Gedanke einen Herold findet, der, selbst von ihm erfüllt, die Gewalt des Beispiels oder der Rede besitzt, mit möglichst überspannten Bildern und Zukunftshoffnungen nicht spart, der den mystischen Schleier des Geheimnisvollen zu weben versteht und alles wird ihm folgen, wie einst die Kinder dem Rattenfänger von Hameln.

Das war zu allen Zeiten so, es ist so und wird so bleiben. Heute nennen wir die Kraft, die jene wunderbare Wirkung hervorruft: Suggestion; früher hatte sie keinen Namen. Man reihte sie in das große Gebiet der Magie oder Zauberei ein. Uns genügt die Feststellung, daß sie wirken kann, einen Fieberwahn hervorzurufen vermag, wenn sie — auf Dumme stößt. Diese Dummen aber findet sie immer und überall.

Hier bewährt sich die Allmacht der Dummheit in unheimlichster Weise: sie steckt an. Dieselben Leute, die unter normalen Umständen die Torheiten verlachen würden, machen sie mit, wenn sie andere sehen, die sie vormachen. Das Geheimnis der Massenpsyche, der die Hemmungen fehlt, ist nahezu unergründlich. Unergründlicher aber noch ist die Tiefe der Dummheit, die in solchen Momenten einem Vulkan gleich zur Oberfläche drängt, sich nun erst zeigt, während sie immer gegenwärtig ist. Und Seite 236wie die glühenden Lavamassen eines Ätna, die sonst in den Eingeweiden der Erde schlummern, hier und da durch ein schwaches Rauchwölkchen ihr Dasein verratend, plötzlich zu neuem Leben erwachen, wie sie mit ihrer feurigen Flut blühende Landschaften, betriebsame Städte in Wüsten und Trümmerhaufen verwandeln, so sehen wir es auch hier.

Wehe, wenn die Dummheit, sonst mit möglichster Diskretion unsern Augen verborgen — etwa wie die Senkgruben der Hä — die so heilsame Hülle der Scham abwirft, wenn sie die Lächerlichkeit nicht mehr fürchtet, auf die Stimmen der Warner nicht mehr hört. Dann richtet sie furchtbareres Unheil an, als alle Vulkane der Erde. Gewiß nicht immer. Bisweilen bleibt es bei harmlosen Versuchen, über die man bald wehmütig lächeln, bald laut lachen möchte, aber oft, nur allzuoft bahnt sie sich über Leichen ihren Weg.

Was etwa denken wir von den Kreuzzügen, die mindestens zwei Millionen wehrhafte Männer, die Blüte der Christenheit, mit unwiderstehlicher Gewalt in den Hades führten? Gewiß, die Folgen waren vielfach segensreich. Die Berührung mit fremden Völkern und Zonen erweiterte den Horizont, gab dem glücklich Heimkehrenden manch fruchtbares Samenkorn in die Hand, das im Heimatlande üppig erblühen sollte. Aber die Idee selbst? Die Art der Verwirklichung? Wie müssen wir den Kinderkreuzzug des Jahres 1212 beurteilen, als Tausende und Abertausende, den Ruf des Heilands »Lasset die Kindlein zu mir kommen« mißverstehend, auszogen, um im fremden Lande elend unterzugehen? Reiners Seite 237Annalen vom Jahre 1212 berichten dazu, daß »ex arte magica« dieses Phänomen bewirkt worden sei. Wir aber sagen: es war die gewissenlose Dummheit der Eltern und Seelsorger, die namenloses Leid über unzählige Familien brachte.

Stehen hier gleich am Anfange klassische Beispiele für den Heroismus, die Todesverachtung, zu der die Dummheit die Massen fortzureißen vermag, so werden wir im bunten Wechsel einer Fülle von Gesichten begegnen, die kaleidoskopisch an unserm Auge vorbeiziehend, neben den edelsten Regungen des Menschenherzens auch dessen gemeinste enthüllen.

Wie die gewaltige Autorität der Kirche die treibende Kraft der Kreuzzüge war, so werden wir finden, daß sie fast ausnahmslos auch die anderen Dummheiten bewußt oder unbewußt veranlaßte. Fast immer aber sind es religiöse Motive, die den grandiosesten Erscheinungen der Massendummheit als Triebfedern zugrunde liegen.

Wir sahen, daß die Kirche seit je der Askese das Wort geredet hat. Während im allgemeinen der Mensch es sich lieber gut sein läßt, die Feste feiert, wie sie fallen, gibt es auch Zeiten großer Erregung, in denen die unvermeidlichen Übel nicht zu genügen scheinen, in denen man danach trachtet, sich »zur Buße« für etwas, was man meistens weder direkt noch indirekt verschuldete, noch andere Leiden freiwillig zuzufügen.

Hierher gehören die Geißelfahrten des Mittelalters.

Die Kirche hat es von je gern gesehen, wenn Büßer sich mit eigener Hand geißelten. Gab es Seite 238Virtuosen dieser Art der Askese, so fehlte es auch nicht an gekrönten Häuptern, die ihnen nur wenig nachstanden. Daß selbst Kaiser und Könige, ein Otto III., Heinrich II. von England, Otto IV., Ludwig IX. von Frankreich, ja noch ein Maximilian I. von Bayern sich mit eigener Hand züchtigten, ist hinlänglich bekannt. Besonders abschreckend — nach unsern Begriffen — ist das Verfahren Otto IV., der an den Folgen eines in zu großer Dosis genommenen Abführmittels starb. Am 18. Mai 1218 hatte der erst 36jährige Fürst aus dem alten Welfenhause gebeichtet. Doch das genügte ihm nicht. An seinem siechen Körper wollte er abbüßen, was seine Seele gesündigt hatte. So ließ er denn Ruten herbeischaffen und unter den Klängen des Miserere sich von den Geistlichen damit schlagen. Die Streiche schienen ihm zu milde. Bis aufs Blut sollte man ihn peitschen. Endlich wurde er erschöpft in sein Bett getragen, in dem er andern Tags seine Seele aushauchte[1].

Wo das Volk solches bei seinen Führern sah, ist es nicht so wunderlich, daß es in schweren Zeiten an Nachahmung dachte. So entwickelte sich denn die Geißelwut zu einer Massenepidemie, die riesige Dimensionen annahm.

Das kam so: Aus dem I. Kapitel des Neuen Testamentes ließ sich berechnen, daß das große Jahr des Gerichtes 1260 eintreten würde. Denn die 42 Geschlechter von Abraham bis Jesus Christus, jedes zu 30 Jahren berechnet, ergaben in Anwendung auf die Zukunft der Menschheit die Zahl 1260. Ein Irrtum war völlig ausgeschlossen, da ja das große Sterben des Jahres 1259, das Italien heimsuchte, deutlich Seite 239auf das Ende aller Dinge hinwies. Ein gewaltiger Bußeifer, geschürt durch das Tertiariertum des Ordens vom hl. Franz, ergriff die weitesten Kreise. Ein alter Einsiedler, Rainerio Fasani genannt, trat in der Nähe von Assisi als einer der ersten Führer von größeren Bußbrüderschaften, die sich öffentlich geißelten, auf. Von Perugia aus, wo er die Genossenschaft von »Geißlern Jesu Christi« gründete, verbreitete sich die Seuche weiter nordwärts. Halbnackt zogen die Büßer, von fanatischen Mönchen geführt, von Stadt zu Stadt, im Takt der gesungenen Bußpsalmen die Geißeln auf ihre Körper fallen lassend und ihre Wege mit Blutspuren bezeichnend. In die Gegend von Modena und Parma fällt der Hauptschauplatz dieses Treibens. Man wäre über den Po vordringend bis in die Lombardei gezogen, hätte nicht der Tyrann Pallavicini von Cremona Verstand genug besessen, dieses Korps der Rache von seinem Gebiete fernzuhalten. So bewirkte sein Eingreifen das baldige Abflauen der Bewegung. Schon mit dem Ende des Jahres 1260 hörten die Geißelfahrten auf, um sich für viele Jahrzehnte nicht zu wiederholen.

Übrigens betrugen sich die frommen Büßer nichts weniger als gesittet. Ihr wüstes Geheul, ihr Benehmen fremdem Eigentum gegenüber — wo ihren Betteleien kein geneigtes Ohr geschenkt wurde, scheuten sie auch vor Gewalttaten nicht zurück — heilte manchen der Bewegung sonst freundlich gegenüberstehenden Christen. So auch Salimbene, den Augenzeugen und Berichterstatter der merkwürdigen Epidemie.

Erst das furchtbare Pest- und Hungerjahr 1348/49 Seite 240ließ wieder Geißelfahrten im großen Stile aufkommen. Nicht mehr Prozessionen, sondern Wallfahrten großer Massen zogen im Lande herum, nicht mehr auf Italien beschränkte sich die Epidemie, wenn sie auch wieder von dessen Norden ausging, sondern Ungarn und Polen, Österreich, Böhmen, Sachsen, Thüringen, die Gegenden des Ober- und Niederrheins, die Niederlande, ja England und Jütland samt den dänischen Inseln wurden zum Schauplatz dieses Völkerwahns. Frankreich wurde nur mit Mühe freigehalten.

Die Wallfahrer gaben sich durch Bezeichnung ihrer Mäntel und Hüte mit roten Kreuzen, sowie durch Vorantragen von Fahnen und Kreuzen als eine Art von Kreuzfahrern aus und behaupteten durch einen von Christus selbst geschriebenen und von einem Engel dem Patriarchen von Jerusalem überbrachten Brief zu ihren Bußübungen aufgefordert zu sein.

Als Geißelwerkzeug bedienten sich die sonderbaren Heiligen kurzer Stöcke, mit je drei Strängen daran, durch deren dicke Endknoten je zwei scharfe Stacheln kreuzweise hindurchgetrieben waren. Auch mit ihrer Körperhaltung und ihren Manipulationen ahmten sie das Kreuz nach, indem sie sich bei Absingung des Bußliedes an den drei Stellen, wo der Refrain wiederkehrte:

»Jesus der wart gelabt mit gallen
des süllen wir an ein criuze vallen«

mit kreuzweise ausgestreckten Armen zu Boden warfen und für die Dauer von fünf Paternostern liegen blieben. Am Schluß des Gesanges schlugen sie sich mit kreuzweise ausgebreiteten Armen an die Brust.


Seite 241War Frankreich von der großen Geißelbewegung von 1348/49 verschont geblieben, so holte es das damals Versäumte doch später nach. Wo hätte je das zündende Beispiel der Dummheit nicht epochemachend gewirkt?! In Südfrankreich und Spanien trat unter Führung des gewaltigen Bußpredigers Vincentius Ferrer († 1419) im Jahre 1399 die Bewegung mit größter Kraft auf. Es sollen sich um ihn 80000 Büßer gesammelt haben, die unter den Rufen »(dies geschieht) zu Ehren des Leidens Jesu Christi!« oder »Zur Erlangung der Vergebung meiner Sünden« oder »Herr Gott habe Erbarmen« barfüßig einherzogen und sich öffentlich geißelten. Übrigens wurde die Kirche, die hier im großen und ganzen den kühlen Kopf behielt, den sie der privaten Geißelung gegenüber verloren hatte, dieser Bewegung gleichfalls Herr, wenn auch nach nicht geringem Kraftaufwande[2].

Dieser Wahn hat sich in scheußlichster Form sogar bis in unsere Zeit erhalten!

Unweit Messina geißelten sich im Jahre 1891 bei einer Prozession am Feste »U. L. Frau in Ketten« die Büßer mit Eisenketten so grausam an Brust, Schultern, Schenkeln und Waden, daß im Volke eine lebhafte Erregung entstand. Von Bußschmerz und Bewunderung ergriffen, leckten Weiber den blutbesprengten Boden der Kirche, in der die Prozession zum Hochaltar zog, ab! Zwei Männer sollen damals an ihren Wunden gestorben sein.

Eine Fraternidad piedosa in Neu-Mexiko vereint in der Karwoche Geißelungen mit Schaustellungen der Kreuzigung. Einzelne ihrer Büßer schleppen schwere Holzkreuze auf den Knien über steinigen Seite 242Boden hinrutschend einen steilen Hügel hinauf. Einer derselben ließ sich — um das Jahr 1870 — in Puerto de Luna ans Kreuz nageln, was seinen Tod verursachte. In Santa Rita in Südkalifornien sind ähnliche Aufführungen auch heute noch im Schwange, doch lassen sich die Büßer vorsichtshalber nur anbinden[3].

Auf die grausigste Form dieser Raserei, die Kreuzigung, werden wir weiter unten noch zurückkommen.


Ein anderes Gebiet der Dummheit betreten wir mit folgenden Berichten:

Im Findelhaus zu Amsterdam trat im Jahre 1566 eine psychische Massenerkrankung unter den Pfleglingen auf, die auch heute noch unter dem Namen Chorea magna bei hysterischen Kindern beobachtet wird. Bei der Mehrzahl der Insassen des Findelhauses, etwa 30-60 Kindern beiderlei Geschlechts, sah man damals eigenartige Konvulsionen mit Grimassenschneiden, wütendem Herumklettern auf Möbeln, Dächern und Bäumen, Blöken wie die Schafe und Verschlucken einer Menge von unverdaulichen Dingen, wie Nadeln, Wolle, Glasscherben und Lederstücken, die nachher wieder erbrochen wurden.

Ferner zeigte sich in dem Kloster Uvertet (Grafschaft Hoorn) nach Ablauf eines sinnlosen Fastens von 50 Tagen in den Jahren 1550-1565 eine merkwürdige Epidemie unter den Nonnen. Nachdem sie sich während des Fastens nur von Rübensaft ernährt hatten und beinahe alle an einer schweren Stomatitis mit fauliger Seite 243Zersetzung im Munde erkrankt waren, stellte sich zunächst bei einer der Klosterfrauen die Halluzination von nächtlichem Stöhnen ein. Bald folgten bei ihr und dann bei einer Anzahl anderer Lachkrämpfe. Dann verdrehten sie auf alle möglichen Weisen den Körper, fielen in kataleptische Starre, die mit grotesken Sprüngen abwechselte, und mißhandelten sich selbst, schrieben aber die Peinigungen einem zornigen Teufel zu. Die Nonnen rutschten ferner auf den Knien durch weite Räume und selbst die Treppen herab, ja sie kletterten auf Bäume und ließen sich, den Kopf nach unten, herabhängen. In den Intervallen waren sie häufig sprachlos geworden. Hervortretend war auch die Sucht, andere zu beißen, wie überhaupt die Angriffe auf Zuschauer. Beten in Gegenwart der Nonnen und Widerstand steigerte ihr Gebaren zu Wutparoxysmen. Zu den sonderbarsten Bewegungen gehörte auch das Hinunterrollen eine ganze Treppe hinab um die eigene Längsachse. Als Sündenbock mußten die unglückliche, selbst mitergriffene Köchin des Klosters und ihre alte Mutter herhalten. Die Nonnen verklagten sie stürmisch als Satansanbeterinnen und Urheberinnen der Seuche, was zur Folge hatte, daß beide Frauen verbrannt wurden. Darnach steigerte sich jedoch noch die Seuche und erlosch erst nach drei Jahren[4].

Im Jahre 1609 trat in der Landschaft Labourd in den französischen Pyrenäen gleichfalls eine schreckliche Epidemie auf: Die Frauen der armen, ungebildeten, ein rauhes Leben führenden baskischen Fischer wurden nachts massenhaft von Träumen und Teufelsvisionen heimgesucht. Meistens glaubten sie mit einem Incubus-Teufel geschlechtlich zu verkehren. Seite 244Man schickte besondere Kommissäre, die den hervortretenden Zug der Nymphomanie in erster Linie erkundeten und hunderte von Frauen alsbald hinrichten ließen. Auf der Folter sollen verschiedene »unsagbare Genüsse« erlebt haben. Nun ergriff dieser Zustand aber auch die Kinder zu Tausenden: beinahe alle gaben an von schwarzen Katzen, den Seelen der hingerichteten Mütter, nachts zu den Hexensabbaten entführt zu werden. Man versammelte sie, um sie zu behüten, scharenweise nachts in den Kirchen. Trotzdem dauerte es noch Monate, bis die Epidemie erlosch[5].

Es ist klar, daß in beiden Fällen die kirchliche Lehre von Hexen und Teufel das Unheil angestiftet hatte. Das gemeine Volk ist ja meistens zu unproduktiv, um auch nur eine Dummheit aus sich selbst zu erzeugen. Selbst dazu braucht es eine höhere Instanz, die sich ihm im vorliegenden Falle in der Kirche in wünschenswerter Vollendung bot.

Quidquid delirant reges, plectuntur Achivi!

Die stärkste und tragischste aller so zahlreicher ähnlicher Klosterepidemien war die der Ursulinerinnen des Klosters bei Loudun, einer Stadt im Departement Vienne, in den Jahren 1632-1637 resp. 1642. In diesem erst vor sechs Jahren begründeten Kloster waren viele Töchter vornehmer Familien, auch eine Verwandte Richelieus. Durch ein gegenseitiges maßloses Überbieten in asketischen Übungen wohl verursacht, brach der merkwürdige Wahn plötzlich bei 16 Nonnen, darunter der Oberin, aus. Zuerst traten zahlreiche Visionen und Halluzinationen erst schreckhaft von Gespenstern (darunter bezeichnenderweise Seite 245des verstorbenen Beichtvaters) auf, dann wurden die Visionen lasziv.

Man sah Dämonen, die durch die verschlossene Tür, öfter in der Gestalt des derzeitigen Beichtvaters, eindrangen und unter tausend Überredungskünsten obszöne Anträge stellten. Die Nonnen liefen aus ihren Zellen, kletterten sogar auf den Dächern herum und wurden bei ihrem Widerstande gegen die Verlockung der Dämonen »von diesen« furchtbar mißhandelt, so daß die Spuren noch tagelang sichtbar waren. Leichname im Fegefeuer erschienen, die bei Bespritzen mit Weihwasser laut aufzischten. Bald fühlten die Nonnen die Macht der Dämonen, die durch Mund und Genitalien einzudringen pflegten, oft mehrere, 3-5 gleichzeitig. Sie werden in die tollsten Verdrehungen geworfen. Besonders oft kommt es zu dem sogenannten »arc de cercle«, so daß der Kopf weit hinten übergebogen die Zehen berührt. In dieser Position laufen sie mit verblüffender Schnelligkeit durch die Zimmer. Dann schreien und brüllen sie laut in tierischen Tönen oder lassen die Zunge schwarz und borkig weit zum Munde heraushängen. Dann kommen wieder laszive Stellungen, Beckenbewegungen und schamlose Entblößungen sehr oft vor. Sie schließen dabei die Augen und scheinen die Halluzination sexuellen Verkehrs zu erleben. Dazwischen schütteln sie blitzschnell den Kopf, werden von hystero-epileptischen Krämpfen befallen mit Schaum vor dem Mund und folgender kataleptischer regungsloser Starre oder flexibilis cerea mit automatischem Einhalten der eigenartigsten Stellungen.

Am meisten bestürzte das Verhalten der Besessenen Seite 246bei den Exorzismen, in der Kirche oder überhaupt in Gegenwart heiliger, gottesdienstlicher Übungen. Während die Frauen in den Zwischenzeiten normal schienen, ihren Verrichtungen nachgingen und tiefe Verzweiflung über ihren Zustand an den Tag legten, brach, sobald der Exorzismus begann, der Paroxysmus mit voller Macht aus. Die vorher gesitteten Mädchen benahmen sich nun wie die Furien.

Mit wüsten Schimpfworten, wie sie dem Pöbel eigen sind und von denen man nicht wissen konnte, wie sie die Nonnen kennen gelernt hatten, zogen sie gegen alles Heilige los. Sie schalten über die wütenden Schmerzen, die ihnen der Anblick der heiligen Kultobjekte verursache und verlachten die Ohnmacht des beschwörenden Priesters. Dann wanden sie sich wieder — meist unter lasziven Reden — unter Krämpfen und Verdrehungen am Boden.

Da die Nonnen den Priester Urbain Grandier als Veranlasser ihrer Besessenheit nannten und dieser beim Versuch sie zu beschwören fast in Stücke gerissen worden wäre, wurde er grausam gefoltert und dann hingerichtet. Nachdem sich dieser Wahnsinn auch auf die städtische und ländliche Umgebung des Klosters ausgebreitet hatte, erlosch er erst nach 9 Jahren[6].


Ein Wahnsinn, der der Großartigkeit nicht ermangelt, befiel die Hugenotten nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes durch Ludwig XIV. im Jahre 1685. Diese Handlung des alternden Sonnenkönigs, bei der man zweifeln kann, ob sie mehr ein Akt der Seite 247Dummheit oder der Niedertracht war, hatte der allliebenden Kirche, die ihren Grundsätzen damals so getreu blieb, wie in den Zeiten der Albigenser oder Stedinger, das Schwert in die Hand gedrückt. In den Landschaften Dauphiné, Vivarais und in den Cevennen wurde jede kalvinistisch-protestantische Religionsübung mit den grausamsten Maßregeln unterdrückt, Geistliche hingerichtet, Güter konfisziert und dennoch die Auswanderung aufs härteste bestraft. In dieser Not ergriff die einfachen Bauern, zunächst der Dauphiné, das Feuer göttlicher Inspiration. Sie sahen die Wiederkunft Christi nahe und erklärten sich selbst für den auferstandenen Heiland. Sie versprachen die Truppen der Regierung durch den heiligen Geist selbst in die Flucht zu schlagen, ja buchstäblich »wegzublasen«.

Um das zu beweisen, gingen die frommen Bauern scharenweise und ohne Furcht den Regierungstruppen entgegen. Zunächst teilte man sich gegenseitig durch Anblasen den heiligen Geist mit, dann begann man mit voller Lungenkraft gegen den Feind zu hauchen, und zwar taten sich hier vornehmlich die Frauen hervor, die mit hellster Stimme »Taratara« schrien, um dadurch die Trompetenstöße Jerichos nachzuahmen. Natürlich wurden die armen, unwissenden, frommen Landleute wie die Schafe von den Regierungstruppen niedergemetzelt. Erst nachdem sich diese Vorgänge so und so oft wiederholt hatten, flohen sie und in der Dauphiné und Vivarais wurde der Widerstand endlich im Blut erstickt.

Übrigens entspricht dem Blasen eine ähnliche Tollheit in grauer Vorzeit.

Die Messalianer, eine häretische Sekte des 4. Jahrhunderts, Seite 248machten das Ausspucken zur religiösen Handlung, in der Hoffnung, sich auf diese Weise der Teufel zu entledigen[7].

In den Cevennen jedoch ward der Widerstand weit hartnäckiger. Nachdem die Erwachsenen schließlich der schonungslosen Gewalt gewichen waren, begann der Geist die zarten Kinder zu erfassen, wiewohl man Sorge getragen hatte, sie gut katholisch zu erziehen. Die Dörfer vereinigten sich zu gemeinsamen Betversammlungen, in denen gewöhnlich ein als Prophet anerkannter Mann den Vorsitz führte. Zunächst kamen feurige Ermahnungen zum Ausharren, dann Absingen von Psalmen und daraufhin einstimmig der Ruf »Erbarmen«. Hierauf stürzt plötzlich der Vorsitzende mit einigen aus der Versammlung nieder, entweder in vollen Konvulsionen mit schäumendem Mund oder nur unter starkem Zittern am ganzen Körper oder klonischem Zucken von Kopf und Schultern (daher rührt der Name Trembleurs des Cévennes). Die Leute schilderten dabei das Gefühl, als ob im Hinstürzen ein Hammerschlag sie getroffen hätte. Nach dem Erwachen beginnt sofort einer in erhobenem Ton und pathetisch zu prophezeien, vom Untergang des großen Babylons, d. h. der katholischen Kirche, dem Siege ihrer Sache, der Erscheinung Gottes mit allen Engeln voll Glorie, feurigen Ermahnungen zum Ausharren usw. Ferner reden sie oft stundenlang in einer fremden Sprache mit sonderbaren Wortbildungen, das frühere »in Zungen reden«. Verstummte der eine, so wurde durch Anblasen der Geist auf einen anderen übertragen, dieser fiel sofort nieder, wand sich in Krämpfen, prophezeite darnach Seite 249und so ging es fort. Viele hatten allerdings nur die Krämpfe, ohne dann zu prophezeien. An diesen merkwürdigen Andachten beteiligten sich viele Tausende mit dem größten Eifer, mit Extasen und Krämpfen. Für einen, der hingerichtet wurde, standen zehn neue auf, wie die Schergen des Königs klagten.

Schließlich kamen die Kinder an die Reihe. Man schätzt sie auf 8000! Darunter waren ganz junge im Alter von 3-5 Jahren. Wenn den Kindern auch die Krämpfe fehlten, so hatten sie dafür doch um so glänzendere Visionen und besonders die göttliche Inspiration, die sich in einem ganz ähnlichen pathetischen Redestrom äußerte, wie bei den Erwachsenen. Der Eindruck dieser Versammlungen war so stark, daß frühere Gegner und Katholiken mit vom Geist ergriffen wurden, ebenfalls zu prophezeien begannen und sich den Hugenotten anschlossen.

Die Gesamtdauer dieser Bewegung ist auf 20 Jahre anzusetzen. Am heftigsten war sie um 1689. Sie erlosch selbst bei den vielen, die nach England ausgewandert waren, nicht vor Ablauf von Jahren.

Übrigens waren die gleichen Personen außerhalb ihrer Paroxysmen todesmutige und äußerst unerschrockene Verteidiger ihrer Sache auf dem Schlachtfelde[8].


Daß die katholische Kirche durch ihre wahnwitzige Teufels- und Hexentheorie, sowie durch ihre Verfolgung der Hexen und Hexenmeister diesen fürchterlichen Blödsinn noch gewaltsam zu einer Zeit aufrecht erhielt, wo das Volk schon längst angefangen Seite 250hatte ihn abzulegen — nicht die einzige Dummheit, die durch die kirchliche Autorität aufrecht erhalten wurde und wird — ist eine schon häufig betonte Tatsache. Aber auch eine andere merkwürdige Erscheinung, die Lykanthropie, ist auf die Einwirkung der alleinseligmachenden Kirche zurückzuführen.

Diese Lykanthropie besteht in dem Wahn oder namentlich in der Furcht, daß Menschen zu reißenden Tieren werden, oder daß Kinder durch Hexen in »Werwölfe« verwandelt werden können. Eine solche merkwürdige Epidemie kam in den Jahren 1598-1600 im schweizerischen Jura zu St. Claude bei Freiburg vor. Einige Frauen bildeten sich ein, sie seien Werwölfe, und eine fiel auch wirklich Kinder an und tötete sie. Die Untersuchung wurde mit christlicher oder doch kirchlicher Milde geführt. Da es ganz klar auf der Hand lag, daß es sich hier um einen Satansbund handelte, so ließ der Richter Bouquet 600 Personen aus der Jura Landschaft hinrichten.

Harmloser war die sogenannte Laira-Krankheit, die im Jahre 1613 die Gemeinde Amon bei Dax in Südfrankreich ergriff. Mehr als hundertundzwanzig Frauen, sicher ein sehr hoher Prozentsatz der weiblichen Bevölkerung der Ortschaft, wurde von dem merkwürdigen Drange ergriffen, laut und andauernd ein heulendes Bellen, so wie die den Vollmond anbellenden Hunde, auszustoßen. Ferner wälzten sie sich wütend am Boden herum, schlugen um sich, bissen und benahmen sich wie wilde Tiere. Am heftigsten wurde das Bellen, wenn die Frauen zum Seite 251Gottesdienst versammelt waren. Natürlich waren auch hier wieder Hexen schuldig, die sich deutlich dadurch verrieten, daß die Besessenen die Nähe einer solchen durchs Gefühl merkten und sofort einen heftigen Anfall bekamen. Allein die Hexen waren so zahlreich, da außer den Richtern und den Besessenen die Mehrzahl der Ortsbewohner verdächtigt worden waren, daß man sich damit begnügte, nur eine beschränkte Anzahl hinzurichten, darunter allerdings einige, die selbst von dem Wahne befallen waren. Das störte die Richter aber in keiner Weise, da ja der Teufel, wie sie meinten, den Hexen die List eingeflößt habe, die Krankheit nur vorzutäuschen[9].


Bei den französischen Jansenisten grassierte von 1728-1739 ein äußerst absonderlicher Massenwahn. Ein sehr gutmütiger und asketischer Almosenpfleger namens François de Paris war 1727 gestorben und hatte sich im Testament als geheimen Jansenisten bekannt. Er wurde auf dem kleinen Pariser St. Medardus-Friedhof begraben, aber später vom Papste wegen seines Bekenntnisses verleugnet. Sofort nach seinem Tode begannen suggestive Wunderheilungen von oft zwanzigjährigen hysterischen Lähmungen und sonstigen hysterischen Symptomen. Das erregte das größte Aufsehen, eine Völkerwanderung auf den Friedhof begann und bald waren dort hysterische Krämpfe und Extasen an der Tagesordnung. Bald kam eine ganze Tanzseuche auf nach Art des »großen Veitstanzes«.

Seite 252Männer und Frauen hüpften unter allen möglichen Verdrehungen umher, die Frauen besonders liebten es ohne Rücksicht auf das Schamgefühl, auf dem Kopf zu tanzen. Alles wirbelte durcheinander, man verschlang Kieselsteine und glühende Kohlen, Frauen ließen sich von Männern den aufgetriebenen Leib eindrücken (vgl. Kultur-Kuriosa I, S. 178f.) usw. Besonders auffällig war ein hinkender Abbé, der auf dem Grabmal selbst stehend, als Virtuosenstück den »Karpfensprung« unermüdlich ausführte und behauptete, daß dadurch sein kurzes Bein sich verlängere. In dem allgemeinen Tanze hörte man ein »Seufzen, Heulen, Deklamieren, Prophezeien und Miauen«.

Als der Unfug zu stark wurde, ließ König Ludwig XV. den Kirchhof schließen und den Eingang bewachen, woher das witzige Epigramm stammt:

De par le roi défense à Dieu
De faire miracles en ce lieu.

Statt nun dadurch ein Aufhören der Seuche zu erzielen, brach sie im Gegenteil jetzt allenthalben in mitten von Paris aus. Man sah die Konvulsionäre in den Höfen und auf den Straßen, bis man sie einsperrte, was in wenig Tagen 60 Geistliche ereilte.

Hierauf trat eine neue Form der merkwürdigen Seuche auf, indem die Askese überhand nahm. Einige ältere Männer fasteten bis zu 40 Tagen, davon 18 Tage absolut. Einer hatte sich einen Drehkrampf angewöhnt. Auf dem einen Absatz drehte er sich während 11/2-2 Stunden täglich blitzschnell herum — bis zu 60 Touren in der Minute — und las dabei noch laut aus einem Erbauungsbuche. Eine Frau ließ sich über Seite 253offenem Feuer einige Minuten rösten, andere saugten die übelriechenden gangränösen Geschwüre aus. Dann gab es wieder alle erdenklichen Konvulsionen: Emporschnellen aus liegender Position, Krähen wie Hähne, Bellen wie Hunde, unanständige Purzelbäume, auch Visionen, Prophezeiungen und Wunderheilungen durch Händeauflegen kamen vor.

Die extravagantesten Formen nahm die Seuche gegen ihren Schluß an. Da gab es sogenannte »Secours«, die die Frauen angeblich zur Erleichterung mit sich vornehmen ließen und die darin bestanden, daß der Leib mit Latten, bis zu 3000 mal, geschlagen wurde, daß der Kopf in einer starken Schlinge eingeschnürt wurde, die mehrere Männer zogen. Man warf ferner Personen in Tüchern in die Höhe, ließ Kopf und Beine auseinander ziehen usw. usw. Und zwar nahmen jeweils mehrere Männer zugleich diese Prozeduren an den Mädchen, ihren bizarren Wünschen folgend, vor[10].

Nunmehr entstand eine Manie, sich kreuzigen zu lassen. Unter der geistlichen Führung eines Herren De la Barre wurden vier Närrinnen derart suggeriert, daß sie sich jeweils am Karfreitag vor einem gewählten Publikum ans Kreuz schlagen ließen, wo sie eine Stunde und darüber blieben. Dann zog man die Nägel heraus und die Wunden hatten Zeit bis zur nächsten Prozedur zu verheilen. Das wichtigste Suggestivmittel waren auch die oben schon kurz erwähnten »Secours«. Sie bestanden in gewaltsamen Zerrungen des Körpers, Fausthieben auf die Brust, taktmäßigem Dreschen des Kopfes mit den Fäusten (faire le moulinet), das von vier bis fünf Personen Seite 254an der Konvulsionärin vorgenommen wurde, Pressen von Kopf und Bauch usw. Herr de la Barre ließ seine Opfer auch mit Holzklötzen auf die Brust schlagen und behauptete, daß sie dadurch nicht verletzt wurden, um anzudeuten, daß auch die Kirche aus allen Verfolgungen unberührt hervorgehe. Barre erzählte einem Augenzeugen von den Kreuzigungen: »Gott befiehlt zuweilen zwei oder drei derselben (nämlich der Ekstatikerinnen), eine zu Füßen der anderen zu kreuzigen. Man kann nicht umhin, davon gerührt zu werden, denn es gewährt einen wirklich recht hübschen Anblick

Aus dieser Äußerung geht sehr klar hervor, daß es dem geistlichen Herren weniger um eine fromme Handlung, als um Befriedigung einer perversen Wollust zu tun war. Seine Opfer aber handelten aus reiner Dummheit.

Eine andere Gruppe von Närrinnen stand unter Geistlichen, deren Anführer ein P. Cottu war. Sie wurden für die Kreuzigung am Karfreitag ebenfalls durch »secours« präpariert, außerdem versuchte man die von den Nägeln zu durchbohrenden Stellen durch Waschen mit dem Wasser vom Grabe des heiligen Paris unempfindlich zu machen. Merkwürdig ist, daß die Gekreuzigten angaben, keinen Schmerz zu empfinden. Die soeur Françoise starb 1760, wie es scheint wesentlich infolge der erlittenen »secours«. Auf dem Sterbebett wollte der Pater Cottu ihr noch mit einigen secours-Hieben zu Hilfe kommen. Der anwesende Arzt hinderte ihn daran. Eine Viertelstunde später war sie eine Leiche[11].

Noch im Jahre 1823 trug sich etwas Ähnliches Seite 255in Wildensbuch, einem kleinen Weiler im Norden des Kantons Zürich zu. Die Hauptheldin war Margarete Peter von Wildensbuch, ein junges Bauernmädchen. Sie verstand es, ihrer Umgebung ihre religiösen Phantasien einzuflößen und führte mit ihnen, bewaffnet mit allen möglichen Instrumenten, Kämpfe gegen den Teufel und Dämonen auf. Als »heilige Gret« verehrten sie die Landleute, wiewohl ihrem Seelenbunde mit einem ähnlich veranlagten Schuster ein Kindlein entsprossen war.

Nach mancherlei tumultuarischen Szenen eröffnete Margarete am 15. März 1823 den Ihrigen: Wenn Christus siegen und der Satan völlig überwunden werden müsse, dann sei es notwendig, daß Blut fließe. Zudem habe Gott ihr in der letzten Nacht große Dinge offenbart, die heute zustande kommen müßten. Sie habe sich für viele Seelen verbürgt, besonders für die ihres Vaters und ihres Bruders Kaspar. Niemand dürfe sich jetzt weigern, sein Leben für Christus zu lassen.

Sie ließ nun in ihre Kammer ihre Anhänger und Anhängerinnen kommen, zwölf an der Zahl, und das widerliche Schauspiel begann.

Zunächst machte sie der Umgebung klar, daß nunmehr Blut fließen müsse, damit viele tausend Seelen gerettet würden. Sie befahl allen, sich auf Brust und Stirn zu schlagen, damit dem Teufel die Gewalt über sie genommen würde. Dann versetzte sie ihrem Bruder Kaspar mit einem eisernen Keile so heftige Hiebe auf Kopf und Brust, daß er ohnmächtig zu werden begann. Es fiel dem Dummkopf aber keineswegs ein, sich zu wehren. Während sie losschlug, rief sie: Seite 256»Sehet, wie der Teufel die Hörner aus dem Kopfe des Kaspar hervordrängen will, — sehet, wie sie aus der Brust herauskommen!« Und die fromme Gemeinde sah es auch wirklich!

Sie ließ dann von ihrem übel zugerichteten Bruder ab, und behandelte andere mit einem hölzernen Hammer. Das war aber nicht ausreichend. Auf ihre Frage, ob die Anwesenden für die armen Seelen sterben wollten, erhielt sie ein einstimmiges »Ja« zur Antwort. Sie begnügte sich aber vorerst mit ihrer Schwester Elisabetha.

Diese schlug sich zunächst selbst mit einem hölzernen Schlägel auf den Kopf, dann legte sie sich quer über das Bett und forderte Margarete auf, sie sofort totzuschlagen. Sie wurde dann auch erschlagen, nachdem die »heilige Gret« versprochen hatte, sie am dritten Tage wieder auferstehen zu lassen. Sie ließ sich ohne einen Laut des Schmerzes mit einem eisernen Keil den Kopf zerschmettern und sagte noch unter den Todesstreichen: »Ich lasse mein Leben für Christus.«

Grausiger war das Ende der »Heiligen« selbst. Neben der Leiche ihrer Schwester auf dem Bette sitzend, schlug sie sich den Kopf blutig und befahl ihrer Anhängerin Kündig, die auch beim Tode der Schwester mitgewirkt hatte, ihr noch weitere Wunden beizubringen, denn »Christus in ihr habe gegen seinen Vater für so viele tausend Seelen Bürgschaft versprochen; erst jetzt müsse noch mehr Blut fließen; sie müsse sterben und sich selbst opfern.« »Schlag zu, Gott stärke deinen Arm!« rief sie der zögernden Freundin zu. Sie ließ sich dann, ohne die geringste Äußerung von Schmerz, von der Kündig mit einem Seite 257Schermesser einen Kreisschnitt um den Hals und einen Kreuzschnitt auf die Stirne machen.

Hierauf mußte die Kündig auf ihren Befehl, damit die Seelen erlöst und der Satan überwunden werde, die Kreuzigung an ihr vornehmen. Sie legte sich auf Holzstücke und ließ sich von der Freundin, die sie mit »Gott stärke deinen Arm« und der Verheißung nicht nur die tote Schwester aufzuerwecken, sondern auch selbst nach drei Tagen wieder aufzuerstehen, anfeuerte, Nägel durch Füße und Hände, durch jedes Ellbogengelenk und durch die beiden Brüste schlagen. Eine andere Närrin half dabei. Während der Kreuzigung rief sie unaufhörlich: »Gott stärke deinen Arm! Ich fühle keinen Schmerz! Es ist mir unaussprechlich wohl! Sei du nur stark, damit Christus überwinde.«

Als sie nun, ohne jegliche Schmerzäußerung, gekreuzigt war, forderte sie, man solle ihr einen Nagel ins Herz schlagen, oder ihr den Kopf spalten. Die Kündig versuchte ihr demgemäß ein Messer in den Kopf zu treiben. Da es sich krümmte und sie gleich darauf begehrte, man solle ihr den Kopf einschlagen, taten es die Kündig und ein weiterer Anhänger mit einem Stemmeisen[12].

Wenige Jahre vorher, 1817, war in dem österreichischen Dorfe Ampfelwang etwas Ähnliches iert. Veranlaßt war die fanatische Bewegung durch den dortigen katholischen Pfarrer Pöschl, der die Köpfe seiner Gemeinde mit närrischen Ideen von einer nahen Judenbekehrung, dem bevorstehenden Ende der Welt und ähnlichem füllte. Da er durch die Regierung versetzt wurde, sah sich die Gemeinde, Seite 258in der dieser Blödsinn Wurzel gefaßt hatte, gezwungen, sich ein neues Haupt zu geben. Sie wählte sich also den Bauern Joseph Haas, einen leidenschaftlichen Anhänger Pöschls, zum geistlichen Führer. Dieser gewann in Kürze die ganze Gemeinde mit Ausnahme einer einzigen Familie für seine Ideen.

Die Pöschelianer waren sich bald darüber klar, daß in dieser Familie der Antichrist stecken müßte, weigerte sie sich doch den gemeinschaftlichen Andachtsübungen beizuwohnen. Daß man sie deshalb umbringen mußte, war selbstverständlich und es geschah auch unter dem Zauberworte »der Herr will es«.

Doch man sann auf neue fromme Taten, wozu gerade die Karwoche die beste Gelegenheit bot. Die Frage wurde aufgeworfen, ob Gott, da ihm doch der für die Brüder erfolgte Tod Christi angenehm war, wohl auch Gefallen daran finden würde, wenn ein Mitglied der Gemeinde für die andern Brüder und Schwestern den Opfertod erlitte. Natürlich bejahte man sie und beschloß durch das Los eines der Gemeindemitglieder als Opfer zu bestimmen. Da zuerst der Führer Haas gezogen wurde, man ihn aber für unentbehrlich hielt, warf man das Los zum zweiten Male mit dem Erfolg, daß es auf ein 17- bis 18jähriges Mädchen fiel. Es jubelte laut über die Gnade, für die Brüder und Schwestern wie Christus sterben zu dürfen, nur bat sie, ihr auch die Martern Christi zuzufügen. Man schneidet ihr den Kopf bis aufs Gehirn auf, als sie aber, bisher jubelnd, nun zu wimmern begann, wurde sie völlig erschlagen. Nun erwartete ihre Gemeinde betend Seite 259ihre Auferstehung gleich der Christi, da sie doch wie dieser gestorben war. Vorher schnitt man ihr noch das Herz auf, um darin mystische Figuren zu finden. Während die Gläubigen die Auferstehung erwarteten, wurden sie verhaftet[13].


Zu den grausigsten Äußerungen der Dummheit gehört wohl unzweifelhaft in neuerer Zeit die russische Sekte der Skopzen, d. h. der Selbstverstümmler. Sie zählt mehrere tausend Anhänger, meistens aus dem niederen Volke, besonders Soldaten, aber auch sehr reiche Kaufleute, die große Geldsummen dafür, früher namentlich zur Bestechung der Obrigkeit, hingeben. Sie berufen sich für ihren Wahnwitz auf zwei Bibelstellen (Matth. 19, 12 und Luk. 23, 29), wiewohl in der ersteren nur von Verschnittenen die Rede ist, ohne jede Nutzanwendung, es in der zweiten aber heißt: »Die Zeit wird kommen, wo man sagen wird: selig sind die Unfruchtbaren, die Leiber, die nicht geboren, die Brüste, die nicht gesäugt haben.« Das ist aber völlig genügend, und vielleicht noch weniger wäre es, denn die Dummheit stellt sehr bescheidene Ansprüche an das Material, aus dem sie ihre Schlüsse zieht.

Die eigentliche Lehre der Sekte nimmt an, daß der Sündenfall Adams die geschlechtliche Vermischung gewesen sei, denn die Menschen sollten sich nur durch »heilige Küsse« fortpflanzen. Aus dieser ersten Sünde seien alle übrigen gekommen und die Welt sei jetzt sehr verderbt. Die Hauptlehre Christi, die Erlösung, bestehe aber in nichts anderem, als der Seite 260»Feuertaufe«, d. h. der Entmannung durch glühendes Eisen. Diese, jetzt durchs Messer ausgeführt, besteht entweder in vollständiger Entfernung oder in Kastration, das »große und kleine Siegel«. Damit verbinden sich chiliastische Ideen. Im Anfange des 19. Jahrhunderts war ein gewöhnlicher Bauer Seliwanoff der inkarnierte Christus und auch zugleich der Zar Peter III., der nicht wirklich getötet worden sein soll. Dagegen ist der herrschende Zar der Antichrist. Ferner fordern die Skopzen geheime Versammlungen, in denen wildes Tanzen und Singen, inspiriertes, sinnloses Predigen und wohl auch wirklich ekstatische Zustände die Hauptsache sind. Die Neubekehrten werden dabei in narkotischen Schlaf versetzt und dann entmannt, die Weiber verschneiden ihre Brüste. Geschlechtlicher Verkehr ist die größte Sünde. Deshalb fluchen die Skopzen ihren eigenen Eltern. Trotz aller Verfolgungen besteht die Sekte noch heute.

Eine sicherlich nicht minder furchtbare Sekte, wie die Skopzen, ist in Rußland die der Teufelsanbeter, die dem Satan Opfer darbieten. Ferner gibt es in Sibirien die Morelschiki, die es für ihre Pflicht halten, sich »Gott ganz darzubieten« und sich in ganzen Scharen gegenseitig niederstechen und verbrennen. Das taten im Jahre 1868 auf dem Gute eines Herrn von Gurieff an der Wolga 47 Männer und Frauen gleichzeitig. Um 1870 sollen hundert, ja Hunderte auf diese Weise zugleich gestorben sein.

Die Geißlersekte der Chlysten, die stündlich den Weltuntergang erwartet, sowie das Reich des Seite 261Antichrist, gerät unter wilden Tänzen und Sängen in eine ekstatische Wut, wobei sie sich nicht nur selbst furchtbar mißhandeln und durchpeitschen, sondern im Jahre 1869 sich einmal auf die harmlosen Zuschauer stürzten und einige totprügelten.

Im Gouvernement Kiew bei Tiraspol weihten sich 25 Sektierer, beinahe alle Bewohner eines Gehöftes, freiwillig dem Opfertod, indem sie sich auf Anstiften einer Frau den Tod durch Einmauernlassen und Verhungern gaben[14].

Noch am Ende des 19. Jahrhunderts bestand in unserem so gesitteten und aufgeklärten Europa, nämlich in Appelteren bei Amsterdam eine Sekte, die mehrfach zu religiösen Zwecken geheime Morde begangen haben soll. Gerichtlich konnten etwa 40 Mitglieder ermittelt werden. Sicher ist, daß der Knecht Brinkman, in Diensten bei einem Bauern Scherf, bei einer »Teufelsaustreibung« ums Leben kam. Man sprach bei einer Versammlung dieser ultraorthodoxen Protestanten im Hause Scherfs die Überzeugung aus, der Teufel sei im Hause und habe speziell von Brinkman Besitz ergriffen. Zunächst soll Scherf nach dem Beispiel Abrahams seine eigenen 5 Kinder als Opfer angeboten haben. Da man sie aber nicht im Hause fand, so ging man um 1 Uhr nachts, sofort nach Schluß der Sitzung, zu Brinkman, den man aus dem Schlafe weckte. Scherf begann die Teufelsbeschwörung, worauf der Knecht mit Stangen und Stöcken von allen totgeschlagen wurde. Am nächsten Tage richtete man für die »Brüder und Schwestern« ein festliches Mahl her und sang dabei zahlreiche religiöse Lieder. Bei der Seite 262bald folgenden Verhaftung gab der Gemeindevorsteher Spiering an, er habe die feste Absicht gehabt, auch noch eines seiner Kinder zu opfern[15].

Wer an den heute noch in der protestantischen theologischen Literatur spukenden Teufelsglauben sich erinnert, wird sich nicht im mindesten darüber wundern, daß Bauern das praktisch üben, was ihre Seelenhirten theoretisch begründen.

Es läßt sich ja überhaupt nicht in Abrede stellen, daß alle diese Massendummheiten auf kirchliche oder biblische Einflüsse zurückgehen. Entweder wird eine kirchliche theoretische Forderung praktisch und im großen Stile geübt, wie wir es bei den verschiedenen Formen der Askese sahen. Oder es wird ein Beispiel aus der Geschichte unserer Religion nachgeahmt, wie etwa die Kreuzigung Christi, oder aber eine in den Evangelien enthaltene, oder auch nur angedeutete Lehre wird weiter entwickelt. Dahin gehört der kirchlich — vom Katholizismus so gut wie vom Protestantismus — sanktionierte und in ein System gebrachte Hexen- und Teufelsglaube. Oder man beruft sich, wie etwa die Skopzen, auf teils mißverstandene, teils isoliert betrachtete und ganz einseitig, monomanisch, zur Lebensrichtschnur gemachte Bibelstellen. Schließlich können die Skopzen sich mit dem gleichen dogmatischen Recht auf ein Bibelwort hin verstümmeln, wie das Papsttum auf ein anderes, seine Macht des Bindens und Lösens aufbaut.

Es ist eben immer eine ungeheure Dummheit sich irgendeinem Ausspruch, irgendeiner Autorität mit Kadavergehorsam Seite 263zu unterwerfen, auf Buchstaben und Worte zu schwören. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß es nicht auch sehr klug sein kann, sich die Weisheit und Lebenserfahrung anderer zunutze zu machen. Aber maßgebend soll eben doch stets die Art der Interpretation, die Kritik, die Beurteilung des Falles, kurz der eigene gesunde Menschenverstand bleiben.


Ein anderer religiöser Gedanke, der auch auf die Bibel zurückgeht, ist der des tausendjährigen Reiches. Ja, für die Wiederkehr Christi können sich Gläubige sogar auf seine eigenen Worte berufen. Da ist es nur natürlich, wenn sie für ihr Leben die Konsequenzen daraus ziehen. Die Dummheit besteht eben auch hier wieder in der willenlosen Unterordnung unter eine fremde Autorität. Aber auch diese Willenlosigkeit, dieser freiwillige Verzicht auf Kritik, ist von den Kirchen mit Feuer und Schwert gezüchtet worden, wie die Geschichte der Glaubensverfolgungen lehrt. Ist aber einmal das eigene Urteil zum Schweigen gebracht, ist der Fromme gezwungen mancherlei, was Vernunft und Erfahrung widerspricht, unter dem Drucke kirchlicher Autorität bedingungslos zu glauben, dann ist der Geist für die gläubige Hinnahme jeder Ungeheuerlichkeit entsprechend präpariert.

Übrigens hat die gewissenhafte Befolgung des »Wachet und betet« auch manches Gute im Gefolge und die Verirrungen der Chiliasten sind im Vergleich mit jenen, die wir oben kennen lernten, recht harmloser Natur.

Seite 264Einer solchen Form der Narretei huldigt eine Sekte in Amerika, die sich Shaker nennt und Mitte vorigen Jahrhunderts etwa 4000 Mitglieder zählte. Auch sie sind Chiliasten, unterscheiden sich aber nicht unwesentlich von zahlreichen Glaubensgenossenschaften, die gleichfalls an die Wiederkehr des Messias glauben, dadurch, daß sie vom bereits erfolgten Eintritt dieses Zustandes fest überzeugt sind. Und zwar war es ein weiblicher Messias, namens Ann Lee, in der die Wiederverkörperung Christi zu erblicken ist. Diese Ann Lee, die zu Bolton in Lancashire 1758 einer kleinen Gemeinde von Mystikern beitrat und durch mancherlei Verfolgungen sich genötigt sah, im Jahre 1772 nach Amerika auszuwandern, ist als »Schwester und Braut Christi« die einzige Heilige, die die Shaker verehren.

Die Lehre ist sehr einfach: Im Jahre 452 begann mit der Begründung der päpstlichen Macht das Reich des Antichrists, das nach der Offenbarung Johannis dem zweiten irdischen Auftreten des Heilandes vorangehen soll. Seit der Reformation, die den »großen Drachen« nicht tötete, sondern nur in zwei Teile zerriß, nahm dieses Reich allmählich wieder ab. Während dieser Herrschaft des Antichrists war der göttliche Geist Christi in den Himmel zurückgekehrt, um dort seine »Wiederkunft in und mit der heiligen Braut, welche die Tochter der ewigen Weisheit ist«, vorzubereiten. Anno 1747 ließ er sich auf Ann Lee herab, um durch eine zweite Erlösung der Menschheit sein tausendjähriges Reich zu gründen, in dem die Sünde keine Stätte hat.

Die friedliche, arbeitsame und überhaupt brave Seite 265Gemeinde scheut vor allem jeden geschlechtlichen Verkehr. Gott feiert sie durch tägliche Tänze, nach flotten Melodien. Warum sollten allein die Beine den Schöpfer nicht loben dürfen[16]?

Schlimmer war die Millermanie in Amerika, die verursacht wurde durch die Prophezeiungen eines gewissen William Miller (geb. 1772, † 1849) aus dem Staate Neu-York. Seit dem Jahre 1831 kündigte er das Erscheinen des Herrn am Himmel an, sowie das Ende aller Dinge für den März 1843. In Neu-York, Maine, Massachusetts und anderwärts scharten sich Leute, denen er seine Wahnideen zu suggerieren verstand, um ihn. Als Adventisten, wie sie sich im Glauben an die Wiederkehr Christi in sichtbarer Gestalt nannten, verloren sie alles Interesse an irdischen Dingen. Sie gaben ihre Geschäfte auf, überließen zum Teil ihre Familien dem Elend, um in Versammlungen zu beten und zu predigen und sich auf diese Weise für den großen Tag vorzubereiten. Als dieser aber nicht eintraf, tröstete man sich mit der Annahme, daß die Berechnung des Datums falsch sei und die Prophezeiung sich am 22. November 1844 nach jüdischem Kalender erfüllen müsse.

Manche Anhänger der Millersekte verfielen infolge der andauernden religiösen Exaltation in unheilbare Geisteskrankheit, wähnten sich im Himmel oder verzichteten auf Nahrung, weil sie nurnoch die Kost der Engel benötigten. Als nun auch das zweite Datum sich als falsch herausstellte, genügte selbst diese Enttäuschung nicht, die Adventisten von ihrer Torheit zu heilen. Vielmehr war die einzig bedeutsame Folge lediglich die, daß die Anhängerschaft Seite 266sich in mehrere Sekten spaltete. Noch heute gibt es in Amerika gegen 65000 solcher sonderbarer Heiliger, während die europäische Generalkonferenz im Jahre 1901 mit Stolz auf eine Gemeinde von 7700 Seelen blicken konnte[17].

Eine ebenbürtige Sekte gründete der gänzlich ungebildete Rademacher Kondrat Maljòwanni in Südrußland. Die Eltern dieses Analphabeten waren Potatoren und er selbst bis zum 40. Lebensjahre dem Trunk ergeben. Trotz oder wegen aller dieser Umstände gelang es ihm in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine große und begeisterte Gemeinde um sich zu versammeln. Auch er predigte den nahen Weltuntergang und verstand es denen, die nicht alle werden, klarzumachen, daß dieses Ereignis auf ihr Schicksal von günstigem Einfluß sei. Sie gaben ihre Arbeit auf und verkauften oder verschenkten ihr Eigentum.

Bei den gemeinsamen Andachtsübungen der Maljòwannisten kommt es unter den Versammelten häufig zu hysterischen Anfällen. »Unter allgemeinem Lärm, Geschrei und Durcheinander sieht man die einen hinstürzen wie vom Blitze getroffen, andere entzückt oder kläglich schreien, weinen, springen, in die Hände klatschen, sich selbst gegen die Stirn oder vor die Brust schlagen, an den Haaren reißen, mit den Füßen stampfen, tanzen, alle möglichen Töne und Rufe von sich geben, entsprechend den verschiedenen Emotionszuständen wie Freude, Glück, Verzweiflung, Furcht, Entsetzen, Erstaunen, Andacht, dem Ausdrucke psychischen Schmerzes, der Geruchs- oder Geschmackswahrnehmung usw. Noch andere ahmen Seite 267Hundegebell, Pferdewiehern und sonstige Tiere nach[18]

Besonders merkwürdig war bei dieser Erscheinung, daß Maljòwanni es verstand, bei seinen Anhängern fast genau dieselben Wahnideen hervorzurufen, die ihn selbst erfüllten. Er suggerierte zunächst Personen aus seiner Umgebung, die eine gewisse Neigung zu religiöser Exaltation besaßen, seine Wahnideen, und diese sorgten dann ihrerseits für deren Weiterverbreitung. Diese psychopathische Epidemie nahm schließlich einen so bedrohlichen Umfang an, daß nur durch die Einmischung der russischen Regierung Einhalt getan werden konnte.

Eine ganz analoge Bewegung haben wir im Lazarettismus zu sehen.

Er ist als Erscheinung deshalb so interessant, weil er beweist, daß noch heute, genau wie vor Jahrtausenden, ein religiöser Fanatiker sein Publikum findet. Die Bewegung gewinnt an Bedeutung, wenn man berücksichtigt, mit welcher Energie die katholische Kirche Sonderbestrebungen zu bekämpfen weiß und nicht minder durch ihr Auftreten auf dem uralten Kulturboden Italiens.

Der Vater der zu betrachtenden Sekte war David Lazaretti, 1834 in Arcidosso geboren, seines Zeichens Karrenführer (barocciaio). Er stammte aus einer Familie, in der religiöser Wahnsinn vorgekommen war, besaß Intelligenz und war ein schöner, stattlicher Mann. Auf eine Erscheinung der Madonna im Jahre 1866 hin, brachte er einige Monate bei einem Einsiedler in Montorio Romano zu. Das Resultat dieser frommen Zurückgezogenheit war ein Stigma an der Seite 268Stirn, bestehend in dem von Strahlen und Dornen umgebenen Herzen Jesu. War er auch nicht gerade auf sehr wunderbare Weise zu diesem Zeichen gekommen — er hatte es durch Glüheisen und Tätowierung hervorgerufen — so läßt sich denken, daß es im gegebenen Moment seine Wirkung nicht verfehlte.

Aus dem früheren Trinker und Flucher wurde durch religiöse Halluzinationen ein Asket und Schwärmer, der zum Volke predigte und durch Prophezeiungen, Versprechungen und Drohungen auf die ländliche Bevölkerung großen Einfluß zu gewinnen verstand. So konnte er, gefördert durch großes Selbstgefühl, zunächst die »Gesellschaft der christlichen Familien«, die 80 Familien umfaßte, aus der Bevölkerung von Monte Amiata gründen. Die Kolonie lebte unter Führung ihres Propheten, für den sie sogar Frondienste tat, um ihn der profanen Feldarbeit zu entheben, mehrere Jahre lang in genossenschaftlichem Kommunismus.

Lazaretti begnügte sich nicht damit, immer geheimnisvoller zu prophezeien und heftig auf alle Andersgläubigen, besonders die Protestanten, zu fluchen, sondern ordnete auf dem Monte Labbro, den er sich zum Sitze seines geistlichen Fürstentums erkor, den Bau eines Turmes an. Seine Gemeinde widmete sich dieser Arbeit mit Feuereifer, vom frühen Morgen bis zum späten Abend in Wind und glühender Sonne Steine tragend. Übrigens wurde der Turm nicht vollendet.

Der religiöse Wahnsinn zeigte bei Lazaretti immer groteskere Formen. Er schrieb an den König von Italien, an die Fürsten der Christenheit, umgab sich Seite 269mit »Aposteln« und suchte in Äußerlichkeiten, so weit es eben ging, Christus nachzuahmen. So hatte er seinem Apostel Petrus als Symbol seines Amtes zwei Schlüssel aus Pappdeckel kreuzweise auf die Brust geheftet.

Für den 18. August 1878 hatte Lazaretti ein Erdbeben vorherverkündet, das alle, die nicht an ihn glaubten, verschlingen würde. Natürlich sah seine Gemeinde mit Furcht und Hoffnung diesem Tage entgegen, hatte er doch versprochen, sich um Mitternacht ihr in anderer Gestalt zu zeigen. Immerhin war auch seine jetzige Erscheinung, wenigstens in seinen und der Gläubigen Augen, ganz respektabel, denn er beanspruchte »Symbol der neuen Reform des heiligen Geistes« zu sein.

Die Tragödie — oder sollte es keine sein, wenn wir viele Hunderte von Menschen einem Wahnsinnigen folgen sehen? — ging ihrer Katastrophe entgegen. Sprach er von sich als »Anführer und Richter Christus in der wahren und lebendigen Gestalt der Wiederkunft unseres Herrn Jesu Christi in diese Welt«, so war das natürlich Irrwahn. Recht aber sollte er mit seiner düsteren Prophezeiung erhalten, er sei das »Opfer, das für die Erlösung der Welt hingeschlachtet werden mußte«.

Für die Mitte des August 1878 bereitete Lazaretti einen großartigen Auszug vom Monte Labbro vor. Die Tage vom 14.-18. August wurden mit Gebet, Predigt und Gottesdienst zugebracht und in ungezählten Tausenden war die Umgebung herbeigeströmt, harrend der Dinge, die da kommen sollten. Am Morgen des 18. August kam Lazaretti in die Kirche, Seite 270das rote Futter seines Mantels nach außen. Mit leiser und feierlicher Stimme sagte er: »Dies ist ein Blutzeichen. Mein Blut, das Blut des neuen Abel wird, ihr werdet es sehen, binnen kurzem vergossen werden und wird sich mit dem heiligen Blut, das dort in jenem Kelch ist, vermischen«. Als er an der Spitze des grotesken Zuges aufbrach, trat ihm die Behörde mit der Aufforderung, sich zurückzuziehen, entgegen. Er leistete keine Folge. Ein Steinhagel überschüttete die Beamten und Karabinieri. Sie gaben Feuer. Als eines der ersten Opfer fiel der Prophet.

Noch 1883 gab es Leute, die an die Wiederkunft des »heiligen David« glaubten[19].

Einwohner des Ortes Korano bei Neapel sahen noch im Cholerajahr 1885 auf einem benachbarten Hügel, auf dem eine Kapelle stand, die Madonna in schwarze Gewänder gehüllt, für die Errettung der Menschheit betend. Die Kunde von diesem Ereignis zog alsbald solche Menschenmassen nach Korano, daß sich die italienische Regierung veranlaßt sah, zur Verhütung weiterer Ausbreitung der Halluzinationsepidemie den Hügel polizeilich abzusperren, und die Kapelle zu beseitigen. Natürlich könnte sich jeden Tag wieder etwas Ähnliches ereignen[20].


Daß die Dummheit auch in den gebildeten Kreisen Masseninfektionen ermöglicht, lehrt die Geschichte der »Königsberger Mucker«.

In den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts erregte in Königsberg, ausgerechnet in Königsberg, der Stadt Kants, eine Sekte berechtigtes Aufsehen. Seite 271Zwei Geistliche, der Archidiakon Ebel von der Altstädter Kirche, und der Prediger Diestel von der Haberger Kirche hatten sie ins Leben gerufen, und zwar ausschließlich aus den höchsten Gesellschaftsschichten. Grafen und Barone, Gräfinnen und Geheimrätinnen, Offiziere und ein jüdischer Professor hatten sich zu Ebels Gemeinde die Bruderhand gereicht, und tatsächlich hatte dieser dafür Sorge getragen, daß man auf seine Kosten kam.

Das Zeremoniell interessiert uns am meisten, denn die Lehre war schließlich auch nicht viel dümmer, als manche offiziell vertretene, und wenn sich Ebel als »des Menschen Sohn« feiern ließ, so will das alles noch gar nichts besagen gegen die Art, in der dies geschah.

Es handelte sich natürlich um eine Geheimlehre. Da war vor allem die Rangordnung wichtig, die Ebel in seinem Reiche einführte. Hinter ihm, als Spitze, folgten drei Frauen, die Gräfin v. d. G. als Ebels erste Frau im Geiste als »Lichtnatur«, Emilie v. S. als seine zweite Frau im Geiste in der Eigenschaft als »Finsternisnatur« und endlich seine angetraute Gattin als dritte Frau im Geist. Sie repräsentierte die »Umfassung«. In psychischer und physischer Hinsicht stand sie dem heiligen Ebel weit weniger nah, als seine vornehmen und schönen Seelenbräute. Auf diese drei Frauen folgte dann in genauer Rangordnung die übrige fromme Gemeinde.

Wo so viel vom Geist die Rede ist, darf natürlich der Körper nicht darben. Und daß er das nicht tat, dafür hatte Ebel in bewundernswerter Weise gesorgt. Da war zunächst die Beichte.

Seite 272Die Angehörigen der engeren Gemeinde hatten von Zeit zu Zeit zu beichten, und zwar nicht etwa Ebel selbst, sondern den drei »Frauen im Geiste«. Worauf es hier besonders ankam, waren natürlich geschlechtliche Sünden mit inbegriffen die einfache Gedankenunzucht. »Je überströmender man in dieser Hinsicht war, je empörenderer Ausdrücke man sich bediente,« so erzählt Professor Sachs als Eingeweihter, »desto höher wurde man gestellt, desto mehr als im wahren Ernst der Heilung stehend, wurde man betrachtet. Schien das Bekannte nicht wichtig, d. h. nicht arg genug, so erregte das Unzufriedenheit und wurde ein Festhalten am Argen, ein Unterhandeln mit dem Teufel, Lauheit, ärger als kalt und warm genannt, und nun begann das heftigste und andringlichste Pressen auf andere und geschärftere Bekenntnisse. Kamen solche hervor, so wurde Gott gepriesen, der das Herz eines Verstockten erweicht hatte.«

Im Zeremoniell der Ebelschen Mysterien spielte der »Seraphinenkuß« eine große Rolle. Er bestand darin, daß sich die Gläubigen verschiedenen Geschlechts mit den Zungenspitzen berührten.

Doch gab es noch eine weit vollkommenere Methode zur stufenweisen Läuterung und fortschreitenden Heiligung der Mitglieder dieser frommen Gemeinde. Im wesentlichen bestand diese heilige Prozedur darin, daß in den Versammlungen Frauen irgendwelche, für gewöhnlich dem männlichen Anblick entzogene Teile ihres Körpers entblößten. Die Männer hatten dabei die ihnen sicherlich nicht wenig sauer fallende Aufgabe, die ganze Herrlichkeit Seite 273ohne Empfindung von Sinnenlust zu betrachten. Da das natürlich nicht so einfach war, wurde eifrig geübt. Übrigens hat auch diese Art der Abtötung, wie wir an anderer Stelle ausführten, in der von der Kirche gebilligten »Askese« ihr Vorbild.

Die Erfolge der Methode waren, wie ja vorauszusetzen, glänzend. Sachs schreibt darüber:

»Schon das unaufhörliche starke Küssen und Umarmen, das gang und gäbe war, die ungenierte Art der körperlichen Annäherung auch da, wo von geschlechtlichen Übungen zur Heilung keine Rede war, sondern die zur gewöhnlichen Art des Zusammenseins gehörte (denn in Gegenwart irgendeines Fremden, draußen Stehenden, trat das förmlichste und zierlichste Zeremoniell ein), schon dies konnte nicht verfehlen, jene Wirkung sinnlicher Erregung auszuüben, zumal viele der Frauen mit vielen Reizen des Äußeren, wie des Geistes ausgestattet waren. Wer etwa sagen wollte, es sei ihm hierin anders ergangen, von dem scheint es mir, daß er sich belüge oder wenigstens täusche.«

Wir brauchen nicht die Versicherung des Mediziners Sachs, der in der ganzen frommen Geschichte keine rühmliche Rolle spielte, um an der Wirkung der Übungen nicht zu zweifeln.

Ebel hatte sich selbst eine besonders schwere Form des Gottesdienstes vorbehalten: Zur Herstellung von einer Hautkrankheit besuchte er das Seebad Tenkitten bei Fischhausen, wo ihn ein Teil seiner weiblichen Gemeinde pflegte. Als ihn einst der behandelnde Arzt besuchen wollte, wie er gerade im Bade saß, bemerkte er schon von weitem, daß in dem nahe gelegenen Seite 274Damenbad gebadet wurde. Kaum hatte man von dort seine Annäherung wahrgenommen, als eine halb entkleidete Dame ihm entgegenrannte und ihn beschwor, fern zu bleiben, weil Ebel gerade von den Damen gewaschen und gebadet würde! Zehn bis zwölf jüngere und ältere Damen standen entkleidet halb im Wasser um ihren Oberpriester herum, um ihm »voll Eifer Hilfsleistungen zu tun, von denen das Schamgefühl mit Unwillen sich abwendet«.

Daß Ebel sich auf so angenehme und billige Weise mit einem Harem zu versorgen wußte, mag für seine Sittlichkeit nicht eben rühmlich sein, jedenfalls macht es aber seiner Intelligenz alle Ehre. Was aber soll man von den Damen seiner Gemeinde denken, die ohne Rücksicht auf Schamgefühl und Standesbewußtsein sich bereitwillig seinen Wünschen fügten!? Was von der Gräfin Ida v. d. G., einer jungen Witwe, die durch Geburt, Charakter und Schönheit gleich ausgezeichnet war? Und doch glaubte sie, ungeachtet ihrer hohen Bildung, in Ebel Gottes Sohn verehren zu müssen. Sie glaubte es auch noch, als das Gericht über die »Mucker von Königsberg« sein Urteil gefällt, Ebel seines Amtes entsetzt und als sittlich verworfenen Menschen gebrandmarkt hatte. Sie verließ ihn auch dann nicht und opferte ihm Stellung, Familie, Vermögen, ja pflegte ihn bis an sein Ende (1861). Und zwar darf man nicht annehmen, daß sie mit ihm im Konkubinat lebte, wenn auch eine unbewußte Erotik sie sicherlich zu dem schönen Manne hinzog. Es war pure Dummheit[21].

Ganz gewiß nicht intelligenter war die Gemeinde, Seite 275die sich um den Henry James Prince in England scharte. Er hatte seinen weiblichen Anhang so betört, daß er sich eines Tages folgendes leisten konnte: in offener Versammlung kündete er an, »in der Kraft Gottes werde er eine Jungfrau sozusagen zum Weibe nehmen, nicht mit Fürchten und Schämen an geheimer Stelle und bei verschlossenen Türen, sondern offen im Lichte des Tages und in Gegenwart aller Heiligen beiderlei Geschlechtes. Gottes Wille sei es, daß er sie nehme und er werde niemanden fragen, am wenigsten die Erwählte selbst. Welche er nehmen würde, sagte er nicht. Die Jungfrauen sollten sich also bereit halten, da niemand wissen könne, wann der Bräutigam käme. Zuerst wollte er sie besiegeln mit einem Kuß, dann sie herzen und an sich halten, so daß der himmlische Geist und das Ding von Erde miteinander verwüchsen und fortan eins seien an Leib und Seele.«

Tatsächlich ierte das Unerhörte. An der von ihm gegründeten »Stätte der Liebe« (Agapemone) deflorierte er in offener Versammlung der Gläubigen ein schönes Mädchen namens Miß Paterson!

Die Folge davon war, daß allerdings einige Mitglieder der Gemeinde sich von Prince lossagten, die Mehrzahl scharte sich aber um so dichter um den Heiligen!


Übrigens hatte er in Norddeutschland einen Vorläufer gehabt in der Person des Johann Paul Philipp Rosenfeld (geb. 1731). Wiewohl aus guter Familie Seite 276stammend, trieb er sich in bettelhafter Kleidung als Vagant herum, da seine Faulheit ihn an der Ausübung eines Berufes hinderte. Da kam er auf den Gedanken, die Dummheit als unerschöpfliche Goldader auszubeuten, und er sollte glänzenden Erfolg haben. Durch geheimnisvolle Andeutungen über seine Person, Prophezeiungen, Angriffe auf Geistlichkeit, Taufe, Kirchenbesuch, weltliche Obrigkeit usw. usw. verstand er es, sich in bengalische Beleuchtung zu setzen und den Landleuten den Glauben beizubringen, er sei der wahre Messias und Gottessohn. Er stellte ihnen das ewige Leben schon auf Erden in Aussicht, doch war daran eine Bedingung geknüpft. Er erklärte, die Schlüssel zum verschlossenen Paradies zu besitzen, sowie das »Buch des Lebens, das nach der Beschreibung in der Offenbarung Johannis mit sieben Siegeln versiegelt sei. Um das Erlösungswerk zu vollenden, müsse er die Siegel öffnen und dazu müsse er sieben Jungfrauen haben«.

Seine Anhänger, höchst ehrbare, wenn auch, im Gegensatz zum Königsberger Fall, ungebildete Leute, waren gern bereit, ihm diesen bescheidenen Wunsch zu erfüllen, doch waren unter der damaligen Gemeinde in Prenzlow (Brandenburg) keine sieben Jungfrauen aufzutreiben und so mußte die Zeremonie verschoben werden.

Daß Rosenfeld im Jahre 1769 ins Irrenhaus, ein Teil seiner Gemeinde nach Spandau gebracht wurde, schürte den Glaubenseifer nur an und trug zur Vermehrung der Anhängerschaft bei. Er hatte nunmehr den Hauptsitz seiner Tätigkeit nach Biesental verlegt und bewirkt, daß die Rosenfeldianer aus friedlichen Seite 277Bürgern zu Fanatikern und Radaubrüdern geworden waren. Sie bedrohten ihren Pfarrer und veranstalteten 1770 einen förmlichen Tumult.

Rosenfeld hatte im Irrenhaus seinen Plan der Siegeleröffnung keineswegs aufgegeben. Unter seinen getreuesten Anhängern befand sich auch der Schäfer Gumto aus Mecklenburg-Schwerin. Ihm gegenüber hatte er sein Inkognito gelüftet und sich Gumto und dessen Frau als wahrer Heiland vorgestellt, dem zur Öffnung des Buches mit sieben Siegeln nur eine Kleinigkeit, nämlich die besagten sieben Jungfrauen, fehlten. Da Gumto drei Töchter hatte, so machte ihm Rosenfeld klar, daß unter den von Anbeginn der Welt zur Entsiegelung bestimmten Jungfrauen auch sie sich befänden. Würde der Schäfer sie ihm nicht ausliefern, dann würden alle Seelen über ihn »Ach« schreien.

Die Vorstellung der über ihn »Ach« schreienden Seelen machte begreiflicherweise auf den Schäfer den tiefsten Eindruck. Er wollte durch seine Weigerung nicht eine schreckliche Schuld auf sich laden und war bereit die drei Töchter auszuliefern. Aber sie waren leider noch zu jung! Doch die Zeit verging schnell und Rosenfeld befahl aus dem Irrenhaus — das man sich darnach als ein recht fideles Gefängnis vorstellen muß — dem Ehepaar Gumto, die älteste 15jährige Tochter ihm zuzuführen.

Die Frau übernahm die Überbringung und schärfte der Tochter unterwegs ein, den Befehlen des Propheten ja genau zu folgen, sonst wäre sie ewig verflucht, da sie ja schon von Geburt an zu einer der sieben Jungfrauen erkoren sei. Unterwegs Seite 278nahm man noch einen Mann und eine Frau, ebenfalls Rosenfeldianer, mit, um der bevorstehenden Zeremonie mehr Weihe zu verleihen.

»In der Dämmerung kamen die vier Personen im Irrenhaus an und wurden vom Türhüter in eine besondere Stube gewiesen. Rosenfeld, von ihrer Ankunft benachrichtigt, erschien. Er fragte das Mädchen, ob sie eine Braut Christi werden wolle? Sie antwortete: Ja! Er fuhr fort: So müsse sie auch alles tun, was er von ihr verlange. Ob sie das aufrichtig wolle? Als das Kind auch hierauf ja antwortete, legte er sie auf ein dastehendes Bett und vollzog den Beischlaf mit ihm im Angesicht der gegenwärtigen Personen, nämlich der eigenen Mutter, ihres nachmaligen Schwagers Lüdemann und einer Frau Naumann.«

Auf Grund günstiger Berichte über seine Aufführung(!) im Irrenhaus wurde Rosenfeld im März 1771 aus der Irrenanstalt entlassen und ließ sich 1775 dauernd in Berlin nieder. Hier verlangte er nun zum Erlösungswerke von seinen Anhängern die sieben Jungfrauen. Man fand das ganz selbstverständlich und außer den drei Töchtern Gumtos lieferte ihm noch der Weber Glanz aus Biesental zwei und ein anderer Anhänger, namens Meyer die beiden letzten.

Die armen Kinder behandelte er nun wie Sklavinnen, die er nach Laune rief und fortschickte und im übrigen vom Morgen bis zum Abend für ihn arbeiten ließ. Während er eine der sieben liebte und mit ihr drei Kinder erzeugte, verhütete er Nachkommenschaft bei den sechs anderen, die diesen faulen Wollüstling durch ihrer Hände Arbeit ernähren mußten. Als eine der Seite 279armen geplagten und halb verhungerten Geschöpfe aus Hunger und Kummer zu ihrer Mutter floh, genügte die Drohung Rosenfelds, wenn sie nicht zurückkehre, gehöre sie nicht zu den sieben glücklichen Jungfrauen, sondern sei ewig verdammt und verloren, um die Mutter zu veranlassen, die Tochter zur Rückkehr zu zwingen. Zwei der Jungfrauen starben, zwei Töchter Gumtos heirateten Rosenfeldianer. Niemand beschwerte sich.

Endlich im Jahre 1780 leitete Gumto eine Klage gegen Rosenfeld ein, da er seine messianischen Verheißungen nicht erfüllt habe, wiewohl der Kläger 15 Jahre sein treuer Anhänger war, ihm drei Töchter auslieferte und in Armut, Spott und Verachtung gefallen sei. Er bat Friedrich den Großen, Rosenfeld zu prüfen, ob er wirklich der rechte Messias sei. Gumto erklärte aber in der Eingabe, »daß, was an ihm sei, er sich nach der Schrift und nach der Vernunft völlig überzeugt habe, daß Rosenfeld wirklich der sei, für den er sich ausgebe, nämlich der gerechte und lebendige Gott!« Natürlich hatte der Schwindler jetzt ausgespielt und mußte mit Staupenschlag und lebenslänglicher Festungshaft seine Verfehlungen büßen[22].


Eine einfache, aber raffinierte Schuhmachersfrau namens Ulbricht gründete in einem Dorfe in der Nähe Dresdens eine religiöse Sekte, die 1887 70 Mitglieder zählte. Sie verbreitete den Grundsatz des Kommunismus und das Gebot der geschlechtlichen Abstinenz, auch bei Verheirateten. Sie gab vor Seite 280»Sendbotin Christi« zu sein, hatte öfter göttliche Inspirationen, in welchen sie mit geschlossenen Augen (die aber dann mit blauer Brille verdeckt waren), sich in einer Art länger dauernder ekstatischer Hypnose zu befinden schien und erteilte in diesem Zustande der Gemeinde detaillierte Weisungen über die Art, in der sie ihr, der Prophetin, ihr Vermögen anzuvertrauen hätten. Das geschah auch wirklich und einzelne lieferten ihr den ganzen Besitz, bis zu 30000 Mark aus. Von den Mitgliedern der Sekte reisten mehrere im Lande herum und heilten Kranke durch Händeauflegen.

Endlich wurde ein Bauer mißtrauisch, zeigte die Frau an und führte ihre Verhaftung herbei. Die Ulbricht legte ein volles Geständnis ab und bekannte, daß sie als ehemaliges spiritistisches Medium die Praktiken zur Täuschung der Bauern erlernt habe. Wegen Betruges wurde sie zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.

Merkwürdig und für die unüberwindliche Macht der Dummheit Zeugnis ablegend ist nun die Tatsache, daß sie nach ihrer Rückkehr aus der Strafhaft von der Mehrzahl ihrer Gläubigen wieder als Prophetin anerkannt wurde und daß die Sekte noch 1898, vielleicht auch heute noch, fortbestehen konnte[23].


Wohl die harmloseste Form, in der die religiöse Dummheit sich der Massen bemächtigen kann, ist die der Wut zu predigen.

In Schweden trat in den Jahren 1840 und 1841 Seite 281diese merkwürdige religiöse Volkskrankheit auf und verbreitete sich über mehrere tausend Personen. Bei jeder kleinen Aufregung begannen lokalisierte Zuckungen im Körper oder Gesicht und es folgte der unwiderstehliche Drang zu predigen, d. h. von den Visionen, die die guten Leute erfüllten, zu berichten, vor Laster, Trunk und Lüge usw. zu warnen. Das Volk nannte daher diese hystero-epileptische Seuche »Predigerkrankheit«[24].

Nach dem Vorangehenden wird niemand mehr bezweifeln, daß auch heute noch, trotz aller Aufklärung, Bildung und »Kultur« ähnliche Vorkommnisse möglich sind. Ja, vor wenigen Jahren erst, 1907, hat sich eine derartige Schwärmerbewegung gezeigt und zwar in Hessen.

In Kassel und dessen weiterer Umgebung versammelten sich religiös erregte Volksmassen, um zwei Norwegerinnen, die behaupteten, die Gabe des Zungenredens von Gott zu besitzen und vom Evangelisten Heinrich Dallmayer nach Kassel gebracht worden waren, zu lauschen. Die beiden Damen schrien zwar nur in unverständlichen Tönen und gaben vor, daß es der Geist Gottes sei, der aus ihnen rede. Das genügte aber der frommen Gemeinde, die sich zuerst im »Blauen Kreuz« zusammenfand, vollständig als Befähigungsnachweis. Man feierte sie also als Prophetinnen. Aber das Zungenreden wirkt ansteckend. Kaum hört die Versammlung die mit wildem Enthusiasmus hervorgestoßenen Worte, als sich auch schon neue Zungenredner melden. Die Norwegerinnen verschwinden von der Bühne und der Hexensabbat beginnt.

Seite 282Als Großalmerode, das von dieser heiligen Sekte hörte, eine Deputation in die Kasseler Versammlung geschickt hatte, kann sie sich, in die Heimat zurückgekehrt, eines Zungenredners rühmen. Auch dieser wirkte Wunder, denn nach wenigen Tagen gab es in Großalmerode ein halbes Dutzend, ja Dutzende, die diese Gabe zu besitzen behaupteten, und in Bälde galt es sogar als höchst auffallend, wenn ein junges Mädchen, ein halbwüchsiger Bursche, nicht ebenfalls zungenredeten.

Die Symptome nun, die sich überall, denn Großalmerode war keineswegs der einzige Schauplatz dieses Blödsinns, gleichmäßig zeigten, waren folgende: Wenn die Stunde gekommen ist, verfällt der Zungenredner in einen regelrechten Krampf. Mit leichten Zuckungen beginnend, endet er mit den wildesten Gliederverrenkungen. Die Gesichter sind verzerrt, die Augen starr, die Arme werden wild und sinnlos durch die Luft gewirbelt und der ganze Körper schüttelt sich rhythmisch, wie in furchtbaren Wehen. Das Knacken der Glieder und ein wüstes, schauerliches Zähneklappern bildet die Begleitmusik. Dann hört man wieder jammervolles Stöhnen, Seufzen und Schluchzen, das nur von einzelnen mehr geheulten, als gesprochenen Gebetsrufen unterbrochen wird.

Das ist der Auftakt. Nunmehr beginnt plötzlich und gewaltsam das eigentliche Zungenreden. Eine Anzahl unverständlicher Laute wird ungestüm in die Versammlung geschleudert. Meistens sind es komplizierte und verworrene Orakelsprüche. Ein Ohrenzeuge hat einen der einfachsten Sätze festgehalten. Er lautet: »Schallo mo, dall badbad wotschikrei.« Seite 283Die meisten lassen sich aber in unserer Buchstabenschrift gar nicht wiedergeben.

Ein Mädchen hatte es sich bequemer gemacht, indem es in seiner Besessenheit immer »toje, toje, toje ... to« schrie. Das genügte aber auch vollständig den Offenbarungssuchern und ließ sich als höhere Weisheit unschwer interpretieren.

Denn das Zungenreden allein tut es nicht. Die goldenen Sprüche müssen erst durch einen Ausleger der misera plebs verdeutlicht und verdeutscht werden. Daß dieser Interpret sich nicht viel anders benimmt, als die Zungenredner, ist sicher eher dazu angetan seine Autorität zu erhöhen, als zu vermindern.

Übrigens setzte sich die Versammlung ganz systematisch durch stundenlanges Knien verbunden mit der Monotonie des ewigen Betens, Seufzens und Jammerns, die dann plötzlich durch die tollen Ausbrüche der Zungenredner unterbrochen wurde, in eine seltsame, für alles Mystische empfängliche Stimmung. Dazu kam die von Augenblick zu Augenblick geschickt gesteigerte Erwartung, daß nunmehr etwas besonders Großartiges sich ereignen müsse.

Daß keineswegs nur Ungebildete sich an diesem Wahn, dem nach geraumer Zeit die Regierung ein Ende bereitete, beteiligten, geht schon daraus hervor, daß der Pfarrer des Ortes sich an die Spitze der Bewegung stellte[25].


Wenn wir im Kometenjahre 1910 soundsooft in den Zeitungen von Leuten lesen mußten, die aus Furcht vor dem Weltuntergang selbst Hand an sich Seite 284legten, so waren das ja alles gewiß keine Beweise von hoher Intelligenz. Immerhin ist der Gedanke, durch Zusammenstoß mit einem Himmelskörper vernichtet zu werden, vielleicht falsch, aber an sich keineswegs dumm. Der Halleysche Komet stand ja am Himmel, er näherte sich mit unheimlicher Geschwindigkeit; daß die Erde in seine Nähe kommen würde, war gewiß; also war doch zweifellos eine Ursache der Furcht vorhanden, wenn auch nicht für Naturkundige. Zudem handelte es sich wohl ausnahmslos um Landleute, die ein sicheres Ende einem möglichen vorzogen, und ferner betreffen die Fälle meist Ungarn und weniger zivilisierte Länder.

Was aber sagen wir dazu, wenn im aufgeklärten Deutschland im Jahre 1912 sich in Bad Godesberg, in nächster Nachbarschaft der Universitätsstadt Bonn eine Sekte bildet, die den Weltuntergang prophezeit und zwar ausgerechnet auf den 21. März 1912 und wenn diese Sekte Gläubige in gebildeten Kreisen findet?

Ein wahnwitziger Schwärmer hatte aus der Bibel den untrüglichen Beweis für seine Prophezeiung erbracht. Seine Weisheit hatte er in einem Schauertraktätchen unter die Leute verteilt. Natürlich fand er Gläubige, die sich auf diesen großen Tag entsprechend vorbereiten wollten. Unter ihnen befand sich auch eine Dame besten Standes, die »um ganz rein vor dem Heiland zu erscheinen«, sich einer radikalen Leibesreinigung unterzog. Ein einfaches Bad genügte ihr nicht in ihrem frommen Sinne und so schüttete sie denn in das Badewasser ein großes Quantum Salzsäure. Die Folge blieb nicht aus: beim Verlassen des Wassers löste sich die Haut vom ganzen Körper Seite 285ab, so daß die Unglückliche in die Klinik verbracht werden mußte, wo sie wohl inzwischen ihren Leiden erlegen ist[26].


Wir sind am Ende!

Wer bezweifelt noch, daß es ausnahmslos die Autoritäten und zwar fast ausschließlich die religiösen Autoritäten waren und sind, die durch törichte Lehren der Dummheit oft in ihren furchtbarsten Formen Anregung boten und Vorschub leisteten, ja noch leisten? Die Dummheit aber gehört zum kostbar gehüteten, unverlierbaren Besitz der Menschheit.

Seite 286Literaturnachweis 5fj6h

I. Kapitel 6g3y59

1 Vorstehende Beispiele nach Carl Julius Weber, Demokritos, Ausg. bei C. H. Otto, Berlin, III. Bd., S. 216 f.

2 Vgl. Emil Schürer, Gesch. d. jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, 2. Bd., 4. Aufl., Leipzig 1907, S. 553 ff. Die Reinlichkeitsgesetze ebenda, S. 560 ff.

3 Hermann Reuter, Gesch. d. religiösen Aufklärung im Mittelalter, I, S. 41 ff.

4 Über Agobards Schriften vgl. W. Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen, I. Bd., 6. Aufl., S. 211, Anm. 3.

5 Karl Goedeke, Dichtungen von Hans Sachs, I. Teil (Deutsche Dichter des XVI. Jahrhunderts, IV, 1), Leipzig 1870, S. XXII der Vorrede.

6 Vgl. Das Merckwürdige aus den kleinen deutschen theologischen, philosophischen und philologischen Schriften, welche vor kurtzen an das Licht getreten, II. Bd., Leipzig 1756, S. 469 ff., 519 ff. und 529 ff.

7 Ebenda, II. Bd., S. 170 ff.

8 Ebenda, II. Bd., S. 1049 ff.

9 Ebenda, I, Leipzig 1753, S. 65 ff.

10 Bayle, Dictionnaire historique et critique, Rotterdam 1698, I. Bd., p. 21, Artikel Abel.

11 Das Merckwürdige etc., I, S. 445 f.

12 Ebenda, I, S. 143 ff.

13 O. Zöckler, Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft, I. Bd., S. 628.

14 Ebenda, I, S. 629.

15 Ebenda, I, S. 689.

16 Vgl. W. E. Hartpole Lecky, Geschichte des Ursprung und Einflusses der Aufklärung in Europa. Übers. von H. Jolowicz, Leipzig und Heidelberg 1868. I. Bd., S. 209 ff. und Zöckler, Theologie und Naturwissenschaft, I, S. 338 ff.

17 Vgl. W. E. Hartpole Lecky, Geschichte des Ursprung und Einflusses der Aufklärung in Europa. Übers. von H. Jolowicz, Leipzig und Heidelberg 1868. I. Bd., S. 209 ff. und Zöckler, Theologie und Naturwissenschaft, I, S. 338 ff.

18 Lecky, Gesch. d. Aufklärung, I, S. 230, Anm. 2.

19 Das Merckwürdige etc., I, S. 614 f.

20 Zöckler, Theologie und Naturwissenschaft, II, S. 47.

21 Ebenda, II, S. 44 f., 351 und 471 ff.

22 Vgl. C. Fr. Keil, Die Seite 287biblische Schöpfungsgeschichte und die geologischen Erdbildungstheorien in Kliefoths Kirchlicher Zeitschrift, 1860, S. 479 ff. (nach Zöckler).

23 Zöckler, II. Bd., S. 471-475, S. 558, Anm. 41 und S. 353.

24 Ebenda, II. Bd., S. 703.

II. Kapitel 551c69

1 O. Zöckler, Askese und Mönchtum, I. Bd., 2. Aufl., 1897, S. 237 f.

2 Ebenda, I. Bd., S. 171 ff. und 177 ff.

3 Lecky, Gesch. d. Aufklärung, I, S. 241, Anm.

4 Zöckler, Askese und Mönchtum, I, S. 300, Anm. 2 und S. 302 f.

5 Ebenda, I, S. 238 f.

6 Gioja, Philosophia della Statistica tom, II, p. 389 zitiert nach Lecky, Gesch. d. Aufklärung, II, S. 34.

7 Lecky, Sittengeschichte Europas, II. Bd., S. 121.

8 Ebenda, II, S. 107.

9 Ebenda, II, S. 99 und 103.

10 Ebenda, II. Bd., S. 100.

11 Zitiert nach Lecky.

12 O. Zöckler, Askese und Mönchtum, S. 529, Anm.

13 Ebenda, I, S. 265 und 267.

14 Ebenda, I, S. 279 f.

15 Lecky, Sittengeschichte Europas, II. Bd., S. 99.

16 Rieß, P. Canisius, S. 514, zitiert nach S. Riezler, Gesch. Baierns, VI, S. 252. Die Puritaner Schottlands forderten dasselbe. Vgl. H. Th. Buckle, Gesch. der Civilisation in England, übers. von A. Ruge, 7. Aufl., Leipzig 1901, II. Bd., S. 376 ff.

17 (Lipowsky) Gemälde aus dem Nonnenleben, München 1808, S. 65-77.

18 Ebenda, S. 89 f.

19 O. Zöckler, Askese und Mönchtum, I. Bd., S. 579 f.

III. Kapitel 4d2x22

1 Graf von Hoensbroech, Das Papsttum in seiner sozialkulturellen Wirksamkeit, I. Bd., 5. Aufl., 1905, S. 215-220.

2 Ebenda, I. Bd., S. 384 ff.

3 Kemmerich, Kultur-Kuriosa I, 10. Tausend, S. 242 ff. Teilweise einschlägig auch S. 53 ff.

4 Jakob Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien, 7. Aufl., II. Bd., S. 73 und Exkurs LXXVII.

5 Hoensbroech, Das Papsttum, I. Bd., S. 387 ff.

6 Lecky, Gesch. der Aufklärung in Europa, I. Bd., S. 61, Anm. 3.

7 Hoensbroech, 1. Bd., S. 428 ff.

8 Ebenda, I, S. 442 ff.

Seite 288IV. Kapitel 1d4u69

1 Lecky, Gesch. der Aufklärung in Europa, I, S. 66 ff.

2 Garinet, Histoire de la magie en , p. 280, zitiert nach Lecky.

3 Lecky, Gesch. d. Aufklärung, I, S. 79-82.

4 Lecky, I, S. 83-95.

5 Ebenda, I, S. 98 f., 101 ff., 105 und 36. Über die Zustände in Schottland vgl. ferner Buckle, Gesch. der Civilisation in England, II. Bd., 5. Kapitel.

6 Keyßlers »Reisen«, Hannover 1776, S. 150.

7 Gustav Roskoff, Geschichte des Teufels, 2. Bd., S. 480 ff.

8 Max Frh. v. Freyberg, Pragmatische Geschichte der bayerischen Gesetzgebung, II. Bd., Augsburg 1836, S. 194-196.

9 Ebenda, III. Bd., S. 290 f.

10 Ebenda, III. Bd., S. 126 f.

11 Karl Prantl, Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität, München 1872, S. 299 f. und 303.

12 Andreas Zaupser, Über den falschen Religionseifer eines Ungenannten, München 1780, S. 13 f.

13 August Kluckhohn, Der Freiherr von Ickstatt und das Unterrichtswesen in Bayern unter dem Churfürsten Maximilian Joseph. Festreden der bayr. Akad. d. Wiss., München 1869, S. 13-20.

14 S. Riezler, Geschichte Baierns, VI. Bd., S. 302.

15 Fr. A. W. Schreiber, Max Joseph III., der Gute, München 1863, S. 230 f.

16 Hermann von Sicherer, Staat und Kirche in Bayern, München 1874, S. 7. Die von 1766-1775 zur Verteidigung oder Bekämpfung des Hexenglaubens erschienenen Schriften sind zusammengestellt in den Annalen der Baierischen Literatur vom Jahre 1781, Nürnberg 1782, II. Bd., S. 130-134.

17 F. A. von Besnard, Repertorium für katholisches Leben, Wirken und Wissen, III. Bd., Landshut 1843, S. 52.

18 Sicherer, Staat und Kirche, S. 65.

19 Prantl, Gesch. der Ludwig-Maximilians-Universität, S. 264, 354 und 358 ff.

20 Freyberg, Pragmatische Gesch., III. Bd., S. 326.

21 Kluckhohn, Frh. v. Ickstatt, S. 27 f. und S. 15.

22 Prantl, S. 645 und Schreiber, Max III. Joseph, S. 239.

23 Besnard, Repertorium, III. Bd., »Denkwürdigkeiten aus der Gesch. Süddeutschlands im 19. Jahrh.«, S. 57.

24 Allerneueste Nachrichten, S. 657 f.

25 Schreiber, Max III. Joseph, S. 211.

26 Sicherer, Staat und Kirche, S. 101 f.

27 »Reisen«, 21. Brief, S. 147.

28 Lecky, Gesch. d. Aufklärung, II, S. 34.

29 Ebenda, I, S. 122-124.

Seite 289V. Kapitel 65k6k

1 Freyberg, Pragmatische Geschichte der bayerischen Gesetzgebung, III. Bd., S. 156-165.

2 Ebenda, III. Bd., S. 165-173.

3 Felix Lipowski, Baierns Kirchen und Sittenpolizei, München 1819, S. 12-14.

4 Freyberg, III. Bd., S. 162, 164, 166 und 230.

5 Karl Prantl, Gesch. d. Ludwig-Maximilians-Universität, S. 347 f.

6 Lipowski, S. 1-4.

7 Sicherer, Staat und Kirche in Bayern, S. 1-3.

8 Schreiber, Max III. Joseph, S. 205-209.

9 J. L. S. Bartholdy, Der Krieg der Tyroler Landleute im Jahre 1809, Berlin 1814.

10 F. A. v. Besnard, Repertorium für katholisches Leben etc., III. Bd., S. 90.

11 Beyträge zur Vaterlandskunde Bayerns, I. Heft, 1801, S. 8 f.

12 Schreiber, S. 202-207 und 211-215.

13 Christian Meyer, Wie Bayern ein moderner Staat wurde, München 1903, S. 41 f.

14 Sicherer, Staat und Kirche, S. 24.

15 Besnard, Repertorium, III. Bd., S. 68.

16 Ebenda, III, S. 69.

17 Beilage der Münchener Allgem. Zeitung, 1905, Nr. 34, S. 271.

18 Georg Längin, Der Wunder- und Dämonenglaube der Gegenwart, Leipzig 1887, S. 43-46.

19 Nach Schücking, Türmer XI. 2 (1909), S. 770.

20 Lecky, Gesch. d. Aufklärung, II. Bd., S. 31 ff.

VI. Kapitel 6q4e65

1 S. 146-187, zitiert nach Georg Längin, Der Wunder- und Dämonenglaube der Gegenwart, S. 53. Das Buch heißt »Zur neuesten Kulturgeschichte Deutschlands«.

2 Längin, S. 57 f.

3 Der Titel lautet »Dr. Martin Luthers Kleiner Katechismus mit Erklärung«, Hannover, Verlag der Calenberg-Grubenhagenschen Landschaft; ohne Jahreszahl.

4 Längin, S. 48-51.

5 Ebenda, S. 61-63.

6 Roskoff, Gesch. d. Teufels, II. Bd., S. 606 f.

7 Vgl. Längin, S. 89-91.

8 Ebenda, S. 92. Anm. und S. 91-93.

9 Berliner Tageblatt, 21. Dez. 1910, Nr. 647.

Seite 290VII. Kapitel 3d6o30

1 Heinrich Reusch, Die deutschen Bischöfe und der Aberglaube, Bonn 1879, S. 33-39.

2 Ebenda, S. 39-42.

3 Ebenda, S. 48 f.

4 Ebenda, S. 61.

5 Ebenda, S. 62-66.

6 Ebenda, S. 95 f.

VIII. Kapitel x2o63

1 M. Kemmerich, Lebensdauer und Todesursachen innerhalb der deutschen Kaiser- und Königsfamilien, Wien 1909, S. 20.

2 O. Zöckler, Askese und Mönchtum, 2. Aufl., S. 530 ff. u. 535.

3 Ebenda, S. 611 f.

4 M. Friedmann, Über Wahnideen im Völkerleben, Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens, Wiesbaden 1900, S. 289.

5 Ebenda, S. 249 f.

6 Ebenda, S. 290 f.

7 Lecky, Gesch. der Aufklärung in Europa, I. Bd., S. 18, Anm. 3.

8 Friedmann, S. 293-295.

9 Ebenda, S. 292 f.

10 Ebenda, S. 295-297.

11 O. Stoll, Suggestion und Hypnotismus, 2. Aufl., Leipzig 1904, S. 448 f. und 446.

12 Nach J. L. Meyer, Schwärmerische Gräuelszenen oder Kreuzigungsgeschichte einer religiösen Schwärmerin, 2. Aufl., Zürich 1824.

13 Meyer, S. 327 ff. und J. Salat, Versuche über Supernaturalismus und Mystizismus, Sulzbach 1823, vgl. Stoll, S. 462 f.

14 Friedmann, S. 276.

15 Ebenda, S. 266.

16 Moritz Busch, Wunderliche Heilige, Leipzig 1879, S. 81 ff.

17 L. Löwenfeld, Der Hypnotismus, Wiesbaden 1901, S. 480 f. und Dresbach, Die protestantischen Sekten der Gegenwart, Barmen 1888.

18 v. Bechterew, der Maljòwanni selbst untersuchte, in »Die Suggestion und ihre soziale Bedeutung«, Deutsch von Weinberg, Leipzig 1899, nach Löwenfeld, Hypnotismus, S. 481 f.

19 Stoll, Suggestion und Hypnotismus, 2. Aufl., S. 478-483, nach Barzellotti, David Lazaretti.

20 Löwenfeld, Hypnotismus, S. 480.

21 Stoll, Suggestion und Hypnotismus, S. 504 ff.

22 Ebenda, S. 509-514.

23 Friedmann, Wahnideen, S. 267 f.

24 Ebenda, S. 299.

25 E. Buchner, Beilage der Münchener Allgem. Ztg., 1907, Nr. 203, S. 228 ff.

26 Münchener Neueste Nachrichten, 1912, Nr. 157.

Seite 292Dr. Max Kemmerich

Kultur-Kuriosa

  Erster Band:   Zehntes Tausend  
Zweiter Band: Sechstes Tausend
Jeder Band geheftet 3 Mark 50 Pf., gebunden 5 Mark

Münchner Neueste Nachrichten: Wenn ich den Verfasser recht verstanden habe, so hat er mit dieser Veröffentlichung von Kulturdokumenten aller Zeiten und Völker das ethische Ziel verfolgt, im Spiegel der Vergangenheit das Bild der Gegenwart zu zeigen und dadurch auch seinerseits dazu beizutragen, daß Leben, Ehre, Freiheit und fremde Überzeugung jene Achtung genieße, die er mit vollem Recht als das wichtigste Kulturkriterium betrachtet, wichtiger als alle technischen und wissenschaftlichen Fortschritte und alle künstlerischen Großtaten.

Der Tag, Berlin: Ein ganz verflixtes Buch. Vom Standpunkt der Orthodoxie aus — hüben wie drüben — höchst verwerflich nach Tendenz und Inhalt. Und nun gar: wenn man sich »Töchterschülerinnen« als seine ungebetenen Leserinnen vorstellen wollte — einfach Pfui Deibel! Und dennoch: recht zum Nachdenken bewegend, zur Einkehr stimmend, zur Umschau anregend. Notabene: Für solche, die ihr bißchen Spiritus gewöhnt sind nicht nach einem irgendwie vorgeschriebenen Schema F einzustellen. Bei allem Pessimismus, der daraus spricht, eine sinnige Gabe für geborene Optimisten .... Der wahre Satiriker will nicht nur bloßstellen, sondern auch bessern; so will auch dies Buch bei aller Boshaftigkeit oder doch Ungeschminktheit den unserer »Bildung« durchaus nicht überall adäquaten Stand unserer sogenannten Kultur heben. Möchte es vor allen Dingen unter die Augen der Männer geraten, die es namentlich angeht.

(Dr. Hans F. Helmolt)

 

Generalanzeiger Mannheim: Solche Bücher sind selten. Denn zu gern verschließt sich der Mensch solch krassem Bekenntnis der Wahrheit. Aber sie haben eben dadurch doppelten Wert. Kemmerichs »Kultur-Kuriosa« sollte jeder besitzen, der Anteil nimmt an menschlicher Kultur, und es ist jedem von uns heilsam, mitunter in dem Buche zu blättern.

Neue Züricher Zeitung: Eine Sammlung drastischer Anekdoten aus dem weiten Reiche der Kulturgeschichte mit viel Geschick ausgewählt zum Behufe des Nachweises, »daß unsere Kultur, soweit sie auf Befreiung von Grausamkeit, Intoleranz und Borniertheit beruht, noch sehr jungen Datums ist«. In der Tat ist es unglaublich, von welcher Barbarei wir herkommen, und in welcher Barbarei wir vielfach heute noch stecken, auf dem Gebiete des Rechts, der Ehe, der Sittlichkeit, des Glaubenslebens usw. Manchmal traut man seinen Augen nicht; aber der Verfasser beruft sich in einem überaus reichen Literaturnachweis durchgängig auf die besten Quellen.

Liberales Wochenblatt Straßburg i. E.: So wirkt das Büchlein kulturkräftig, als eine Mahnung zur Offenheit und Freimütigkeit in dem Eintreten für ein wahrhaft humanes, sittliches Kulturideal.

Albert Langen, Verlag, München

Seite 293Dr. Max Kemmerich

Dinge, die man nicht sagt

Siebentes Tausend
Geheftet 3 Mark 50 Pf., gebunden 5 Mark

Straßburger Post: Mit diesem Bande ist uns ein ganz köstliches Buch geschenkt worden. Es handelt von allem, was das Leben an Erscheinungen und Fragen bringt, von Schule und Universität und von Nationalgefühl und Moral, von Kunst und Humanität und von Kritik und Polemik. Es wird keinen einzigen Leser finden — außer den Kritiklosen, die dies Buch nicht wert sind —, der mit einem einzigen seiner Aufsätze ganz einverstanden wäre. Aber auch keinen, der nicht gerade dort, wo er nicht zustimmt, über die rücksichtslose Offenherzigkeit und das fröhliche Draufgängertum sich freute, mit dem der Verfasser seine Meinung sagt. Dieser Mut zur Wahrhaftigkeit macht das Buch anziehend. Allerdings ist aber die besondere Gabe des Verfassers auf ein enges Gebiet begrenzt. Er ist ein überaus glücklicher Beobachter des bunten Treibens unserer »Gesellschaft«, das man in den beteiligten Kreisen als »unsere Kultur« bezeichnet. Aber zum tieferen Eindringen in die Probleme zeigt er hier entweder keine Lust oder kein Geschick. Darum sind die Abschnitte, deren Gegenstände am meisten ein Einsetzen der Kritik nicht an den Zweigen, sondern an der Wurzel erheischten, die unbefriedigendsten. Aber man soll sich durch die Gegenstände, deren Wahl ein Fehlgreifen ist, nicht den Genuß an dem andern, glücklich gewählten, verderben lassen.

Die Propyläen: Die »Kultur-Kuriosa« sind mehr als eine bloße Raritätensammlung, sie wollen den Nachweis führen, daß auch unser herrliches 20. Jahrhundert das dunkle Mittelalter noch immer nicht überwunden hat, während die »Dinge, die man nicht sagt« in systematischem Kriegsplan gegen die Gebrechen unserer Zeit vorgehen. Beide Bücher, insbesondere das zweite, das ich vorziehen möchte, müssen und wollen auf Schritt und Tritt anstoßen, aber sie enthalten eben doch einen wahren Kern, wie jeder zugeben muß, der sich von den Fesseln der Voreingenommenheit und der Phrase freimacht.

Niederschlesische Zeitung, Görlitz: Vielleicht ist man mit der Behandlung des einen oder anderen Themas nicht völlig einverstanden, aber in sehr vielen Punkten, ja man kann sagen in den meisten, muß man den Verfasser als einen grundgescheiten Menschen, der sich unter allen Umständen bestrebt, die Dinge ohne alle Schönfärberei zu betrachten, oder einfacher gesagt, der den Mut hat, vernünftig zu sein, recht geben. Wenn man ihm beispielsweise zuhört, wie er über »Wissensdurst und Universität« urteilt, wie er das zopfige Gelehrtentum herunterputzt, das an Stelle einer universellen lebendigen Darstellung stundenlanges trockenes Aufzählen der Quellen, der Werke, die der Darstellung zugrunde liegen, für die richtige geistige Kost hält, dann spricht einem der Verfasser aus dem Herzen! Nach dieser Richtung hin bietet das Buch eine Summe von Beobachtung aus dem täglichen Leben, und wenn nur die Hälfte von dem, was er sagt, Nachachtung fände, so würde es um vieles besser stehen um unsere Kultur.

Albert Langen, Verlag, München

Seite 294Dr. Max Kemmerich

Prophezeiungen

Alter Aberglaube oder neue Wahrheit?

Viertes Tausend

Geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark 50 Pf.

Psychische Studien: Und doch wurde er unter dem Gewicht der Tatsachen von einem Saulus zu einem Paulus, dessen Buch zu den besten der ganzen metapsychischen Forschung gehört.... Das Buch gehört in die Bibliothek aller, denen das Rätsel der Menschenseele und ihrer Fähigkeiten am Herzen liegt. Es wird bahnbrechend wirken für die Seelenforschung.

Fränkische Volkszeitung: Das Buch wird manches Kopfschütteln erregen, manche Polemik hervorrufen. Aber an der Tatsache läßt sich nicht rütteln, daß uns sein Verfasser eines der interessantesten und zum Nachdenken anregendsten Werke der Gegenwart geschenkt hat.

Zentralblatt für Okkultismus: Bücher, wie das vorliegende, sind die wertvollsten Mithelfer und wir können es nur wärmstens allen Zweiflern empfehlen, allen »exakten Forschern«, die hier den geradezu mathematischen Beweis für das Vorhandensein der Kraft zeitlichen Fernsehens aus der Feder eines Nichtokkultisten erhalten ... sie können daraus vor allem lernen, wie man Fragen dieser Art mit wissenschaftlichem Rüstzeug Schritt für Schritt an den Leib rückt.

Albert Langen, Verlag, München

Seite 295Im Verlag von Klinkhardt & Biermann, Leipzig, erschienen folgende Bücher von

Dr. Max Kemmerich:

Die frühmittelalterliche Porträtplastik in Deutschland

bis zum Ende des XIII. Jahrhunderts.

IV, 253 Seiten mit 112 Abbildungen. Geh. M. 11.—, geb. M. 12.50.

Kunst für Alle: Sehr tüchtig hat Kemmerich alles, was vorher an Einzelarbeit auf diesem Gebiete geleistet worden ist, benützt, mit kritischem Auge hat er gesondert, zusammengeschlossen und aufgebaut. Kunstforscher und Historiker auf K.s Porträtwerk hinzuweisen, hieße wohl deren literarische Umsicht stark unterschätzen — aber wie vielen Künstlern und Sammlern, die schon immer nach einem derartigen Werke verlangten, das ihnen »Porträts« mittelalterlicher Persönlichkeiten zeigt, wird man das Werk immer als sicherste Quelle für neue künstlerische Werke oder als Quelle der Erinnerung und Vorstellung mit der Gewißheit des Dankes empfehlen können.

 

Die deutschen Kaiser und Könige im Bilde

Ein Ergänzungsbuch zum deutschen Geschichtsunterricht

4°. VIII u. 60 Seiten. M. 2.50 kart.

Mitteilungen zur Geschichte usw.: Das Studium dieses trefflichen Werkes wird nicht nur den Historikern von Fach, sondern auch allen für die Geschichte Interessierten viel Nutzen und Belehrung bringen. Besonders auch für die Schüler wird das Werk anregend wirken.

Anmerkungen zur Transkription: 6c4wv

Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Bis auf offensichtliche Druckfehler wurde vom Haupttext abweichende Schreibweise innerhalb der Zitate beibehalten. Die Punktuation in Referenzen wurde weitestgehend egalisiert. Fußnote 17 zu Kapitel 1 fehlt (Seite 205 (Kapitel VI) wurde ein fehlender Fußnotenanker [7] gesetzt, der im Originaltext nicht erscheint. Die Stellung des Ankers wurde durch Korrelation des Originaltextes und des Zitates ungefähr ermittelt.

Übernommen wurden:

Einige Ausdrücke wurden in beiden Schreibweisen übernommen:

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